Stationen

Freitag, 15. Januar 2010

Strawinsky


“Ich bin aber selbstkritisch genug, um auch die Schuld bei den Machern selber zu sehen, also bei uns Komponisten. Ein zufälliger Besucher bekommt nicht unbedingt Lust auf mehr, wenn er mit einer „Neue Musik-Szene“ konfrontiert wird, die sich allein durch eine winzige inzestuöse Welt meist extrem selbst-referentieller Musik definiert. Er wird nur verschreckt durch Musik, die die minutiöse Kenntnis ihrer eigenen komplexen Vorgeschichte zum Verständnis absolut voraussetzt.
Der Publikumsbesuch ist dabei gar nicht das Problem. Tatsächlich hat sich hier in den letzten 20 Jahren eher viel getan. Mir tut es aber oft im Herzen weh, wenn sich erstmalige Besucher in ein allzu typisches einschlägiges Konzert begeben und dort mit einer Musik konfrontiert werden, die z. B. in den Worten des von mir durchaus hoch geschätzten Komponisten Helmut Lachenmann allein „strukturalistisch“ gehört und verstanden werden kann. Wie kann ich von einem zwar aufgeschlossenen, aber dennoch unwissenden Besucher verlangen, dass er sich vor dem Konzert ein umfassendes Wissen über die letzten 100 Jahre einer Musik aneignet, die größtenteils – aus welchen Gründen auch immer – unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat? Man sehnt sich ein bisschen nach den Anfängen der polyfonen Musik in Europa zurück, bei der allein das Erklingen der für die damaligen Menschen vollkommen neuen Harmoniefolgen Freudentränen und begeistertes Lachen erzeugte – und das bei einfachen und nicht speziell ausgebildeten Menschen.
Das Leben der Hörer muss Platz in der Musik finden
Diese Ebene der Faszinations- und Begeisterungsfähigkeit, von unmittelbarer Zugänglichkeit von Musik, sollten wir als Schöpfer nicht außer Acht lassen. Wir sollten uns nicht missverstehen: Ich bin ein überzeugter Verfechter von Kunstmusik. Kunstmusik muss weder trivial noch besonders simpel sein noch gängige Klischees bedienen. Sie soll auch stets Neuland erobern und gängige Ästhetiken hinterfragen. Sie kann und darf unbequem, schwierig und fordernd sein. Ich werde mich auch hüten, ins Horn der unsäglichen konservativen und reaktionären Stimmen zu stoßen, die wieder eine gefällige, “hübsche“ Musik fordern. Wohin die Musik geht, soll von niemandem bestimmt werden. Sie wird entstehen, und ich bin überzeugt, dass es Musik mit großer Strahlkraft auch für zukünftige Generationen geben wird.
Aber das Leben der Hörer muss darin Platz finden. Weder ein Haydn noch ein Mozart noch ein Beethoven waren sich zu schade, der musikalischen Wirklichkeit ihrer Zeit Platz in ihrer Musik einzuräumen. So sollten sich auch heutige Komponisten nicht scheuen, auf die musikalische Vielsprachigkeit unserer Welt einzugehen. Keine allzu leichtfertige „Multi-Kulti“-Musik – diese Vorstellung ist mir nach wie vor widerwärtig. Die einmalige Chance der Kunstmusik ist es, sich über alle Genres hinwegzusetzen und quasi die Summe aller Musik darzustellen, sei sie trivial oder anspruchsvoll, hehr oder banal. Strawinsky, der sowohl russische Volksmusik wie auch Jahrmarktsschlager, Jazz und Fugen in seine neue individuelle Musiksprache verwandelte, kann hier als Vorbild dienen. Wir bräuchten mehr Komponisten wie ihn.” Moritz Eggert

