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Donnerstag, 12. Dezember 2013

VOX DEI - VOX BOVIS - VOX POPULI


Demokratie und Populismus. Zwei Seiten derselben Medaille. Demokratie ist gut, Populismus verächtlich. So bei uns die allgemeine Wahrnehmung und Darstellung. Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist jeweils das Volk, „Demos“ auf griechisch, „populus“ auf lateinisch. So gesehen, bestimmt das Volk den jeweiligen Inhalt, sowohl in der Demokratie als auch im Populismus.

Bezogen auf die Demokratie gilt bei uns allgemein und ohne religiöse Schwingungen: „Die Stimme des Volkes gleicht Gottes Stimme.“ Die Römer sagten „vox populi, vox dei.“
Das Römer-Wort „populus“ für „Volk“ ist bei uns negativ belegt und „Volkes Stimme“ im „Populismus“ - unausgesprochen -  so dargestellt: „Vox populi, vox Rindvieh.“

Man muss sich entscheiden: Gilt Volkes Stimme? Ist in der „Volksherrschaft“, ist in der Demokratie, das Volk der kluge Souverän oder der Idiot vom Dienst? 

Je nach Windrichtung und -stärke, wie es gerade passt, erst hü, dann hott, 'mal ja, 'mal nein, das kann nicht sein. Das ist logisch Unsinn, moralisch verwerflich und führt ins politische Chaos.

War 1933 die Machtübergabe an Hitler „populistisch“ oder „demokratisch“? 

Seine Verbrecher-Partei war seit 1930 die stärkste in Deutschland und bei den letzten halbfreien Wahlen vom 5. März 1933 stimmten knapp 44 Prozent für die NSDAP. 
Weitere 8 Prozent der Deutschnationalen sicherten der NSDAP-DNVP-Koalition 52 Prozent der Wähler.
Eines der damaligen Argumente zu Hitlers Gunsten lautete: Man könne eine, die stärkste, demokratisch gewählte Partei nicht dauerhaft isolieren.Die Folgen sind bekannt...

Ich frage trotz all der Unterschiede: Wenn 1933 die Einbindung der wählermächtigen NSDAP in die politische Verantwortung falsch war, warum ist dann die Einbindung der 1989 nur umbenannten und ab 2004 teilerweiterten SED richtig? 
Seien Sie sicher, als Historiker und Nachfahre von Holocaustüberlebenden,  kenne auch ich die Unterschiede zwischen NSDAP und SED, Drittem Reich und DDR.

Volkes Rolle wird teilweise schizophren konzipiert: Einerseits werden Plebiszite, Volksbefragungen, sogar bei Konservativen immer beliebter. Andererseits warnen (die zum Teil selben) Befürworter von Volksbefragungen vor „Populismus“. Je nach Erfolgsaussichten oder Ergebnissen Jubel oder Katzenjammer. 

Anschauungsunterricht boten allein 2009/2010: die Schweiz (Moscheen ohne Minarette), Hamburg (Schulpolitik), Bayern (Rauchverbot), Stuttgart 21. Die Geister, die sie riefen.
Volkes Stimme, Volkes Freiheit: Volkes Stimme als vox dei („Gottes Stimme“) oder vox populi, vox Rindvieh?

Ein ehemaliger SPD-Bundesminister belehrte mich: „Na wissen Sie, wenn Sie das Volk dazu fragen, dann…“ Dann, meinte er, geschähe der größte Unsinn. In dieser brutalen, volksverachtenden Offenheit habe ich das weder vorher noch nachher gehört.

Weniger brutal, aber inhaltlich identisch ist die Verwendung des Begriffes „Populismus“. Wir haben das gerade in den letzten Wochen erlebt. Die – natürlich guten – „Demokraten“ haben es dem – natürlich bösen – „Populisten“ gezeigt und nach der Verdammung seine „Verbannung“ eingeleitet.

Auch das erinnert an Antikes, Altbekanntes, Athenisches: den Ostrazismus.
Ostrazismus, das Scherbengericht, das die Volksversammlung, verstanden als Vollversammlung des Volkes, ganz demokratisch, in Freiheit, vollzog, wenn unliebsame Bürger aus dem politischen Leben des Staates entfernt und für zehn Jahre verbannt werden sollten. Eine Riesenmehrheit war dafür notwendig. Auch damit waren im antiken, basisdemokratischen, freien  Athen Demagogie und Denunziation Tür und Tor geöffnet. Weil Missbrauch, Manipulation und Beliebigkeit so offensichtlich waren, gab man dieses im Jahre 487 vor Christus eingeführte Verfahren der Mehrheitstyrannei in Freiheit nach siebzig Jahren auf.

