"Vor einiger Zeit wurde in Frankreich Jean-Marie Le Pen mit 10 000
Euro bestraft, weil er polemisch bemerkte, dass es im Land demnächst 25
Millionen Muslime geben werde, an denen die Franzosen dann mit gesenktem
Haupt vorbeigehen müssten.
Auch liberalere Geister könnten sich
bei Gelegenheit der aktuellen Unruhen fragen, ob die erfolgreichen
Abwehrkämpfe, die das christliche Europa einst gegen den Ansturm
arabischer Mächte führte, von heute aus gesehen nicht umsonst gewesen
sind. Der zur Mehrheit tendierende Anteil der muslimischen Bevölkerung von Amsterdam und anderen Metropolen braucht unsere Toleranz bald nicht mehr.
In
welche Zukunft predigen wir die alten zivilen Werte? Sind wir mit
Blindheit geschlagen, oder reden wir mit doppelter Zunge? Das Letztere
wäre vielleicht nicht einmal Heuchelei, sondern Ausdruck einer
aufrichtigen Verwirrung.
In der deutschen Geistesgeschichte gab es
immer auch die östliche Sehnsucht, gab es zum Beispiel Nietzsche, der
Karl Martell schmähte. Er habe mit seinen Feldzügen gegen die Araber im
8. Jahrhundert Europa um die Segnungen und Reichtümer der sarazenischen
Kultur betrogen und unsere glückliche Islamisierung verhindert. Ob er in
seinem tiefen antichristlichen Rigorismus dies Urteil auch angesichts
der Terrorschläge von Dschihadisten und Salafisten aufrechterhalten
hätte? Durchaus denkbar. Nichts bleibt unerbittlicher und eifernder als
eine Anti-Passions-Passion.
Niemand von geradem Gewissen wird sich
von der Köterspur des Rassismus samt seiner xenophoben Abarten reizen
oder verführen lassen. Aber wenn sie den Sohn auf dem Fußballplatz ein
"Christenschwein" rufen, junge deutsche Türken, dann zuckt man zusammen,
selbst wenn man sich zuvor nicht als Christ gefühlt oder bekannt hätte.
Ein Widerwille gegen jegliche Form von religiöser Verunglimpfung
ergreift einen, mit allen banalen Ansprüchen der Revierdominanz oder
sogar mit einem Anflug von Reconquista-Groll.
Sogleich folgt
jedoch die zaghafte Nachfrage: Dominanz? In spätestens zwanzig Jahren
wird der junge christliche Kicker auch in diesem Stadtteil zur
kulturellen oder ethnischen (sagt man dann noch so?) Minderheit gehören.
Man wüsste nur gern, ob sich die anderen in ihrer Mehrheit dann ebenso
empfindlich bei der Abwägung zwischen Toleranz und Dominanz verhielten.
Integration,
darunter versteht man bei uns vor allem Assimilierangebote. Am
demokratischsten wäre der Verzicht auf Glaubensidentität und
Sittenprägung. Für Ausbildung und berufliches Fortkommen empfiehlt sich
die profane Gesinnung und Lebensform.
Folglich gehört der Junge,
der gläubige Christ, das Kind, das Heimat kennt und Heimat fordert, so
oder so zu einer verschwindenden Minderheit. Es wird ihm sein inneres
Hab und Gut eher streitig gemacht von den Zwängen der Anpassung, der
Vorteilssucht und des Karrieredenkens als von den Strenggläubigen des
Propheten. Im Gegenteil, die Letzteren müssten ihn in seinem Glauben
noch bestärken - er wird sich ihnen gerade in dem Maße entgegensetzen,
wie sie ihm zum Vorbild dienen.
Sollten Regeln für das friedliche
Miteinander in der Unvereinbarkeit festgelegt werden, so hätte als eine
der ersten zu gelten, dass man Christen nicht als "Ungläubige"
denunziert.