18 Kommentare:

  1. Nehmen wir einmal an, das Komponieren von Musik wäre vergleichbar mit dem Malen von Bildern – das fällt leicht – oder – etwas schwieriger – mit dem Anfertigen von schönen Möbeln. Diese Kunst hat irgendwann ihren Höhepunkt gefunden (mit Konrad Roentgen vielleicht?). Danach kam so viel Neues nicht mehr, abgesehen von den Herstellungsmethoden. Das Material setzte Grenzen. Die Kunst nennen wir jetzt Handwerk. So ähnlich stelle ich mir das mit der Musik vor. Hier setzt das Ohr bzw. die dahinter liegenden Gehirnspeicher gewisse Grenzen.
    Musiker und Komponisten wollen das nicht wahr haben, sie wollen Künstler und nicht Handwerker sein, und schon gar nicht antiquiert. Deshalb jubeln sie mit Herzenslust über die neuen schicken Kleider des Kaisers. Auch das Publikum macht mit, das auch nicht altmodisch sein will. Tatsächlich und entgegen Eggerts Meinung wird ihm in den Konzertsälen ständig neue Musik präsentiert. Aber man atmet auf, wenn man es überstanden hat (Ich spreche etwas allgemein, natürlich gibt es tausend Ausnahmen) und endlich der Beethoven kommt. Nur an wenigen Stellen entscheidet sich das Ohr für wohlwollende Aufmerksamkeit. Da sind die Klänge der anderen Kulturen, dann das cross-over, dann die wiederentdeckten alten oder naiven Klänge, usw. Danach kommen die neuen Verpackungen, Film- oder Programmusik. Musik/Klänge in neuem Ambiente.
    Es wird kein Aufjubeln mehr geben wie bei der Entdeckung der Polyphonie. Denn das wirklich Neue geht nicht mehr durchs Ohr sondern allenfalls durch den Intellekt.
    Das Leben der Hörer muß Platz in der Musik finden. Das unterstreiche ich. Aber nicht wie Eggert das eingrenzt. Ja, es wird weiterhin Musik mit großer Strahlkraft geben. Aber sie wird von großartigen Handwerkern kommen. Dazu zählen schon jetzt viele Filmkomponisten.

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  2. Der Vergleich mit dem Schreinerhandwerk ist gar nicht so schlecht. Karl Popper machte übrigens eine Schreinerlehre und war später eine Zeit lang Mitglied in Schönbergs "Verein für musikalische Privataufführungen". Seine Schlussfolgerungen über Musik ist Wasser auf Ihre Mühlen, lieber cs!

    Siehe http://books.google.it/books?id=NyCEnehPMd8C&dq=unended+quest&printsec=frontcover&source=bl&ots=jm6zSwmM-E&sig=pntBMOpHPIdvBXevl9lwy2l4q7c&hl=it&ei=bY0SS4DKJ5KInQPSjvHUAg&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CAsQ6AEwAA#v=onepage&q=&f=false

    Es gibt in der Tat Grenzen für die Formenvielfalt von Musik, wie ja auch das Leben nur innerhalb ganz bestimmter Grenzen möglich ist. Innerhalb dieser Grenzen ist allerdings durch Crossing over und Mutation Gestaltwandel ebenso wie Wiederholung in großer Vielfalt möglich. Ein Beispiel für Wiederholung in der Natur war der Riesenalk (inzwischen ausgestorben) Alca impennis in der Arctis, der den Pinguinen der Antarctis so ähnlich sah, dass er früher Pinguinus impennis hieß, bis festgestellt wurde, dass keinerlei Verwandtschaft besteht. Also selbst in der Natur kann man beobachten,dass der Vielfalt offensichtlich Grenzen gesetzt sind, die der Evolution eine Richtung geben, obwohl eine andere Entwicklungsgeschichte durchaus auch Lebewesen hätte hervorbringen können, die durch Gasentwicklung leichter als Luft hätten werden können und wie Luftquallen von einem Kontinent zum anderen hätten schweben können.

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  3. In der Musik ist es ähnlich. Eins der Paradoxe ist, dass gerade diejenige Musik, die sich sehr viel auf ihren Intellekt zu Gute hält, besonders viele Dummheiten hervorgebracht hat (meine Ansicht, dass diesen Dummheiten in der leichten Muse eine komplementäre Armseligkeit entspricht, kennen Sie ja bereits bis zum Überdruss). Ich hatte das Glück, mich ein Jahr lang mit Andrei Volkonsky über dieses Thema zu unterhalten (http://en.wikipedia.org/wiki/Andrei_Volkonsky). Er sagte einmal kurz und bündig, Schönberg sei ein Genie gewesen, aber er habe sich nun mal geirrt. Die deutsche Spekulationslust und die jüdische Relativierungslust ließen ihn einen Irrweg einschlagen. Nach dem Krieg wurde dieser Irrweg - besonders im deutschsprachigen Raum - aus Trotz gegenüber der vorherigen Verleumdung sozusagen zum Highway und die Musikologen glichen sich diesem neuen Konformismus an, weil sie nicht mit den NS-Propagandisten ins selbe Horn stoßen wollten. "Ein Narr selbst Nichts zu sagen wagt, Nur weils ein Nazi schon gesagt" reimte Eugen Roth.

