Stationen

Montag, 23. Dezember 2013

Herzlichen Glückwunsch



Ich war in Nottingham damals, am 28. Oktober 1977, als Schmidt seine Rede vor dem IISS hielt. Ein Offizier der Royal Air Force, der ein paar Jahre in Berlin stationiert gewesen war, hatte mir und meiner Freundin für drei Tage Gastfreundschaft angeboten. Ich sah überrascht eine Minute lang im BBC, wie Schmidt auf englisch seine Rede hielt. Unser Gastgeber (der, wie anscheinend alle Engländer damals, in einem Ballon auf der Kellertreppe Obstwein gären ließ) sagte, Schmidt spreche ein sehr gutes Englisch. Das war gerade einmal 10 Tage, nachdem die Landshut befreit worden war.

Ich nahm Schmidts Standpunkt durchaus ernst damals. Aber der Eindruck, dass sich beide - Westen wie Osten - in einer Sackgasse befänden, immer ähnlicher würden, nach jeder Abrüstungsvereinbarung immer nur eine neue, immer gefährlichere Umrüstung eingeleitet wurde, überwog. Außerdem waren die USA in meinen Augen ein unheimlicher Verbündeter. Sie hatten in Vietnam wirklich gezeigt, wozu sie fähig waren.
 Die Millionen Toten in Vietnam, die zu 95% Ziviltote waren, waren keine "Kollateralschäden". Die Streubomben wurden damals nicht gegen Panzer verwendet und hatten als einziges Ziel Menschen. Sie enthielten Kugeln mit 10 cm Durchmesser, in denen sich kleinere Kugeln befanden, die wiederum Schrotkugeln enthielten, die ihren Weg leicht in die Hütten der Vietnamesen fanden und sich in deren Eingeweide gruben und zu einem qualvollen Tod führten. Jimmy Carter erwog damals schon zu Friedenszeiten, Deutschland nur dann zu verteidigen, wenn ein Angriff die Elblinie überschritt. Im Ernstfall womöglich nicht mal das. Sich auf diese Strategie zu verlassen, war mir unheimlich. Auch ärgerte mich, wie die Rolle der Sowjetunion im Vietnamkrieg im Bundestag verzerrt wurde. So als bombardierten die Russen Südvietnam!! In Wirklichkeit bombardierten einzig und allein die Amerikaner (um dem Dominoeffekt entgegenzuwirken), und die Russen versorgten Nordvietnam mit Raketenbasen zur Flugzeugabwehr.

Horribile dictum, Gudrun Ensslins Fassungslosigkeit und Wut angesichts der amerkanischen Praktiken - sie hatte beim Russeltribunal über Vietnam die Texte, die diese Praktiken beschrieben, übersetzt - war durchaus einleuchtend: wir Deutschen waren in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt worden, und die Amerikaner spielten sich als Helden auf, die uns durch Völkermord vor dem vietnamesischen Kommunismus retteten??? Das ging ja wohl zu weit. Und der Vergleich zwischen Auschwitz und Vietnam schien mir damals durchaus angemessen. Dass Gudrun Ensslin später in die Irre ging und selber zu weit ging, steht auf einem anderen Blatt.

Spannocchi

Erst 18 Jahre später wurde der Film Crimson Tide gedreht. Endlich ein Film, in dem mein Standpunkt anschaulich dargestellt wurde. Es ist der einzige Kriegsfilm, mit dem ich mich je identifiziert habe, denn es ist der einzige, dessen Autor begriffen hat, dass im Nuklearkrieg die Maximen von Clausewitz ihre Gültigkeit zum Teil verloren haben und daraus die zwingenden Konsequenzen für die Handlung des Films gezogen hat. Außerdem wird eine Antinomie in Szene gesetzt, die nicht nur typisch für die Strategie der Zweitschlagkapazität ist, sondern symbolisch das kennzeichnende Dilemma des Nuklearzeitalters beschreibt und deshalb auch heute nicht vergessen werden sollte.

Hier ist der Film



Schmidt und Kappler

In Italien hat Ulrike Meinhof immer noch mehr Sympathien als Helmut Schmidt. Ein in Deutschland lebender Italiener wird dies schwerlich zugeben. Fare bella figura hat Vorrang. Aber in Rom gab es spontane Demonstrationen vor der deutschen Botschaft, als bekannt wurde, die Stammheimer Häftlinge seien tot in ihren Zellen aufgefunden worden. Die Italiener werden in Stauffenberg nie eine Sympathiefigur sehen. In Ulrike Meinhof dagegen sehr wohl, wenn nicht gar eine Verbündete, noch heute.