Freiheit ist also mehr als Herrschaft der Mehrheit, denn nur als Herrschaft der Mehrheit kann Freiheit zur Tyrannei der Mehrheit umschlagen. Diesen Gedanken hat vor allem Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Klassiker „Über die Demokratie in Amerika“ beschrieben. Man lese vor allem Kapitel 9 über die „Allmacht der Mehrheit und ihre Wirkungen“, wo er auch die „Tyrannei der Mehrheit“ beschreibt.

Diesem Problem widmete sich der Brite John Stuart Mill 1859 in seinem zeitlos gültigen, immer noch utopischen Essay „Über die Freiheit“. Beim Wiederlesen dieses Textes hatte ich das Gefühl, John Stuart Mill beschriebe Deutschland, Anfang September 2010.
Einige Kerngedanken und -sätze seien vorgestellt.

„Überdies bedeutet der Wille des Volkes praktisch den Willen des zahlreichsten oder des aktivsten seiner Teile, nämlich der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als die Mehrheit anerkennen zu lassen.
Das Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu bedrücken, und Vorsichtsmaßnahmen dagegen sind ebenso geboten wie gegen jeden anderen Missbrauch der Gewalt.“

„Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich..“

Und weiter: „Dies also ist das eigentliche Gebiet der menschlichen Freiheit. Es umfasst als erstes das innere Feld des Bewußtseins und fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, ferner Freiheit des Denkens und Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und der Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer, wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur.“ 

Mill nennt noch die Freiheit in Wort und Schrift sowie die Gedankenfreiheit. „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ ließ Friedrich Schiller bereits 1787 den Marquis von Posa in „Don Carlos“ fordern. Noch etwas früher, 1780, hatte das deutsche Volkslied als Naturrecht festgestellt, was deutlich später deutsches Recht wurde: „Die Gedanken sind frei.“


Zurück zu John Stuart Mills: Nur wenn jemand die Gesellschaft unmittelbar bedrohe, haben Staat und Gesellschaft das Recht, einzugreifen. Ansonsten gelte die unbedingte Freiheit des Individuums vor und von Staat und Gesellschaft.
Atemberaubend ist das Kapitel „Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion“. Ich zitiere: 

„Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.“ 

„Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum und Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht.“


John Stuart Mill geht hier erheblich weiter als die gern zitierte Rosa Luxemburg. Diese hatte Lenin 1918 (zurecht) belehrt: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenken, sich zu äußern.“ Ihre rechtsterroristischen Mörder gewährten ihr nicht einmal das. 

Für „Rosa“ war Freiheit Umgangsform der Diskussion, für John Stuart Mill (und ich hoffe für uns alle) ist Freiheit Lebensform und Lebensinhalt. 



„Bis in den Tod“ wollte sich der 1788 gestorbene französische Aufklärer Voltaire für die Meinungsfreiheit einsetzen: „Du bist anderer Meinung als ich, und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen."



Soviel, in gebotener Kürze, zur Freiheit des Einen gegenüber Gesellschaft(smehrheit) und Staat. Was aber, wenn der Eine mit der Gesellschaftsmehrheit anders denkt, fühlt und Anderes will als „der“ Staat, „die“ Politik“ und „die“ medialen Multiplikatoren? 
Was, wenn eine dicke Mauer zwischen dem Einen mit dem Volk und der Minderheit aus Politik und Medien steht? Müssen dann der Eine plus Volk gegen diese Mauer aus Politik und Medien rennen?
Für jenen Einen wird, egal ob alle oder nur Teile von Politik und Medien sich auf ihn stürzen, das Leben mordsgefährlich. 