Um eine weitere Regel wird gegenwärtig gestritten: ob
der Meinungsfreiheit eine Grenze zu setzen sei. Sie findet sie bereits
beim Schutz der Person. Es ist nicht einzusehen, weshalb ein solcher
Schutz nicht auch für die Sakralsphäre gewährt werden sollte, ohne dass
damit demokratische Grundrechte aufs Spiel gesetzt würden.
Die
religiös Indifferenten leben nicht mehr ganz unter sich in diesem Land.
Der Verletzung sakraler Gefühle kommt daher eine andere Bedeutung zu als
in der früheren Bundesrepublik. Sie sollte ebenso strafbar sein wie die
Verletzung der Ehre.
Wie oft beschrieben, bezieht der Islam seine
stärkste Wirkung aus seiner sozialen Integrationskraft. Seine
diesseitigen Vorteile lässt man leicht außer acht, wenn man sich mit dem
politisch-spirituellen Konflikt beschäftigt. Gleichwohl werden liberale
Systeme mit ihrem Integrationsangebot, ihren Assimilierforderungen
immer mit der innerislamischen Integration konkurrieren.
Mit
anderen Worten, die angebliche Parallelgesellschaft ist eigentlich eine
Vorbereitungsgesellschaft. Sie lehrt uns andere, die wir von Staat,
Gesellschaft, Öffentlichkeit abhängiger sind als von der eigenen
Familie, den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich-Gültigkeit, die Regulierung
der Worte, die Hierarchien der sozialen Verantwortung, den Zusammenhalt
in Not und Bedrängnis. Selbstverständlich ist es für den aufgeklärten
Westeuropäer der Born der Finsternis, der dies Leben in der Gemeinschaft
unterhält und gut organisiert.
Als Experte für passagere Krisen
fällt es ihm schwer, mit einem auf Dauer nicht lösbaren Konflikt zu
leben. Mit seinem Sinn für das Vorübergehende muss er an ebendieser
Dauer scheitern. Da nützt es ihm wenig, wenn er - zwischenzeitlich und
vorübergehend - neue Quellen der Religiosität in seiner Welt entdeckt.
Sie hören meistens nach dem Kirchentag schon wieder auf zu sprudeln.
Andererseits gibt es eine Chance der Inspiration und der indirekten
Beeinflussung, die von der unmittelbaren Nähe einer fremden und
gegnerischen sakralen Potenz herrührt.
Sie sollte uns allerdings
zu etwas mehr als zu Spott und Satire provozieren. In dieser Konkurrenz
gilt es, unser eigenes Bestes aufzubieten, es neu zu bestimmen oder
wiederzubeleben: das Differenziervermögen an oberster Stelle, das
Schönheitsverlangen, geprägt von großer europäischer Kunst, Reflexion
und Sensibilität - lauter Sinnes- und Geistesgaben, die in der
westlichen Gesellschaft der Gegenwart von geringer Bedeutung, geringem
Ansehen sind.
Wir sind ja nicht bloß eine säkulare, sondern
weitgehend eine geistlose Gesellschaft. Schon das macht den "Dialog"
nicht leichter. Für die Vorbereitungsgesellschaft wäre zwar auch unser
Bestes heute nichts als Häresie, und doch - gäb's je ein globales
Toledo, zumindest eine kurze Blütezeit westöstlicher Synergien, dann
führte der Weg dorthin weniger über die Weltmärkte, technische
Innovationen, Sitten und Moden, sondern wiederum über die Annäherung und
den Disput zwischen den Schriftkulturen.
Der Konflikt ist nicht
zu lösen, dafür aber fest umrissen und beendet die Periode der "neuen
Unübersichtlichkeit". Mit der westlichen Einfühlung in einen
unüberwindlichen Antagonismus, sakral/säkular, ist die herrschende
Beliebigkeit, sind Synkretismus und Gleich-Gültigkeit in eine Krise
geraten. Vielleicht darf man sogar sagen: Wir haben sie hinter uns. Es
war eine schwache Zeit!"
Botho Strauß
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.