Das Wohl des Volkes, dass der RAF am Herzen lag, war am wenigsten das des deutschen Volkes. Am Herzen lag ihr das Wohl der Internationale der Verdammten dieser Erde. Sie war eine Internationalistin wie Rosa Luxemburg. Wie für Noske hatten für Schmidt nationale Interessen Vorrang vor den internationalen. Wie für Luxemburg hatten für Meinhof internationale Interessen Vorrnag vor den nationalen.
Im deutschen Volk sah die RAF einen Komplizen des Bösen (früher Hitlers und später des Kapitals), der auf die eigene Ausbeutung mit Überanpassung reagierte, statt zu rebellieren. Die RAF war wütend auf das deutsche Proletariat, dass sich durch gute Löhne kaufen ließ und für eine Beteiligung an der Beute auf die Solidarität mit der Internationale verzichtete.

Und diese Wut hat man in Italien in breiten Teilen der Bevölkerung mindestens 10 Jahre lang geteilt.




Schmidts Einschätzung der RAF deckt sich mit den scharfsinnigen Überlegungen, die Friedrich Dürrenmatt zu diesem Thema niedergeschrieben hat, und deren entscheidendes Kriterium in der Ansicht besteht, "Verzweiflung handele stets spontan", während die Aktionen der RAF kaltblütig geplant worden seien.

Ich glaube, dass es sich Dürrenmatt und Schmidt mit diesem Standpunkt zu einfach machen. Die Verzweiflung kann durchaus zu kaltblütigem, planendem, ja geduldigem Handeln führen. Man sah es an Hitler, wie er nach seinem ersten Putschversuch in München zehn Jahre lang geduldig eine legale Machtübernahme vorbereitete, und man sah wie Breivik einsam und allein seine Verzweiflung zur Energie des Handelns gemacht hat.

Aber Schmidts und Dürrenmatts Ansicht hebt sich positiv gegenüber den weinerlichen Bemerkungen von Leuten wie Roland Koch ab, die auch heute noch behaupten, die RAF habe "unseren Rechtsstaat zerstören" wollen. Koch ist eigentlich ein sehr intelligenter Mann und war meines Erachtens sogar einer unserer besten Politiker, aber er hat 30 Jahre lang nicht eingesehen, welchen Schaden man mit stumpfsinnigen, weltfremden Beurteilungen wie den seinen anrichten kann. Seine Art von betonköpfiger "Staatsräson" und die undurchdringliche Omertà der Polizeigewerkschaft im Fall Benno Ohnesorg gehören zu den Hauptfaktoren, durch die die (ver)zweifelnde kriminelle Energie der RAF so lange gespeist und befeuert werden konnte und in der BRD alle blind dafür wurden, dass uns die DDR von Kurras einen Ring durch die Nase ziehen ließ.

Es ist immer besser, wenn man seine politischen Gegner achtet und ihre politische und moralische Motivation ernst nimmt, statt sie zu verleumden. Auch wenn man die ihr zugrunde liegenden Ansichten nicht teilen kann, dumm findet, für irrsinnig hält, ja nicht mal tolerieren möchte und entschlossen bekämpft.
Wer politische Gegner verleumdet und ihnen Absichten andichtet, die sie nie hatten, wird selbst unglaubwürdig.
Besonders durchdacht war die Strategie der RAF - im Gegensatz zu der der Roten Brigaden - nie. Aber ihr anzuhängen, sie habe "unseren Rechtsstaat zerstören wollen", ist Verleumdung der übelsten Art. Sie wollte der Entrechtung ein Ende machen, die nach Ansicht der RAF damals in Deutschland immer noch viel zu viele Menschen betraf, und sie wollte dem deutschen Staat "die Maske der Liberalität" herunterreißen, hinter der sich, nach Ansicht der RAF, eben gerade kein Rechtsstaat befand, sondern ein immer noch obrigkeitsstaatliches Gemeinwesen, dass sofort den Knüppel benutzte, wenn es ihm opportun erschien, Angst zu verbreiten. Denn während des Schahbesuchs war genau dies tatsächlich geschehen.

Karl Popper, der sich mit den Lorenz-Entführern unterhalten hatte, sagte, eine der Ursachen der Terrorismus in der BRD sei, dass die Terroristen zu hohe Erwartungen an die Demokratie gestellt hätte. Durch unerfüllte Erwartungen enttäuscht seien diese jungen Menschen für Gewaltaktionen anfällig geworden. Zu diesen überhöhten Erwartungen trage auch das unglückliche Wort "Demokratie" bei. Es könne keine "Volksherrschaft" geben, sondern nur eine "Offene Gesellschaft", in der das Volk alle paar Jahre ein Urteil über die Regierungshandlungen fällt.

Poppers Gedanken zum Terrorismus - die ich teile - fanden bei Schmidt leider keinen Wiederhall.

Der Schmücker-Prozess ist ein gutes Beispiel dafür, dass man nicht zu viel vom Rechtsstaat erwarten kann. Aber auch dafür wie kaltschnäuzig Roland Koch einerseits lügt und wie gleichgültig ihm andererseits diese Schwächen des Rechtsstaats zu sein scheinen.

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