    Dennoch sind die Grenzen nicht so eng, wie es manchmal den Anschein hat. Es gibt wunderbare Volksmusik, bei der die Dissonanzen eine große Rolle spielen. Volkonsky spielte mir Schallplatten aus dem kaukasischen Georgien vor und versicherte mir, er habe sogar auf Busfahrten im Gebirge dieselben Polyphonien dort gehört. Der Unterschied zwischen dieser Volksmusik (deren "schräge Polyphonie" überaus vital wirkt) und der sogenannten Neuen Musik besteht vor allem darin, dass bei ersterer das rechte Maß nie überschritten wird und man sozusagen die Gebirgsluft einer Gebirgskultur riecht, während man bei der Neuen Musik immer an Erstickung oder Sauerstoffzelt denken muss. Verzeihung, nicht immer!! Wir sind schon einmal auf die Bedeutung angemessener Bilder zu sprechen gekommen. Manchmal ist nicht mal ein Bild nötig und es reicht, einen richtigen Zusammenhang herzustellen oder eine angemessene Zusammenstellung einzuhalten. Zum Beispiel hört sich Ligettis "Lux aeterna" besonders schön an, wenn an einem Juniabend die tief stehende Sonne ins Wohnzimmer scheint. Man kann sogar die Losungen des Herrnhuter Kalenders dazu lesen.

    Ein Missverständnis ist die Annahme, die "Neue Musik" sei ein Erzeugnis des Intellekts. Ausgangspunkt ist bei jeder Musik immer eine Gefühlslage. Ein Komponist, der das leugnet, macht sich nur lächerlich; erst recht natürlich, wenn er die Wirkung seiner Werke, also die Gefühle der Hörer, nicht ernst nimmt. Die Hartnäckigkeit, mit der in dieser Hinsicht der Kopf in den Sand gesteckt wird, ist allerdings ein Beispiel für ein sonst beispielloses Sektierertum.

    Ich habe gerade Ornella Vannonis neue CD gehört. Hervorragende Bearbeitungen älterer Werke von Pino Daniele. Es gibt im deutschsprachigen Raum nichts mit vergleichbarer Qualität in der Unterhaltungsbranche. Die hehre Neue Musik hat bei uns sozusagen die großen Talente wie ein Staubsauger an sich gerissen, und Breitenwirkung geht deshalb im deutschsprachigen Raum mit Verflachung einher. Schade. Wir müssen erst noch gesunden. Da gibt es viel zu tun.

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  4. Es ist auch ein Irrtum, dass Lachenmann nur "strukturalistisch" gehört und verstanden werden kann, wie Eggert in guter Absicht behauptet, um seinen Zuhörern beim Goetheinstitut entgegenzukommen. Man kann diese Musik aber durchaus wie jede andere Musik auch intuitiv erleben und als Meditationsmusik hören, sich von ihrer Stimmung wie von einem schwebenden Klangteppich tragen lassen. Sie hört sich so ähnlich an wie Zenmeditationsmusik, und man kann sie durchaus zur Entspannung hören und ihre Klänge als inspirierend empfinden und die eigenen Gedankenassoziationen wie Kerzen und Christbaumkugeln an einer Fichte an ihr anbringen.

    Man muss natürlich dazu in der Stimmung sein! Weihnachtslieder hört man ja auch nicht im Fasching.

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  5. Aber man versäumt nicht viel, wenn man Lachenmann nicht kennt. Ganz anders Massenet, Puccini oder Mascagni, die beide gern als Kitsch abqualifiziert werden (in Deutschland).

    In Italien gibt es Gottseidank einen Zeffirelli, der Mascagnis "Cavalleria rusticana" wunderbar verfilmt hat. Liliana Cavani hat einmal die "Pagliacci" Leoncavallos am Theater sehr schön inszeniert. Leider ist davon noch keine DVD auf dem Markt.
    Was alles aus dem Ruder gelaufen ist in der Welt der Kunst in Deutschland... Es gibt die Fehlentwicklungen natürlich auch anderswo, aber in viel geringerem Ausmaß, und daneben hat sich sehr viel gesundes erhalten in Italien. Auch sind die Übergänge fließender zwischen den Bereichen, es gibt Verbindungen und Kollaborationen, wo in Deutschland schon zwischen der Welt der Schlagermusik und der Jazzmusik eine schier unüberwindliche Kluft wie eine Wunde klafft (mal abgesehen von Wolfgang Dauner und Konstantin Wecker). Berührungsangst trennt ein Genre vom andern, und sie ist so groß wie des Teufels Scheu vor dem Weihwasser. Warum hat Udo Jürgens nie Lust verspürt mit Talenten des Jazz etwas zusammen zu machen??? Nicht einmal privat. Es ist nicht zu fassen.

