Demokratie
und Populismus. Zwei Seiten derselben Medaille. Demokratie ist gut,
Populismus verächtlich. So bei uns die allgemeine Wahrnehmung und
Darstellung. Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist jeweils das Volk,
„Demos“ auf griechisch, „populus“ auf lateinisch. So gesehen, bestimmt
das Volk den jeweiligen Inhalt, sowohl in der Demokratie als auch im
Populismus.
Bezogen auf die
Demokratie gilt bei uns allgemein und ohne religiöse Schwingungen: „Die
Stimme des Volkes gleicht Gottes Stimme.“ Die Römer sagten „vox populi,
vox dei.“
Das Römer-Wort
„populus“ für „Volk“ ist bei uns negativ belegt und „Volkes Stimme“ im
„Populismus“ - unausgesprochen - so dargestellt: „Vox populi, vox
Rindvieh.“
Man muss sich
entscheiden: Gilt Volkes Stimme? Ist in der „Volksherrschaft“, ist in
der Demokratie, das Volk der kluge Souverän oder der Idiot vom Dienst?
Je nach Windrichtung und -stärke, wie es gerade passt, erst hü, dann
hott, 'mal ja, 'mal nein, das kann nicht sein. Das ist logisch Unsinn,
moralisch verwerflich und führt ins politische Chaos.
War
1933 die Machtübergabe an Hitler „populistisch“ oder „demokratisch“?
Seine Verbrecher-Partei war seit 1930 die stärkste in Deutschland und
bei den letzten halbfreien Wahlen vom 5. März 1933 stimmten knapp 44
Prozent für die NSDAP.
Weitere 8 Prozent der Deutschnationalen sicherten
der NSDAP-DNVP-Koalition 52 Prozent der Wähler.
Eines
der damaligen Argumente zu Hitlers Gunsten lautete: Man könne eine, die
stärkste, demokratisch gewählte Partei nicht dauerhaft isolieren.Die
Folgen sind bekannt...
Ich frage
trotz all der Unterschiede: Wenn 1933 die Einbindung der wählermächtigen
NSDAP in die politische Verantwortung falsch war, warum ist dann die
Einbindung der 1989 nur umbenannten und ab 2004 teilerweiterten SED
richtig?
Seien Sie sicher, als Historiker und Nachfahre von
Holocaustüberlebenden, kenne auch ich die Unterschiede zwischen NSDAP
und SED, Drittem Reich und DDR.
Volkes
Rolle wird teilweise schizophren konzipiert: Einerseits werden
Plebiszite, Volksbefragungen, sogar bei Konservativen immer beliebter.
Andererseits warnen (die zum Teil selben) Befürworter von
Volksbefragungen vor „Populismus“. Je nach Erfolgsaussichten oder
Ergebnissen Jubel oder Katzenjammer.
Anschauungsunterricht boten allein
2009/2010: die Schweiz (Moscheen ohne Minarette), Hamburg
(Schulpolitik), Bayern (Rauchverbot), Stuttgart 21. Die Geister, die sie
riefen.
Volkes Stimme, Volkes Freiheit: Volkes Stimme als vox dei („Gottes Stimme“) oder vox populi, vox Rindvieh?
Ein
ehemaliger SPD-Bundesminister belehrte mich: „Na wissen Sie, wenn Sie
das Volk dazu fragen, dann…“ Dann, meinte er, geschähe der größte
Unsinn. In dieser brutalen, volksverachtenden Offenheit habe ich das
weder vorher noch nachher gehört.
Weniger
brutal, aber inhaltlich identisch ist die Verwendung des Begriffes
„Populismus“. Wir haben das gerade in den letzten Wochen erlebt. Die –
natürlich guten – „Demokraten“ haben es dem – natürlich bösen –
„Populisten“ gezeigt und nach der Verdammung seine „Verbannung“
eingeleitet.
Auch das erinnert an Antikes, Altbekanntes, Athenisches: den Ostrazismus.
Ostrazismus,
das Scherbengericht, das die Volksversammlung, verstanden als
Vollversammlung des Volkes, ganz demokratisch, in Freiheit, vollzog,
wenn unliebsame Bürger aus dem politischen Leben des Staates entfernt
und für zehn Jahre verbannt werden sollten. Eine Riesenmehrheit war
dafür notwendig. Auch damit waren im antiken, basisdemokratischen,
freien Athen Demagogie und Denunziation Tür und Tor geöffnet. Weil
Missbrauch, Manipulation und Beliebigkeit so offensichtlich waren, gab
man dieses im Jahre 487 vor Christus eingeführte Verfahren der
Mehrheitstyrannei in Freiheit nach siebzig Jahren auf.
