Sonntag, 9. Februar 2014
Allmählich
Leopold von Mildenstein
A Nazi travels to Palestine
Diese merkwürdige Geschichte liest sich fast ein bisschen wie gewisse Kindheitsträume, die mein Vater in mir geweckt hatte.
Ich ging noch zur Volksschule, ich muss 8 oder 9 gewesen sein. An einem Nachmittag hatten wir in der Aaanlaach bei den Kriegsdenkmälern gespielt. Mathias hatte etwas von den Juden gemurmelt. Ich wusste damals nicht, was Juden waren, bzw. dass es auch in unserer Zeit welche gab und nicht nur zur Zeit von Jesus oder vor Jahrhunderten (oder Jahrtausenden?), als sie auf dem alten Judenfriedhof mit den Grabsteinen, auf denen man die hebräischen Inschriften sah) begraben wurden.
Ich schaute mir die Kriegsdenkmäler an, aber auf diesen Kriegsdenkmälern des 1. Weltkrieges und des Krieges von 1870/71 fand ich keine Anhaltspunkte (erst Jahrzehnte später erfuhr ich, dass auf diesen Kriegerdenkmälern durchaus auch jüdische Gefallene namentlich genannt werden: Veit und Meier Oppenheimer für 1870/71, Oskar, Fritz und Emil Oppenheimer, Ludwig Heimann und Hugo Mannheimer).
Ich verstand nicht, was Mathias meinte. Er hatte offensichtlich mehrerlei Gehörtes durcheinandergebracht. Aber das wusste ich damals noch nicht. Mathias hatte aber auch das Wesentliche richtig verstanden: dass es sich in beiden Fällen um Opfer handelte. Und dass die altertümlichen Steingebilde mit den Namenstafeln im Park an etwas Wichtiges erinnerten, das ein bisschen unheimlich war und Herzklopfen verursachte.
Später mit den Eltern in der Küche, fragte ich, was "mit den Juden los sei". Vati erklärte mir, sie seien ein Volk von Fremden, die nicht dem Gemeinwohl dienten, sondern nur auf unsere Kosten an ihr eigenes Interesse dachten und untereinander zusammenhielten und Deutschland deshalb verlassen mussten, "als Adolf Hitler kam" und im Osten, "wo viel Platz war" siedeln sollten. Ich wunderte mich, weil es nicht so recht zu dem passen wollte, was Mathias zu wissen schien. Der hatte sich wohl geirrt.
Im Lauf der Zeit hallten Vatis Worte in meinem Gedächtnis nach. Wie eine Geschichte, die sich zusammen mit den Juden in den Weiten der asiatischen Steppe verlor. Während des letzten Sommers an der Volksschule, an einem schönen Sommertag, begann plötzlich der 6-Tagekrieg. Jemand sprach sofort davon, dass dieser Krieg zum Dritten Weltkrieg werden könnte. Ich freute mich, weil meine Familie eine Flüchtlingsfamilie war, meine Geschwister dabei gewesen waren und ich manchmal zu spüren bekam, dass ich eigentlich nicht dazugehörte, sondern nur geduldet war. Diesmal würde ich auch dabei sein. Dabei sein ist alles. Ich dachte, die Juden, die diesen Krieg führten, waren die Nachkommen der Juden, die dort seit biblischen Zeiten lebten. Es gab sie also immer noch. Aber was hatten sie mit denen zu tun, die Adolf Hitler weggeschickt hatte, damit sie in der Steppe siedeln, die urbar gemacht werden musste? Und was hatte mein Vater gegen Israel?
Nun vergingen noch ein paar Jahre. Ich las schon Kishon, als ich immer noch nicht von der Shoah gehört hatte. In diesen Jahren reimte ich mir zusammen, mein Vater habe sich wohl geirrt, und die Juden seien einfach nach Israel zurückgekehrt, als ihnen in Deutschland gekündigt wurde, statt die Steppe urbar zu machen. Als ich das erste Mal von der Ausrottung der Juden hörte, war ich 15. Das war 6 oder 7 Jahre nach dem Nachmittag in der Aanlaach. Mathias hatte doch irgendwie recht gehabt damals.