Subjektiv wollen Politik und Medien diese Gefahr natürlich nicht verursachen, doch objektiv sind sie Auslöser dieser tödlichen Gefahr. „Es war einmal“ im September 2010. Einen, hatte die Einheitsfront von Staat und Medien an den Pranger gestellt. Dem Einen stimmte weit mehr als das halbe Volk zu. Galt vox populi als vox Rindvieh? Einerlei.
Als unbeabsichtigte Folge bekam jener Eine Morddrohungen. Gegen die selbst herbeigerufenen Geister schützte nun derselbe Staat den vom Volk getragenen Einen durch ein riesiges Sicherheitsaufgebot, welches das Volk zahlt. 

Staatsphilosophisch war das erste, diesbezügliche Staatshandeln absurd, denn die vornehmliche Seinsberechtigung jedes Staates besteht darin, das Leben seiner Bürger nach innen und außen zu schützen und nicht die Geister zu rufen, die Bürger gefährden - einen, viele oder alle.

Zurück zum Problem Politik plus Medien gegen den Einen plus Volk: Verbarrikadieren sich jene hinter einer „Mauer“ und bewerfen scheinbar nur den Einen, tatsächlich aber das Volk mit Parolen und Pädagogik? So schaffen sie Duckmäusertum. 

Oder wollen sie sich ein neues, ihnen genehmes Volk, formen? Ihre Mauer wird dauerhaft so wenig halten wie die Chinesische und Berliner Mauer. Sie wird auch deshalb Risse bekommen, weil (wann?) einige (wer und wie viele?) der sich hinter der Mauer Verbarrikadierenden zum Volk überlaufen, um eine neue Partei (gar „Volkspartei“?) zu gründen.

Kann - ein anderes Bild -  jener Volksmeinungsstrom überhaupt noch kanalisiert werden? Auch Dämme brechen, nicht nur Mauern. Werden dann Staat, Politik und Medien nach dem Dammbruch durch Überflutung weggerissen? 
Historische Veränderungen können sich dann anbahnen: Unsere historisch gewachsene Freiheit basiert als Phänomen des „Überbaus“ auf der Grundannahme, dass gesellschaftliche Konflikte in den Institutionen, vor allem im Parlament, ausgetragen werden.

Dabei ersetzt das Wort die Waffe, und jede Partei vertritt nur einen Teil (lateinisch: pars, partis) des Volkes, und das Parlament repräsentiert (wörtlich „vergegenwärtigt“) in seiner Gesamtheit die ganze Gesellschaft.  

Was aber, wenn kein oder nur ein Volksteil durch Parteien im Parlament vertreten wird?
Möglich ist auch dann nur, was denkbar ist: Denkbar ist, siehe oben, die Gründung einer neuen Volkspartei oder, je nach Isolation von Politik und Medien, eine friedliche Revolution unter dem Motto: „Wir sind das Volk!“ Das soll es vor zwanzig Jahren in Deutschland schon einmal gegeben haben… Und auch damals hat keiner damit gerechnet.

Kommunismus: Von Anfang bis Ende Unfreiheit; unterschiedlich intensiv oder mörderisch. Kommunismus in Freiheit gab es nur in den Kibbutzim Israels, und die haben, weil frei, den Kommunismus längst abgeschafft.

Nationalsozialismus: Vor ihm die Freiheit. Der Freiheit seine Macht verdankend, schaffte der unverzüglich einsetzende NS-Terror eben diese Freiheit ab. Folgte das Volk den Freiheitsräubern? Eine Mehrheit von etwas mehr als 50 Prozent ja, bis zum Wendepunkt Stalingrad. 

In unserem Buch „Die Deutschen“ haben Thomas Brechenmacher und ich diese Entwicklung mit den Mitteln der von uns entwickelten „Historischen Demoskopie“ nachgezeichnet, empirisch quantifizierend belegt und historisch erklärt.

Über Unfreiheit und Verbrechen von Kommunismus und Nationalsozialismus ist eigentlich längst alles gesagt; auch über die nicht nur theoretisch mögliche „Tyrannei der Mehrheit“ in Freiheit.

Ich wollte unsere zeithistorischen und tagespoltischen Erfahrungen grundsätzlich verstehen, historisch und politisch-philosophisch: Vor allem die Situation, in der sich ein Einzelner und Volk(smehrheit) sowie Staat und Medien gegenüberstehen.

Der auch mich erschreckende, niederschmetternde Befund lautet: Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Mehrheit sind auch und sogar unter den Rahmenbedingungen der Freiheit unseres Grundgesetzes gefährdet.

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