Freiheit
ist also mehr als Herrschaft der Mehrheit, denn nur als Herrschaft der
Mehrheit kann Freiheit zur Tyrannei der Mehrheit umschlagen. Diesen
Gedanken hat vor allem Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts
in seinem Klassiker „Über die Demokratie in Amerika“ beschrieben. Man
lese vor allem Kapitel 9 über die „Allmacht der Mehrheit und ihre
Wirkungen“, wo er auch die „Tyrannei der Mehrheit“ beschreibt.
Diesem
Problem widmete sich der Brite John Stuart Mill 1859 in seinem zeitlos
gültigen, immer noch utopischen Essay „Über die Freiheit“. Beim
Wiederlesen dieses Textes hatte ich das Gefühl, John Stuart Mill
beschriebe Deutschland, Anfang September 2010.
Einige Kerngedanken und -sätze seien vorgestellt.
„Überdies
bedeutet der Wille des Volkes praktisch den Willen des zahlreichsten
oder des aktivsten seiner Teile, nämlich der Mehrheit oder derjenigen,
denen es gelingt, sich als die Mehrheit anerkennen zu lassen.
Das
Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu
bedrücken, und Vorsichtsmaßnahmen dagegen sind ebenso geboten wie gegen
jeden anderen Missbrauch der Gewalt.“
„Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich..“
Und
weiter: „Dies also ist das eigentliche Gebiet der menschlichen
Freiheit. Es umfasst als erstes das innere Feld des Bewußtseins und
fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, ferner Freiheit des
Denkens und Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und der
Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer,
wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur.“
Mill nennt
noch die Freiheit in Wort und Schrift sowie die Gedankenfreiheit. „Sire,
geben Sie Gedankenfreiheit!“ ließ Friedrich Schiller bereits 1787 den
Marquis von Posa in „Don Carlos“ fordern. Noch etwas früher, 1780, hatte
das deutsche Volkslied als Naturrecht festgestellt, was deutlich später
deutsches Recht wurde: „Die Gedanken sind frei.“
Zurück
zu John Stuart Mills: Nur wenn jemand die Gesellschaft unmittelbar
bedrohe, haben Staat und Gesellschaft das Recht, einzugreifen. Ansonsten
gelte die unbedingte Freiheit des Individuums vor und von Staat und
Gesellschaft.
Atemberaubend ist
das Kapitel „Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion“. Ich
zitiere:
„Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur
dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze
Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als
er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.“
„Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit,
Irrtum und Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann
verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere
Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den
Widerstreit mit dem Irrtum entsteht.“
John
Stuart Mill geht hier erheblich weiter als die gern zitierte Rosa
Luxemburg. Diese hatte Lenin 1918 (zurecht) belehrt: „Freiheit ist immer
die Freiheit des Andersdenken, sich zu äußern.“ Ihre
rechtsterroristischen Mörder gewährten ihr nicht einmal das.
Für „Rosa“
war Freiheit Umgangsform der Diskussion, für John Stuart Mill (und ich
hoffe für uns alle) ist Freiheit Lebensform und Lebensinhalt.
„Bis in
den Tod“ wollte sich der 1788 gestorbene französische Aufklärer Voltaire
für die Meinungsfreiheit einsetzen: „Du bist anderer Meinung als ich,
und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen."
Soviel,
in gebotener Kürze, zur Freiheit des Einen gegenüber
Gesellschaft(smehrheit) und Staat. Was aber, wenn der Eine mit der
Gesellschaftsmehrheit anders denkt, fühlt und Anderes will als „der“
Staat, „die“ Politik“ und „die“ medialen Multiplikatoren?
Was, wenn eine
dicke Mauer zwischen dem Einen mit dem Volk und der Minderheit aus
Politik und Medien steht? Müssen dann der Eine plus Volk gegen diese
Mauer aus Politik und Medien rennen?
Für
jenen Einen wird, egal ob alle oder nur Teile von Politik und
Medien sich auf ihn stürzen, das Leben mordsgefährlich.
Subjektiv wollen
Politik und Medien diese Gefahr natürlich nicht verursachen, doch
objektiv sind sie Auslöser dieser tödlichen Gefahr. „Es war einmal“ im
September 2010. Einen, hatte die Einheitsfront von Staat und Medien an
den Pranger gestellt. Dem Einen stimmte weit mehr als das halbe Volk zu.