Fest steht: 1. man wollte sie nicht, und sie mussten gehen, und wenn sie nicht freiwillig gingen, dann wurden sie gegangen. 2. egal ob die Steppe urbar gemacht werden sollte oder die Wüste bewässert werden sollte, man nahm billigend in Kauf, dass die Juden, die man in Deutschland aus dem Fenster warf, in Asien den Steppenvölkern oder in Palästina den Beduinen auf den Schultern landeten oder auf den Kopf fielen oder beim Aufprall das Genick brachen oder die Leber platzen ließen, in die Eingeweide fallen mussten, die Knochen brechen mussten, mitten ins Gesicht einschlugen. Ob in der Steppe, ob in Madagaskar oder in Palästina, und ob er es wollte oder nicht, Hitler verursachte den Jüdischen Staat. Herzl - und vor Herzl Napoleon - hatte die Idee, Hitler machte ihre Verwirklichung endgültig nötig. 3. alle, aber wirklich ausnahmslos alle, Deutschen wussten, DASS die Juden aus dem Fenster geworfen wurden, und dass es sich hierbei nicht um jüdische Propaganda handelte oder um sowjetische Propaganda oder amerikanische Propaganda, sondern um das, was ALLE vor Augen hatten, wussten und offensichtlich zu vielen auch begrüßten (Hand aufs Herz, wer zweifelt wirklich daran, dass die Mehrheit nicht das mindeste Bedauern verpürte). 4. dass sie irgendwo verblieben sein mussten und nicht "einfach vom Erdboden verschluckt worden" sein konnten, ist so logisch, dass selbst ein Kind von 8 oder 9 Jahren selbst 25 Jahre danach noch von alleine drauf kam. 5. der Patenonkel meiner Schwester war Offizier im Führerhauptquartier und ist die einzige Person, von der Jahrzehnte lang ein Fotoportrait in NS-Uniform bei uns an der Wand hing, zuerst in Vatis Arbeitszimmer, später über der Couch im Wohnzimmer.
Ich liebte Vati sehr, und er liebte mich sehr. Aber ich wäre fast erstickt an dieser Liebe. Als er mir sagte, er glaube nicht, dass die Juden vergast worden seien und halte diese Behauptungen für Propagandalügen, war ich 15 Jahre alt. Für mich brach nicht eine, sondern die Welt zusammen. Ich war plötzlich mutterseelenallein auf der Welt: ich stand den harschen Behauptungen meiner eigenen Mutter völlig hilflos gegenüber (sie verachte diejenigen, die diese Lügen glaubten, sagte sie mir mit unnachgiebiger Härte und einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie keine Widerrede und nicht einmal die erneute Erwähnung der Thematik dulden würde).
Nun, ich bin nolens non volens omnino zu dem Schluss gekommen, dass ich diejenigen verachten muss, die angesichts derartig ungeheuerlicher Anschuldigungen in den 70-er Jahren der Bundesrepublik - also lange nach Kriegsende und 10 Jahre nach den Auschwitzprozessen und Fritz Bauers Tod - nicht nur "wir wussten von nichts" nachplappern, wenn es ernst wird, oder "was hätte man denn dagegen tun können", sondern im Widerspruch hierzu grimmig und leicht fertig an der These der Propagandalüge festhalten und lieber ihren eigenen Sohn belügen ("uns kannst du glauben, wir waren schließlich dabei") und kaltschnäuzig Ausflüchte herbeilügen, statt alles in ihrer Macht stehende zu tun, um herauszufinden, was wirklich geschehen sein muss und was wirklich erlogen sein könnte.
Meine Geschwister waren bereits erwachsen und hatten eigene Familien. Sie ließen mich nicht nur im Stich, sie verhielten sich gegenüber der Darstellung der Realität, die unsere Eltern vertraten, völlig konform. Deren ungeheuerliche Behauptungen blieben unwidersprochen und wurden thematisch ausnahmslos sogar flankiert. Immer duckmäuserisch um den Brei herum, aber dafür umso linientreuer, sowohl im Allgemeinen wie im Detail. Und sobald der grausame Konflikt, der sich durch ihre dreisten Behauptungen und Innominabilitätsforderungen zwischen mich und meine alten Eltern gegraben hatte, irgendwie spürbar oder manifest wurde, war die Reaktion meiner Geschwister nie vermittelnd, sondern eine willkommene Gelegenheit, die klaffende Wunde noch weiter aufzureißen. Dass mein Bruder seinen eigenen Kindern - um wie in einer Art Dominoeffekt, den ohnehin langbeinigen Lügen auch noch Stelzen zu reichen - später vorlog "er habe immer zwischen mir und meinem Vater vermitteln wollen" ist ein derartiger Gipfel der Niedertracht, dass ich ihn eigentlich dafür wegen sadistischer Maßnahmen gegenüber einem Minderjährigen zum Zweck der Einschüchterung im Rahmen einer ideologisch motivierten Rufmordkampagne anzeigen müsste.