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  6. Zu Grenzen für die Formenvielfalt: Das Ausmaß an Gestaltwandel verringert sich stetig (verläuft also asymptotisch (gegen Null). Ich nenne Musikschöpfung deshalb nicht mehr Kunst sondern Handwerk.

    Der Hinweis auf Volksmusik geht ins Leere, die ist ja nicht NEU.

    Berührungsängste zwischen den Genres? Ich sehe im Ganzen eine gegenläufige Entwicklung (auch wenn Udo nur auf seiner Welle reiten kann) – in Ermangelung der originären Möglichkeiten.

    Meine Meinung: In der Musik gab es noch keine Epoche, in der wir einen dermaßen großen Bären aufgebunden bekamen. Und in existenzieller Bedrängnis machen alle mit, insbesondere die Ausbildungsinstitutionen.

    (an dieser Stelle versteckt ein persönlicher Hinweis zum N+Q Post vom 13.01.10, der mein Interesse erklärt: Ich bin väterlicherseits verwandt mit dem Kopf des Widerstands H.v.Tresckow, mütterlicherseits mit dem Zauderer E.v. Manstein)

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  7. "Meine Meinung: In der Musik gab es noch keine Epoche, in der wir einen dermaßen großen Bären aufgebunden bekamen. Und in existenzieller Bedrängnis machen alle mit, insbesondere die Ausbildungsinstitutionen."

    Vollkommen einverstanden. Man sollte sich überlegen, ob es nicht doch irgendwie möglich ist, in der Musik eine Eulenspiegelei zu landen, wie die mit den Modiglianiskulpturen, die ich in Z&Z am 15. November in meinem fünften Kommentar erzählte. Gerade Lachenmanns angeblich so "strukturalistische" Musik eignet sich besonders für Imitation durch einen Zufallsgenerator von Klängen.

    Der Hinweis auf die Volksmusik in Georgien sollte verdeutlichen, dass es tatsächlich auch alte, kerngesunde Musik gibt, die in ihrer schrägen "Tonalität" der Neuen Musik eigentlich näher steht als europäischen Volksliedern (einschließlich der Zigeunermusik des Balkans). Interessant für Musikhandwerker, die ein Musikerlebnis herbeiführen wollen, das Freudentränen und begeistertes Lachen bewirkt.

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  8. Die Verwandtschaft zu Tresckow und Manstein ist aus meiner Sicht ein beneidenswerte Zugang zu glaubwürdigen Informationen. Mein Vater verweigerte Stauffenberg als ehemaliger Offizier der Wehrmacht sein Leben lang Zustimmung, Sympatie und Verständnis und gab vor, die Shoah für eine sowjetische Propagandalüge zu halten, die auch 30 und 40 Jahre nach dem Krieg geglaubt wurde und sogar in bundesdeutschen Schulen unterrichtet würde. Und dies, obwohl er sich in der Ukraine als Veterinäroffizier zu einem Zeitpunkt hinter der Linie aufhielt, als dort hinter der Linie 1,5 Millionen Juden durch Erschießen getötet wurden. Wenn ich als Kind auch nur einen Stock gewehrartig "in Anschlag" brachte, herrschte er mich an, "Nicht auf Menschen zielen." Es hat einige Zeit gekostet, all dies verlässlich zu entschlüsseln.
    Äußerst lehrreich war eine Erfahrung, in der ein Familienmitglied in einer schrecklichen Situation vor meinen Augen Dinge tat und sagte, die es im Verlauf weniger Wochen dann vollständig vergaß, sich eine ähnliche, ganz andere Geschichte zurechtschnitt und fest an sie glaubte. Das erstaunlichste an dieser Begebenheit ist, dass die Alternativversion des Vorgefallenen auch mir gegenüber, oder gerade mir gegenüber, mit größter Selbstverständlichkeit erzählt wurde, obwohl ich selbst bei dem Vorfall anwesend war und er sich vor meinen Augen abgespielt hatte. Wäre ich nicht dabei gewesen, würde ich heute glauben, was mir da erzählt wurde. Nietzsche sagte einmal "Deutschsein heißt, an die eigenen Lügen glauben." Ein hartes Wort. Leider muss ich ihm recht geben.