Galt vox populi als vox Rindvieh? Einerlei.
Als
unbeabsichtigte Folge bekam jener Eine Morddrohungen. Gegen die selbst
herbeigerufenen Geister schützte nun derselbe Staat den vom Volk
getragenen Einen durch ein riesiges Sicherheitsaufgebot, welches das
Volk zahlt.
Staatsphilosophisch war das erste, diesbezügliche
Staatshandeln absurd, denn die vornehmliche Seinsberechtigung jedes
Staates besteht darin, das Leben seiner Bürger nach innen und außen zu
schützen und nicht die Geister zu rufen, die Bürger gefährden - einen,
viele oder alle.
Zurück zum
Problem Politik plus Medien gegen den Einen plus Volk: Verbarrikadieren
sich jene hinter einer „Mauer“ und bewerfen scheinbar nur den Einen,
tatsächlich aber das Volk mit Parolen und Pädagogik? So schaffen sie
Duckmäusertum.
Oder wollen sie sich ein neues, ihnen genehmes Volk,
formen? Ihre Mauer wird dauerhaft so wenig halten wie die Chinesische
und Berliner Mauer. Sie wird auch deshalb Risse bekommen, weil (wann?)
einige (wer und wie viele?) der sich hinter der Mauer
Verbarrikadierenden zum Volk überlaufen, um eine neue Partei (gar
„Volkspartei“?) zu gründen.
Kann
- ein anderes Bild - jener Volksmeinungsstrom überhaupt noch
kanalisiert werden? Auch Dämme brechen, nicht nur Mauern. Werden dann
Staat, Politik und Medien nach dem Dammbruch durch Überflutung
weggerissen?
Historische Veränderungen können sich dann anbahnen: Unsere
historisch gewachsene Freiheit basiert als Phänomen des „Überbaus“ auf
der Grundannahme, dass gesellschaftliche Konflikte in den Institutionen,
vor allem im Parlament, ausgetragen werden.
Dabei ersetzt das Wort die
Waffe, und jede Partei vertritt nur einen Teil (lateinisch: pars,
partis) des Volkes, und das Parlament repräsentiert (wörtlich
„vergegenwärtigt“) in seiner Gesamtheit die ganze Gesellschaft.
Was
aber, wenn kein oder nur ein Volksteil durch Parteien im Parlament
vertreten wird?
Möglich ist
auch dann nur, was denkbar ist: Denkbar ist, siehe oben, die Gründung
einer neuen Volkspartei oder, je nach Isolation von Politik und Medien,
eine friedliche Revolution unter dem Motto: „Wir sind das Volk!“ Das
soll es vor zwanzig Jahren in Deutschland schon einmal gegeben haben…
Und auch damals hat keiner damit gerechnet.
Kommunismus:
Von Anfang bis Ende Unfreiheit; unterschiedlich intensiv oder
mörderisch. Kommunismus in Freiheit gab es nur in den Kibbutzim Israels,
und die haben, weil frei, den Kommunismus längst abgeschafft.
Nationalsozialismus:
Vor ihm die Freiheit. Der Freiheit seine Macht verdankend, schaffte der
unverzüglich einsetzende NS-Terror eben diese Freiheit ab. Folgte das
Volk den Freiheitsräubern? Eine Mehrheit von etwas mehr als 50 Prozent
ja, bis zum Wendepunkt Stalingrad.
In unserem Buch „Die Deutschen“ haben
Thomas Brechenmacher und ich diese Entwicklung mit den Mitteln der von
uns entwickelten „Historischen Demoskopie“ nachgezeichnet, empirisch
quantifizierend belegt und historisch erklärt.
Über
Unfreiheit und Verbrechen von Kommunismus und Nationalsozialismus ist
eigentlich längst alles gesagt; auch über die nicht nur theoretisch
mögliche „Tyrannei der Mehrheit“ in Freiheit.
Ich
wollte unsere zeithistorischen und tagespoltischen Erfahrungen
grundsätzlich verstehen, historisch und politisch-philosophisch: Vor
allem die Situation, in der sich ein Einzelner und Volk(smehrheit) sowie Staat und
Medien gegenüberstehen.
Der
auch mich erschreckende, niederschmetternde Befund lautet: Die Freiheit
des Einzelnen und die Freiheit der Mehrheit sind auch und sogar unter
den Rahmenbedingungen der Freiheit unseres Grundgesetzes gefährdet.
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