Erst sehr viel später, als die Kinder meiner Geschwister heranwuchsen und meine Geschwister nicht völlig auf Kollisionskurs mit deren Schulbildung gehen wollten, weil sie die Gefahr einer Entfremdung der eigenen Kinder spürten, machten sie merkwürdig gewundene, halbherzige Zugeständnisse (aber auch dies nie in meiner Anwesenheit oder gar in Anwesenheit meiner Eltern), durch die die Ehre der Großeltern ins Wunderliche gebettet wurde.
Der unglaubliche Druck, dem ich durch den Schulunterricht der 70-er Jahre, der sich den Worten meiner Eltern in Vielem diametral entgegenstellte, ausgesetzt war, war meinen Geschwistern völlig gleichgültig. Keine Sekunde Mitgefühl, Trost oder Verständnis. Im Gegenteil.
Sie selber waren in den 50-ern zur Schule gegangen und konnten relativ unbekümmert das Weltbild ihrer Eltern 1:1 übernehmen. Meine Schwester war während meiner Schulzeit die einzige, die manchmal witterte, dass ich Sinnangeboten ausgesetzt war, die mich verstörten, aber sie genoss es, wenn ich mich in einem quälenden Zwiespalt zwischen Eltern und Schule befand und auch sie neigte damals eher dazu, den Kontrast zusätzlich zu verschärfen, als mir vermittelnd zu helfen.
Bereits Jahre bevor die Juden ein Thema werden konnten, hatte mein Bruder mich augenblicklich verstoßen, als er zum ersten Mal argwöhnte, ich könnte aufhören, ihn bewundernd anzuhimmeln. Als dieses Thema dann über mein Leben hereinbrach, war bereits seit Jahren klar, dass ich nicht auf ihn zählen konnte. Heute liquidiert er seine seit damals bestehende Schuld mit der anmaßenden Bemerkung, ich sei "in der Pubertät stecken geblieben." Einsichtig werden, zugeben, was er mir im Lauf der Jahrzehnte angetan hat, oder sich gar dafür entschuldigen wird er nie.
Er kam sich anscheinend sehr besonnen und sachlich vor, als er unseren Vater einmal auf Arthur Rubinsteins Talent aufmerksam machte, und ihm nahelegte, "das müsse man doch anerkennen". Aber Vati war nicht wohl bei dem Gedanken, von seinem überzeugten Antisemitismus eine Ausnahme für einen besonders erfolgreichen Juden zu machen, bloß weil der so gut Klavier spielte.
Denkmäler
Wir sind im 17. und im 20. Jahrhundert besonders grausam gewesen. Wie gefährlich es, auch wenn man sehr talentiert ist, sein kann, wenn man mit Mitgefühl und Wahrhaftigkeit ernst macht, kann man an Ingeborg Bachmann beobachten.
Belügt eure Kinder nie!! Da es aber immer wieder mal vorkommen wird, dass Ihr ihnen einen Teil der Wahrheit verschweigt, weil Ihr sie für noch zu jung für die ganze Wahrheit haltet, führt bitte genau über diese Versäumnisse Buch. In einer Art Tagebuch, das Ihr ihnen aushändigt, wenn sie 25 Jahre alt sind. Damit aus dem Verschwiegenen Vertagungen werden und keine Versäumnisse. Denn man kann die Worte, die sich dem eigenen Kind unvergesslich ins Herzgraben, selber leicht vergessen.
Wir haben jetzt zwar keinen Völkermord zu bewältigen, aber die Forderungen die unsere Zeit an uns richtet, sind auch nicht ohne Verhängnisse, die uns alle an der Jacke zupfen und mit sich reißen wollen und sich später irgendwann gegen uns richten können.
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