    Mein Vater hatte einen engen Freund vom Militär. Gottseidank besuchten wir den einmal an einem 20. Juli und sahen nach dem Abendessen im Fernsehen die jährliche Dokumentation. Es war wohltuend zu erleben, wie ein ehemaliger Offizier und Freund meines Vaters ohne Anfechtungen in meiner und meines Vaters Gegenwart die Wahrheit sagte und noch ein paar Details hinzufügte, die nicht so bekannt waren. Erst 10 Jahre nach dem Vater meines Todes (bedeutungsvoller Lapsus, ein wahrer Lapsus lazuli), Verzeihung, nach dem Tode meines Vaters, als in der Zeitung ein Artikel über Tresckow erschien, teilte meine Mutter mir mit, dieser Freund meines Vaters sei entfernt mit Tresckow bekannt oder verwandt gewesen.

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  9. Nicht die Eltern selbst, wohl aber die dahinter stehenden Clans übertrafen sich also in Bekundungen des Stolzes und auf anderer Seite in Bewunderung des militärischen Genies.
    Hier eine nicht unbedeutende Erklärung meiner Mutter (Maria Frisé) dafür, dass Tresckow/Stauffenberg den Generalfeldmarschall nicht für den Widerstand gewinnen konnten: Die Ehepaare Manstein und Tresckow glänzten auf dem Berliner gesellschaftlichen Parkett. Dabei neidete der ranghöhere Manstein (und vor allem seine Frau) den gesellschaftlichen Aufstieg des brillianten Tresckow.

    Heute kriegt man das Grausen, wenn man sich Geschichten in Erinnerung ruft, die man als Kind hörte. Wie kann man überhaupt ein solches Buch „Verlorene Siege“ schreiben, wenn man kurz vorher noch derartige Sprüche losließ wie „it is necessary to root out the Jewish-Bolshevik system once and for all” (steht in großer Schrift an einer Wand in Yad Vashem). Auf der anderen Seite gerierte sich mein Onkel Alexander, als schon fast alle Überlebenden tot waren, quasi als Chef des Widerstands. Auch eklig.

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  10. Ja, es nimmt einen mit. Es erfordert Kraft, es auch nur zur Kenntnis zu nehmen und mit Sinn fürs rechte Maß in eine dem Sachverhalt entsprechende Ordnung zu bringen, die den Namen Gedächtnis verdient. Meine tief gefühlte Anerkennung für dieses Bemühen.

    Das Bestürzendste an der Episode in meiner Familie ist, miterlebt zu haben, wie eine Person, an deren unerschütterliche Ehrlichkeit ich seit Jahrzehnten gewöhnt war, die Wahrheit innerhalb kurzer Zeit vergaß, weil der Wunsch nach Harmonie und Unschuld ausnahmsweise größer als die Wahrhaftigkeit war. So als zerrte die Sehnsucht nach Harmonie und Unschuld wie ein unwiderstehlicher Sog an Gedanke, Bewusstsein und Wort. Man kann es nur staunend zur Kenntnis nehmen und sich über die makellose Glätte des erwünschten Vergessens wundern und muss dabei feststellen, dass Wahrheit spurlos (ohne Gewissensbisse oder "neurotische", verschlüsselte Symptome) verschwinden kann, wenn einer nicht gewillt oder im Stande ist, sie auszuhalten.

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  11. Man darf sich die gute Laune nicht verderben lassen.

    Bei mir stellte sich, als ich noch sehr jung war, ein Gefühl des Wohlwollens gegenüber der menschlichen Unzulänglichkeit ein. So sind Menschen nun einmal!

