Brunnentief ist ihr Blick. Ihre Augen haben schon alles gesehen, und dennoch ist sie rein. Sie ist frei von Lebensfurchen und Bitterkeit, ihre Wangen wie Morgentau, obwohl sie nicht mehr jung ist. Man möchte einen glorreichen Rosenkranz vor ihr beginnen, aber nicht vollenden. Denn in den Himmel aufgenommen ist sie noch nicht, kein himmlischer Triumph strahlt aus ihrem Antlitz, aber Heilsgewissheit. Sie ist unfassbar schön. Welcher Ikonenschreiber hat die Gottesmutter an einem so konkreten Punkt ihres irdischen Lebens so tief erfasst?
Im Rosenkranzkloster auf dem Monte Mario hüten die Dominikanerinnen Roms die älteste Marienikone der Stadt, versunken wie in einem Dornröschenschlaf. Will man ihrem Geheimnis auf die Spur kommen, so muss man Paul Baddes neues Buch lesen. Seine letzte große Reportage, „Die Lukas-Ikone“, widmet er der Ikone, welche die Römer bereits vor über 800 Jahren als ihre „Advocata“ verehrten, bis sie der heilige Dominikus am 28. Februar 1221 mit eigenen Händen in den ersten von ihm gegründeten Frauenkonvent übertrug und damit das verborgene Kleinod den Blicken der Öffentlichkeit entzog.
Unvergleichlich schildert Badde den Frieden, wenn am Morgen das aufgehende Sonnenlicht von Osten durch das offene Portal auf den Altar der kleinen Kirche fällt, an dem sich, begleitet vom Gesang der Schwestern, das ungetrübte Gotteslob der Frühmesse vollzieht, dem die Advocata in stiller Präsenz beiwohnt. Das Buch ist auch ein Buch über das Glück des Gebetes.
Badde schreibt mit klopfendem Herzen angesichts der Kunst des Glaubens und fragt gleichzeitig ebenso nüchtern mit kritischem Spürsinn nach ihrer Herkunft. Seit Jahrhunderten will das Gerücht nicht verstummen von einem Marienbild aus der Hand des Evangelisten Lukas. „Doch wer soll so etwas glauben können? Ich nicht“, schließt er deshalb das erste Kapitel jenes Buches, das nun den Titel „Die Lukas-Ikone“ trägt.
Die Annahme, Maria habe Lukas Modell gesessen und dabei etwa über die Kinderstreiche ihres göttlichen Sohnes geplaudert, ruft unter Kunsthistorikern allenfalls ein müdes Lächeln hervor. Allein in Rom gibt es mindestens elf Marienikonen, denen man nachsagt, vom Evangelisten persönlich geschrieben worden zu sein. Die ältesten unter ihnen werden ins 6. Jahrhundert datiert.
Ein Porträt egal welcher Frau, und wäre sie auch noch so schön gewesen, ist im Kontext des jüdischen Bilderverbotes undenkbar, so lautet die Ausgangsposition des Autors, den Maria vor über 20 Jahren in Jerusalem durch die erste Begegnung mit einer rehbraunen Lukas-Ikone auf die Spur zu ihrem ältesten Bild gesetzt hat. Lukas malt die Mutter Gottes? Absurd.
Wie viele Schätze wären aber im Lauf der Geschichte ungehoben geblieben, hätten nicht immer wieder Entdecker und Stauner den Schritt über die Grenze des Absurden, des Undenkbaren getan? „If at first the idea is not absurd, then there is no hope for it”, soll Albert Einstein gesagt haben. Und so führt die Lukas-Ikone den Leser zur „Stunde null“ unseres Glaubens und zum Ursprung unserer Bilder: Wie konnte es überhaupt zu einem ersten Bild Mariens kommen? Wie zur ausgeprägten Bildkultur des Christentums?
Begibt man sich mit Badde auf die Suche nach dem Ursprung unserer Mariendarstellungen, so reist man nicht nur in die Vergangenheit und um die Welt, sondern auch in das persönliche Erleben des Autors. Mit ihm steht man schauend und staunend in der Basilika Santa Giustina in Padua „vor dem Sarkophag, in dem Teile jenes Skeletts des Lukas mit den Knöchelchen jener Finger liegen sollen, die Grundlagentexte des christlichen Glaubens geschrieben haben“.
Man findet sich in der Stille des Gärtleins des Hauses Mariens auf dem Nachtigallenhügel in Ephesus wieder oder in den römischen Katakomben unter einem eigenartig plumpen Fresko, das viele als älteste Mariendarstellung der Stadt identifizieren. An die Hand genommen von Baddes wacher Beobachtungsgabe entdeckt der Leser die ehrwürdigsten Ikonen Roms. Viele von ihnen sind der Advocata im Typus erstaunlich ähnlich, aber keine kommt ihr im Ausdruck ansatzweise gleich, davon überzeugen die zahlreichen Abbildungen und Beschreibungen auch den kunstgeschichtlich unerfahrenen Leser.
Für den Entdecker und Verehrer des Volto Santo im Abruzzenstädtchen Manoppello wird schließlich das nicht von Menschenhand gemachte Bildnis aus dem Grab Jesu zum Schlüssel für das Verständnis des ältesten Marienbildes. Beide sind wie zwei Seiten einer Medaille: Musste nicht zuerst der Herr selbst in einem ersten exemplarischen Faktum das Bilderverbot außer Kraft setzen, damit ein Bild seiner Mutter aus menschlicher Hand und jedes christliche Bild erst denkbar wurde? Konnte nicht das erste Bild Marias überhaupt nur entstehen als menschliche Antwort auf das im Schleier von Manoppello zur Disposition gestellte Bilderverbot?
Am Ursprung unserer Bilderwelt stößt der Leser damit auf einen Akt der Freiheit, der neuen Freiheit des Christentums, wie sie beim Apostelkonzil im Jahre 48 Bestätigung fand, als dessen „Bilddokument“ der Autor die Advocata erkennt. Mit derselben Freiheit zeigt Paul Badde jenseits kunstgeschichtlicher Deutungen, was es bedeutet, anzunehmen, dass Gott in seiner erfinderischen Liebe in Bildern zu uns spricht.
Dass nicht die „Predigt eines großen Kirchenvaters“
zur Mutter des marianischen Prinzips wurde, sondern dass am Anfang ein
erstes Porträt Marias stand, welches „zum Fundament ihrer Verehrung
wurde“, drängt sich im fulminanten Gedanken-Ping-Pong der letzten
Kapitel als ebenso steile wie evidente Schlussfolgerung auf. Die
Lukas-Ikone ist vielleicht Baddes persönlichstes Buch, sie liest sich
als ein Glaubenszeugnis immer größerer Verdichtung vom anfänglichen
Zweifel bis hin zur völligen – für den kritischen Leser herausfordernden
– Klarheit vor der Advocata: Wenn es eine von Lukas geschriebene Ikone
gibt, dann diese. Tagespost
Paul Badde: Die Lukas-Ikone. Roms verborgenes Weltwunder. Christiana-Verlag, 2024, gebunden, 272 Seiten, EUR 19,80
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