Am 1. Oktober 2024 erschien eine „Erklärung zur westlichen Welt“, die
vom Schweizer „Liberalen Institut“ initiiert und von Javier Milei,
Václav Klaus und Jordan B. Peterson unterstützt wurde. Worum geht es in
dem Text?
Der Verfasser dieser Zeilen hat die „Erklärung“, um die es hier geht,
zwar auch dankbar und beherzt unterschrieben, das soll ihn aber nicht
daran hindern, aus seiner privaten Perspektive einen kritischen Blick
auf die gesamte Initiative zu bewahren.
Worum geht es? Vor einigen Jahren erschien eine „Erklärung zur
westlichen Welt“, die von zahlreichen namhaften konservativen Denkern,
Politikern und öffentlichen Figuren der Gegenwart unterzeichnet wurde.
Schirmherren sind Václav Klaus, ehemaliger Präsident der Republik
Tschechien, Javier Milei, Präsident der Republik Argentinien, und Jordan
B. Peterson, Professor für Psychologie; einer deutschen Leserschaft
sind unter den Unterzeichnern sicherlich auch Egon Flaig, Carlos
Gebauer, Sandra Kostner, Markus Krall, Vera Lengsfeld, Gerd
Morgenthaler, Dietrich Murswiek, Max Otte oder Dieter Schönecker
bekannt, um nur einige zu nennen.
Die eigentlichen Initiatoren sind Philipp Bagus, Professor für
Ökonomie (Madrid), und Michael Esfeld, Professor für Philosophie
(Lausanne), die für das 1979 gegründete Schweizer „Liberale Institut“
stehen, dem ersten unabhängigen Think Tank der Schweiz, der nach eigener
Auskunft die Schweizer Tradition und Kultur von individueller Freiheit,
Frieden und Offenheit untersucht und sich für die Weiterentwicklung der
liberalen Geistestradition einsetzt. Wir erlauben uns, im Folgenden den
(kurzen) Text zu zitieren, der auch hier abgerufen werden kann, um ihn danach zu kommentieren:
„Wir
sind besorgt über den Weg, den die westliche Zivilisation einschlägt.
Derzeit sind mächtige ideologisch-politische Kräfte am Werk, die im
Begriff sind, diese Zivilisation von innen zu zerstören. Demgegenüber
sind wir davon überzeugt, dass viele ihrer Errungenschaften immer noch
geeignet sind, als Wegweiser für eine gerechte, friedliche und blühende
Zukunft für die gesamte Menschheit zu dienen:
Die
Denker der griechischen und römischen Antike sowie die
jüdisch-christliche Lehre von der Schöpfung des Menschen als Ebenbild
Gottes und ihre Säkularisierung im Zeitalter der Aufklärung haben
herausgestellt, dass alle Menschen mit Vernunft begabt sind, daher frei
in ihrem Denken und Handeln sind und folglich verantwortlich für ihre
Taten sind. Der universelle Vernunftgebrauch eint die Menschheit. Er
führt dazu, jeden Menschen als individuelle und einzigartige Person mit
Würde und dem unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung seines Lebens
anzuerkennen. Im Gegensatz dazu spalten Identitäten, die auf
Gruppenzugehörigkeiten beruhen (rassisch, geschlechtlich, religiös oder
anderweitig), die Menschheit und führen zur Unterdrückung der
individuellen Freiheit und Würde.
Durch
die Anerkennung der individuellen Freiheitsrechte – der Rechte auf
Leben, Selbstbestimmung und Eigentum – hat die westliche Zivilisation
Errungenschaften hervorgebracht, die für die gesamte Menschheit von
größter Bedeutung sind. Dazu gehören die Abschaffung der Sklaverei, die
Verbannung von Rassismus und Tribalismus sowie die Entwicklung von
Wissenschaft und Rechtsordnung mit gleichem Recht für alle Menschen. Die
westliche Zivilisation hat sich entfalten können, weil diese
individuellen Freiheiten die spontane Entstehung von Lebensformen und
Gesellschaften ermöglicht haben, die auf freiwilligen Interaktionen
statt auf dem Zwang einer zentralen Gewalt beruhen.
Die
individuellen Freiheiten im Rahmen einer Rechtsordnung haben den Weg
für die moderne Wissenschaft und das private Unternehmertum geebnet.
Dank dieser Freiheiten sind Ersparnisse und harte Arbeit nicht
unfruchtbar oder auf die Bedürfnisse politischer Autoritäten
ausgerichtet geblieben, wie es in sozialen Zwangsverhältnissen
typischerweise der Fall ist. Vielmehr haben sie über freie Märkte und
den Einsatz von Kapital (Kapitalismus) zu einer beispiellosen
Verbesserung der Lebensumstände für alle Bevölkerungsschichten geführt.
Sie haben auch einen wirksamen Schutz gegen die verschiedenen
Lebensrisiken für alle geschaffen, einschließlich einer enormen
Verbesserung der hygienischen Standards und der Entwicklung hin zu einer
sorgfältigen, nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen.
