Stationen

Samstag, 12. Februar 2011

Freiheit und Gebundenheit

„Kein Losungswort ist seit dem Jahre 1500 so viel mißbraucht worden wie das Wort „Freiheit“: in der Zeit der Reformation, der Französischen Revolution, des Liberalismus Europas und Amerikas, in den Schlagzeilen der Sowjetzone. Es gab dem natürlichen Bedürfnis des Menschen Ausdruck, in seiner Existenz als Individuum zu tun, was ihm gefällt. Es war das Schlagwort des Kampfes von Individuen gegen eine bindende, einengende Gruppe, gegen eine Familie, einen Stand oder im Kampf einer sozialen Schicht gegen eine zwingende höhere Gemeinschaft. Aber es wurde seltener deutlich – wohl allerdings bei Kant, Fichte, Chamberlain, Jaspers -, daß es keine absolute Freiheit gibt, sondern nur ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung. Für das Leben eines Individuums ist die Freiheit der Bewegung ebenso notwendig wie die Bindung an ein Elternhaus. Die Freiheit der persönlichen Schöpfung im Denken, Fühlen und Gestalten ist ebenso wichtig wie die Bindung dieser Vorgänge an eine Gemeinschaft, die mitwirkt und durch ihren Widerhall mitgestaltet.
Von diesem Gleichgewicht, von dieser lebensnotwendigen Polarität müssen wir ausgehen, der Polarität zwischen Bewegungsfreiheit und Ortsgebundenheit, Denkfreiheit und Denkausrichtung durch die Gemeinschaft, zwischen Individuum und Genossenschaft, zwischen schöpferischer Freiheit des Gestaltens und den Formen der Tradition, zwischen der Willkür des Handelns der Individuen oder der Gruppen und dem Widerhall, dem Miterleben durch die höhere Gemeinschaft. Die Existenz des Menschen umfaßt beide Pole; sein Leben entzündet sich durch die Energien, die von dem einen Pol zum anderen strömen: Freiheit und Gebundenheit.“ – Gottwalt Christian Hirsch

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