    Vielleicht wurde diese Einstellung frühzeitig zum Lebensgefühl für mich, weil meine Eltern schon sehr alt waren, als ich geboren wurde und meine vor und während des Kriegs geborenen Geschwister soviel älter als ich waren... Zwischen ihnen und mir liegt nichts geringeres als der zweite Weltkrieg, meine Geschwister waren Flüchtlingskinder, und ich wurde zum Nestflüchter. Jedenfalls fiel mir sehr früh generell die Fragwürdigkeit menschlicher Überzeugungen ins Auge. Während der Jugend war das nicht schön, ich war für mein Alter damals immer viel zu alt: wo sich meine Altersgenossen rückhaltlos begeistern ließen, sah ich schon von weitem einen Haken, der mich von vornherein bremste und mir die Lust minderte und mich halbherzig mitmachen ließ. Erst sehr viel später wurde aus dieser unvermeidlichen Distanz gelassene Abgeklärtheit. Immerhin bringt es mich dadurch nicht aus der Fassung, wenn ich ein Detail erfahre, das präzisiert, durch welch nichtige Gründe ein historisches Scheitern manchmal(bzw. immer)zustande kommt.

    Sie sind immer da, diese Nichtigkeiten. So sind wir Menschen nun einmal. Man muss bei Unternehmungen mit ihnen rechnen.

    Die Eitelkeit ist eigentlich eine relativ harmlose menschliche Schwäche. Aber wenn sie in einem bedeutenden Kontext auftritt, bei dem sie besonders fehl am Platz ist, wirkt dieser wie ein Vergrößerungsglas. Besonders auf Familienmitglieder wahrscheinlich. Danke also für die korrigierende Leseanweisung, die ich beachten werde, danke für die vertrauensvolle Ehrlichkeit und Offenheit.

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  12. Und damit sich der Kreis schließt, wollen wir unseren Streifzug durch die Politik noch etwas fortsetzen, um dann zur Musik zurückzukehren. Andrei Volkonsky warf nicht einfach alles über den Haufen!! Man agiert ja immer in einem sozialen Kontext und hat dabei die Aufgabe seine besseren Einsichten zu vermitteln, ohne die Menschen vor den Kopf zu stoßen. Volkonskys Wahl fiel auf den gezielten Rückzug. Es ist sicher kein Zufall, dass sich die "gleichstufige Stimmung" parallel zu Egalité, Ecole Normale und Code Napoleon durchgesetzt hat. Das Wohltemperierte Klavier wurde aber für die "wohltemperierte Stimmung" geschrieben!!! Also stimmte Volkonsky sein Cembalo "wohl temperiert" und machte eine Einspielung des Wohltemperierten Klaviers mit der Absicht, den Eigencharakter der Tonarten wieder hervorzulocken.

    http://beemp3.com/index.php?q=andrei+volkonsky&st=artist

    Er floh aus unserer gleichstufig gestimmten Zeit, die eine Übergangszeit zu sein scheint, zurück in eine andere Zeit, könnte man sagen. Man könnte aber auch sagen, er holte wohltemperierte Medicamente für unsere Zeit aus einer anderen Zeit und trug sie in die Gegenwart hinein. Denn gleichzeitig gab dieser geniale Mann Konzerte, bei denen er mit seinem Ensemble "Hoc Opus" Arien von Frescobaldi durch Improvisation im Stil von Frescobaldis Zeit begleitete. Das Bedeutsame dabei ist, dass Frescobaldi das Genie einer Übergangszeit war. Wie der Maler Paolo Uccello. Wie Charles Ives. Wie Sigismondo D´India. Wie Domenico Mazzocchi (der wie Ives mit Viertel- und Achtelnoten, also Übergangstönen, und mit gleitendem Übergang arbeitete, nur eben im 17. Jahrhundert), der als der erste gilt, der Begriffe wie Crescendo und Diminuendo verwendete und sich aus einem starren Gerüst löste, wie ein Insekt bei der Häutung und wie Volkonsky durch sein Ausweichen vor Gleichförmigkeit und Gleichstufigkeit. In den letzten Lebensjahren komponierte er noch ein bisschen: eine pochende Vertonung des Psalms 148 und eine Vertonung in modalen Tonarten von Johannes Bobrowskis Gedichten. Ein besonderer Grund für Preussen wie uns, sich zu freuen.


    Heute feiert die "difference" auf ihre Weise Triumphe über die "Egalité": durch das Auseinanderdriften der Genres U-Kunst und E-Kunst, und beides hat seinen Ursprung in einer Verbrennung.

    http://blogs.nmz.de/badblog/2009/12/23/auf-den-punkt-bringen-nochmal-zum-fall-eggebrecht/#comment-1469

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  13. Volonsky muß wohl das Cembalo eben grade nicht wohltemperiert gestimmt haben, denn heute sind alle Klaviere wohl temperiert. Ich habe die andere Stimmung einmal gehört bei Andreas Beurmann, der der Welt größte Tasteninstrumentensammlung besitzt und jedes seiner Instrumente selbst stimmt und (!) gestimmt und spielfähig hält. Ein liebenswürdiges Genie. Ein in C gestimmtes und in Es gespieltes Instrument klingt wirklich schräg.