Die
sozioökonomische Ordnung, die sich spontan aus den individuellen
Freiheiten unter der Herrschaft des Rechts ergibt, ist grundlegend für
den materiellen Fortschritt und den Schutz der Umwelt. Zentrale Planung
und die Unterdrückung privater Eigentumsrechte hingegen führen zu einem
armseligen Lebensstandard für alle außer einer kleinen Elite und
zugleich zur Zerstörung der natürlichen Umwelt.
Vor
dem Hintergrund dieser Tatsachen sind wir davon überzeugt, dass den Weg
des wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Fortschritts im Rahmen der individuellen Freiheiten, des
Privateigentums und der Rechtsordnung der westlichen Zivilisation
weiterzuverfolgen die einzige Möglichkeit ist, um die Errungenschaften
der Vergangenheit zu bewahren und gleichzeitig die Herausforderungen
unserer Zeit zu bewältigen und eine gerechte, friedfertige und
wohlhabende Zukunft für die gesamte Menschheit zu schaffen.“
Was ist nun von diesem Text zu halten? Wir wollen uns nicht allzu
sehr über die Frage verbreiten, inwieweit der Begriff der „westlichen
Zivilisation“ nicht besser als „abendländisch“ übersetzt worden wäre,
denn zweifellos wollte man hier eine größere Übereinstimmung mit den
anderen Sprachversionen erzielen („Western civilization“; „civilisation
occidentale“). Trotzdem passt natürlich die Wahl des allgemein in einem
transatlantischen Sinn interpretierten „Westens“ gut zur liberalen wie
allgemeinen politischen Grundeinstellung des Textes; und zumindest der
Verfasser dieser Zeilen wäre der Letzte, der der Neuen Welt ihre
Zugehörigkeit zum Abendland streitig machen würde, wenn er persönlich
zumindest im Deutschen den schönen und unnachahmlichen Begriff des
„Abendlands“ bevorzugt.
Dass jener „Westen“ vor allem von innen zerstört wird und nur durch eine
Rückbesinnung auf seine Grundwerte geschützt werden kann, dürfte
ebenfalls wohl kaum zu bestreiten sein – die Frage ist nur, welche
Werte? Dass im Text „die Denker der griechischen und römischen Antike“
ebenso wie die „jüdisch-christliche Lehre von der Schöpfung des Menschen
als Ebenbild Gottes“ und schließlich „deren Säkularisierung im
Zeitalter der Aufklärung“ genannt werden, die Entstehung des Abendlands
also historisch nachvollzogen und somit auch als zivilisatorisches
Phänomen nach außen hin abgegrenzt wird, ist ebenfalls durchaus guter
Konsens innerhalb der konservativen Bewegung und im Zeitalter der „One
World“-Ideologie gar nicht so selbstverständlich.
Problematischer wird es aber, wenn von jenem Dreischritt dann in
scheinbarer Dialektik vor allem behalten wird, „dass alle Menschen mit
Vernunft begabt sind, daher frei in ihrem Denken und Handeln sind und
folglich verantwortlich für ihre Taten sind“. Einmal mehr würde man den
Inhalt der Aussage als solche wohl kaum bestreiten, allerdings entsteht
stark der Eindruck, als sei die Suche nach jüdischer und christlicher
Transzendenz nur insoweit wirklich von Interesse gewesen, als sie (mehr
oder weniger unfreiwillig) irgendwann einmal Säkularisierung und
Humanismus erzeugt habe; etwas, das wohl von gläubigen Menschen intensiv
bestritten werden würde, da die menschliche Freiheit doch als ebenso
bedingt wie begrenzt durch die Gottheit gedacht wird und der
Transzendentalist (im Gegensatz zum klassischen Humanisten) Mission und
Schicksal des Menschen im Jenseits verankert und somit eben nicht den
Menschen als „Maß aller Dinge“ betrachtet.
Und ist es nicht so, dass gerade die zunehmende Säkularisierung der
westlichen Gesellschaft und das Schwinden des Glaubens nicht nur ein
enormes seelisches Vakuum hervorgebracht, sondern durch den Sieg von
Materialismus, Atheismus und Hedonismus erst jenen Wokismus und jene
Wohlstandsverwahrlosung erzeugt haben, unter der eben jene „westliche
Zivilisation“ heute so leidet? Selbst Richard Dawkins hat in den letzten
Jahren erkannt, welchen Schaden die Selbstauflösung des Christentums
angerichtet hat …
Auch der Verweis darauf, dass „der universelle Vernunftgebrauch die
Menschheit eint“, während „Identitäten, die auf Gruppenzugehörigkeiten
beruhen, die Menschheit spalten“, ist zwar auf der einen Seite sicher eine eingängige
Formulierung der Realität, geht aber doch an der ebenso realen Tatsache
vorbei, dass jede Zivilisation, jede Sprache, jede Nation, jede Religion
ganz eigene Herangehensweisen an jene „Vernunft“ entwickelt hat, die
zwar oft genug nur schwer miteinander in Übereinstimmung gebracht werden
können, für sich genommen aber jeweils ihre Berechtigung haben.
