"Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
sind uns ein Buch mit 7 Siegeln.
Was Ihr den Geist der Zeiten heißt,
das ist im Grund der Herren eigner Geist,
in dem die Zeiten sich bespiegeln."
Dass diese Hirnforscher, die ihre "Erkenntnisse" über den freien Willen zum Anlass nehmen, um gegen den Schuldbegriff an sich ihre bunten Kern-Spin-Tomographien ins Feld zu führen und eine Reform des Strafgesetzbuches fordern, gleichzeitig aber für Verantwortung (also einer geistigen Verfassung, die in noch höherem Maß als die Schuldfähigkeit einen freien Willen voraussetzt) plädoyieren, ist besonders albern.
Ich werde übrigens den Gedanken nicht los, dass diese deutschen Hirnforscher tatsächlich keinen freien Willen haben und ihrer "wissenschaftlichen" Theorie ein schmachtender Wunsch nach Generalamnestie für die deutschen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 zugrunde liegt. Jedenfalls ist ihre Delegitimierung des menschlichen Gedächtnisses eine Ohrfeige für alle Auschwitzüberlebenden, die die Kraft fanden, über das, was sie erlebten, zu berichten.
Schön, dass Klonovsky diejenigen geißelt, die gerne und eifrig alles Deutsche in den Schmutz ziehen. Noch schöner aber ist, dass er, wo ich voller Argwohn tatsächlich einmal deutschen Schmutz als einen der unbewussten Beweggründe wittere, zusätzliche, ganz andere, ebenso stichhaltige Argumente gegen die peinliche Selbstüberschätzung der Singer, Prinz und Roth nennt.
18. August 2014Die Hirnforschung verdient allein deswegen Anerkennung, weil es sich bei ihr um die größte Sisyphosiade der menschlichen Erkenntnisgeschichte handelt, denn dieser Wissenschaftszweig erkundet ja die komplexeste uns bzw. dem Gehirn bekannte Struktur im Universum. Kein Forschungszweig weiß weniger von seinem Gegenstand und sieht sich außerdem mit der paradoxen Situation konfrontiert, dass Forschungssubjekt und Forschungsobjekt in einem solchen Maße übereinstimmen. Kant hat das Problem in seiner "Kritik der reinen Vernunft" vorformuliert: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft."
Es ist also in gewisser Weise folgerichtig, dass manche Neurophysiologen im schwer erforschlichen Superkomplexen die Ursache sämtlicher menschlicher Verhaltensweisen und Problemstellungen erblicken wollen, vergleichbar vielleicht dem Alldeutungsanspruch der Psychoanalyse nach der Entdeckung des Unbewussten. Von diesen Wissenschaftlern und ihren publizistischen Herolden stammt die inzwischen zum populärwissenschaftlichen Gemeingut gewordene Maxime: Das Gehirn leistet alles, der restliche Mensch ist nur der angeschlossene, die Befehle der Zentrale ausführende Apparat. Ein dieser reinen Lehre seiner Zunft folgender Wissenschaftler müsste konsequenterweise glauben, dass, theoretisch, ein Mensch, dem man ein neues Gehirn transplantierte, vollends zu jenem Subjekt würde, dem das Gehirn zuvor eignete.
In den nämlichen Zusammenhang gehört auch die absurde
Behauptung einzelner Neurophysiologen, der Mensch besäße keinen freien
Willen, die sich allein schon deswegen ad absurdum führt, weil sie
niemand aufstellen könnte, wenn sie zuträfe. Eine derartige Überzeugung
passt aber sehr gut in die Ära gehirnartiger Maschinen, die uns das
Rechnen und eines Tages sogar das Denken abnehmen sollen. Aber so modern
sich diese Auffassung vom Gehirn gibt, sie sitzt einem der ältesten
abendländischen Irrwege auf: der Fragmentierung des Menschen. Deswegen
sind auch sämtliche Experimente der Hirnforschung fragwürdig, solange
dort ganze Menschen agieren, aber ausschließlich deren Hirnaktivitäten
gemessen und untersucht werden. Der Mensch denkt mit dem Gehirn, gewiss,
aber es ist nicht das Gehirn, sondern der gesamte Mensch, der
Entscheidungen trifft und handelt. Die Bauchentscheidung ist
die Nagelprobe der Hirnforschung. Das Gehirn fühlt nicht. Das Gehirn
begehrt nicht. Es ist an der Liebe beteiligt, aber es liebt nicht. Das
Herz bricht, nicht das Hirn. Der Schreck fährt in alle Glieder, nicht
nur ins Hirn. Der Kummer nistet in den Eingeweiden. Es ist der Mensch,
der stolz ist oder zornig oder traurig oder Angst empfindet, keineswegs
nur sein Gehirn. Der Mensch ist ein Ganzes; wer nur einen Teil von ihm
untersucht, und sei es der Allerkomplexeste, wird ihm niemals gerecht.
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