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  14. "heute sind alle Klaviere wohl temperiert"

    Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Auch mein Musiklehrer bezeichnete die heute übliche gleichstufige Stimmung als wohltemperierte. Wie sich die Dinge tatsächlich verhalten, und was mit "wohl" temperiert gemeint ist, ist seltsamerweise auch bei Fachleuten wie den meisten Musiklehrern völlig in Vergessenheit geraten.

    Die "wohltemperierte" Stimmung ist ein Kompromiss zwischen der "gleichstufigen" Stimmung (die sich im 19. Jahrhundert durchsetzte und auch heute noch fast überall angewendet wird) und der sogenannten "reinen" Stimmung, bei der in C und in Es gestimmte Instrumente so schräg klingen, wenn sie zusammen gespielt werden.

    Mit anderen Worten, bei der wohltemperierten Stimmung ist der Eigencharakter der Tonarten nicht so stark zu hören, wie bei der reinen Stimmung (und dadurch entsteht auch das Schräge nicht so stark). Gleichzeitig wird durch die wohltemperierte Stimmung auch die Gleichförmigkeit der gleichstufigen Stimmung vermieden und ein Minimum des Eigencharakters der Tonarten erhalten.

    Heute sind fast alle Aufnahmen von Bachs "Wohltemperiertem Klavier" mit gleichstufig gestimmten Instrumenten gespielt.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Gleichstufige_Stimmung
    http://de.wikipedia.org/wiki/Reine_Stimmung
    http://de.wikipedia.org/wiki/Wohltemperierte_Stimmung

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  15. Verflixt, das hätte ich wissen müssen, bzw. dem Beurmann besser zuhören sollen. Danke.

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  16. "Seine Schlussfolgerungen über Musik ist Wasser auf Ihre Mühlen.."

    Ich kriege leider die Fundstelle nicht vollständig geöffnet, nämlich nur bis S. 42. Poppers Gedanken würden mich interessieren. Buch kaufen?

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  17. Ich bin manchmal übrigens sprachlos: Woher wissen Sie eigentlich ALLES? Und dann frage ich mich, was habe ich an Bildung eigentlich alles versäumt in der beruflichen Praxis (Unternehmer)? Mein Fimmel, jeden MK-Post zu kommentieren (und notwendigerweise zu recherchieren) zeigt, daß ich das mit Macht ändern will.

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  18. Poppers Autobiographie ist lesenswert von vorne bis hinten, für Musikliebhaber wie uns ganz besonders, da er ein ganzes Kapitel der Musik widmet. Es fängt aber erst auf Seite 56 an. In Italien ist das ganze Buch zu sehen. Offenbar erlaubt es das deutsche Urheberrecht nicht.
    Aber es ist eins von den Büchern, die man wirklich im Regal haben sollte.

    Woher ich "alles" weiß? Ich bin nun mal sehr neugierig. Und ich befand mich, wie gesagt, als sehr junger Mensch in einer Situation, die mir vieles fragwürdig erscheinen ließ und die erforderte viele Behauptungen zu überprüfen, da sich die Informationsquellen, die mir damals zur Verfügung standen (Schule, TV, Verwandte) durch ihre Widersprüchlichkeit und partielle Plausibilität gegenseitig diskreditierten. Die Ungereimtheiten empfand ich als junger Mensch manchmal bedrohlich, später wurden aber gerade sie lehrreich.

    Es ist kein Fimmel. Es ist das Beste, was man machen kann mit dem herrlichen Informationsangebot, das durch das Internet zur Verfügung steht. Und Michael Kunzes Blogs gehören bestimmt zum Klügsten, was im deutsch- und englischsprachigen Raum zu finden ist. Manche seiner Eintragungen sind kleine literarische Meisterwerke. Vor allem ist er ein begnadeter Beobachter. Seine gewissenhafte Sorgfalt und Wahrhaftigkeit hat Seltenheitswert und sein Sinn für Maß und Proportionen ist noch seltener.

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