Sowohl das klassische Griechenland als auch das klassische China waren
zeitweise eminent „humanistische“ Zivilisationen; trotzdem hat die
völlige Inkompatibilität zum Beispiel allein ihrer Sprachen grundlegend
andere Interpretationen dessen geschaffen, was „Menschlichkeit“ und
„Menschheit“ bedeuten.
Sicher, die abendländische „Anerkennung der individuellen
Freiheitsrechte“ zählt zweifellos zu jenen „Errungenschaften, die für
die gesamte Menschheit von größter Bedeutung sind“; trotzdem ist es
nicht ungefährlich, viele der typisch „westlichen“ Interpretationen von
Gesellschaft, Menschheit oder Natur ohne weiteres einseitig zu
universalisieren und dann anderen Zivilisationen in naivem guten Willen
als „gesamtmenschlich“ überstülpen zu wollen. Ein kleiner Blick auf die
Situation des Nahen Ostens, wo der Westen seit Jahrzehnten vergeblich
versucht, wenn nötig militärisch den „universellen Vernunftgebrauch der
Menschheit“ durchzusetzen, oder auf China, dem es auf einer völlig
anderen zivilisatorischen Basis gelungen ist, zum Antagonisten des
Westens zu werden, sollte zeigen, dass guter Willen allein nicht
ausreicht, Fukuyamas Ideal vom demokratisch-liberalen „Ende der
Geschichte“ herbeizuführen.
Ein letzter Blick auf die Verbindung zwischen „individuellen
Freiheiten“ auf der einen Seite und „moderner Wissenschaft und privatem
Unternehmertum“ auf der anderen: Auch hier würde niemand verneinen, dass
der Kapitalismus in der Tat „zu einer beispiellosen Verbesserung der
Lebensumstände für alle Bevölkerungsschichten“ beigetragen hat, und
„zentrale Planung und die Unterdrückung privater Eigentumsrechte“ zu
einem „armseligen Lebensstandard für alle außer einer kleinen Elite und
zugleich zur Zerstörung der natürlichen Umwelt“ führen.
In Bezug auf sozialistische oder diverse diktatorische Regime ist die
Aussage völlig evident, doch blicken wir auf die gegenwärtige Lage der
abendländischen Welt, so sehen wir auch hier die Entstehung einer nur
als „Milliardärssozialismus“ zu bezeichnenden polarisierten Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung, in der Ultraliberalismus eben nur für einige
wenige Oligarchen gilt, während der Mittelstand ausstirbt und die breite
Masse unter zunehmend planwirtschaftlichen Verhältnissen leidet und
durch eine Beschwichtigungspolitik von „Brot und Spielen“ bei Laune
gehalten wird. Und diese Ordnung ist dem Westen nicht von außen
oktroyiert worden, sondern sie entwickelte sich organisch und
gewissermaßen sogar notwendig aus den Grundlagen des Liberalismus
heraus; ist also kein Betriebsunfall.
Insgesamt gesprochen: Ja, zweifellos ist es die einzige Möglichkeit,
eine „gerechte, friedfertige und wohlhabende Zukunft für die gesamte
Menschheit zu schaffen“ – wobei ich selbst eigentlich zunächst lieber an
das Abendland und erst dann an die Menschheit denken würde –, den Weg
des Fortschritts und der Freiheit der „westlichen Zivilisation“
weiterzuverfolgen. Doch dürfen wir nicht die Augen davor verschließen,
dass – wie die Erklärung ja auch am Anfang zurecht betont – die Kräfte
der Auflösung vor allem von innen kommen, und meines Erachtens nicht
bloß in Form erklärter Feinde, sondern vielmehr von Fehlentwicklungen,
die sich logisch und zwangsläufig aus den Grundannahmen des Liberalismus
ergeben.
Denn der moderne Staat hat, um Böckenförde zu paraphrasieren, eben
nicht die Möglichkeit, aus sich heraus jene zivilisatorischen Grundlagen
zu garantieren, auf denen er errichtet ist. Mit der Erosion
christlicher Transzendenz und abendländischer Tradition schwindet eben
auch das ultimative Fundament der „westlichen“ Gesellschaft. Und auch
der abendländische Universalismus, so bewundernswert er ist, kann auf
dem Weg zur dringenden Rettung unserer Zivilisation im Sinne eines
beherzten „The West First“ kaum als sehr hilfreich betrachtet werden,
ebensowenig wie ein Liberalismus, der ohne eine klare Selbstbegrenzung
eben jene Ungleichgewichte hervorrufen muss, unter denen wir heute so
sehr leiden. Kurz gesagt: Wollen wir die Moderne retten, so geht dies
nur unter erneutem und vernunftmäßigem Rekurs auf die Tradition. David Engels