Später 27. September 2015
Ziemlich genau auf den Tag vor 25 Jahren saß ich, weiland in Diensten der Ostberliner Tageszeitung Der Morgen, mit Heiner Müller beim Whisky und sprach mit ihm darüber, wie die damals ihrem staatlichen Vollzug entgegenstrebende deutsche Wiedervereinigung sich wohl im Rückblick nach einem Vierteljahrhundert ausnehmen würde. Der Dichter stellte eine erstaunlich exakte Prognose. Wie durch ein umgekehrtes Fernrohr, sagte er, würden wir dann – also heute – auf die Vereinigung zurückblicken, sehr fern und klein stünden die Probleme da, die wir gerade für wunder wie bedeutend hielten, denn längst werde eingetreten sein, was er "die Rache der Kolonien an den Metropolen" nannte (er war halt ein Linker, aber einer von der angenehmen Sorte); an die Stelle des Ost-West-Konfliktes werde bis dato ein Nord-Süd-Konflikt getreten sein, und die Menschenmassen Afrikas und des Orients würden einen gewaltigen Einwanderungsdruck auf Europa ausüben. Müller beschloss sein Orakel, indem er Herder über die Völkerwanderung zitierte mit den Worten: "Und dann war da nur noch das dunkle Getümmel ziehender Barbaren." –
P.S.: Das Zitat lautet übrigens korrekt und vollständig (und mich selber noch ein bisschen mehr betreffend): "Kurz, womit konnte die Disharmonie einer so schwachen, unruhigen, sich selbst widersprechenden Regierung als mit Barbarei und dem Tode aller vernünftigen, nützlichen Literatur endigen? Hier war kein Griechenland, kein Rom mehr; Europa war ein dunkles Getümmel ziehender Barbaren." (Johann Gottfried Herder: "Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaften auf die Regierung", 1780) Klonovsky am 27. 9. 2015
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