Stationen

Dienstag, 1. September 2015

Symbolistischer Realismus

Eine Erzählung

Im Abteil saßen drei Leute: auf der einen Seite zwei Frauen, auf der anderen ein alter Mann. Die Frauen, beide zwischen Mitte und Ende Vierzig, redeten miteinander, ohne sich darum zu kümmern, ob der Mann ihnen zuhörte. Wenn sie sich darum gekümmert hätten, würden sie bemerkt haben, dass er es tat, zumindest gelegentlich. Die andere Zeit schien er düsteren Gedanken nachzuhängen. Er hatte keine Möglichkeit, das Gespräch seiner Mitpassagierinnen völlig zu ignorieren, denn dafür redeten sie zu laut. So erfuhr der Alte (wobei man festhalten muss, dass dieser Mensch zwar vollständig ergraut, aber noch keine siebzig Jahre alt war), dass es sich bei seinen Mitreisenden um Soziologinnen beziehungsweise Familienforscherinnen handelte, die zu einem Kongress fuhren, der unter dem Motto „Die Zukunft der Familie – die Familie der Zukunft“ stand.
    Beide Frauen waren ungeschminkt, trugen flache Schuhe, und beide hatten einen Rucksack dabei. Die eine war kurzhaarig, mit vielen bunten Strähnchen im Stoppelfeld ihres Kopfbewuchses, fast dürr, und auf ihrer gepiercten Nase saß eine extrem kleine runde schwarze Hornbrille. Sie trug Jeans und ein Jäckchen mit rotbuntem Würfelmuster. Die andere besaß langes, blondes Haar ohne erkennbare Frisur und war etwas rundlich, was aber bei ihrem weiten schwarzen Kleid nicht weiter auffiel. Der Mann wiederum trug einen altmodisch weiten, aber gepflegten dunklen Anzug. Er wirkte wie ein typischer Kleinstädter.
     Während draußen Felder, Wiesen, Waldreste und vereinzelte Gehöfte vorüberflogen, redeten die Frauen unausgesetzt, und zwar über die Zukunft der Familie. Wobei es um diese, wie der Alte nolens volens erfuhr, nicht besonders gut stand. In der Form, wie sie bisher existiert hatte, werde die Familie nicht mehr lange überleben, darin waren sich die beiden einig. Was den Alten ein bisschen wunderte, war der fröhliche Ton, in welchem sie diese doch eher traurige Feststellung trafen. Es war ein Ton selbstgefälliger Kennerschaft. Die Zukunft der Gesellschaft lag wie ein offenes Buch vor ihren Augen. Nach einer Weile hatte der mehr oder weniger heimliche Lauscher indes verstanden, dass es zwei Familien gab, die traditionelle und die moderne – Letztere auch als Patchworkfamilie bezeichnet –, und dass nur die traditionelle Form verschwinden werde. Dieses Verschwinden schienen die beiden Soziologinnen als einen großen Fortschritt zu betrachten. Die Partnerschaftsverhältnisse der Zukunft, versicherten sie sich wechselseitig, würden viel weniger starr sein, viel flexibler, und sie würden sich im Laufe eines Lebens mehrfach neu herstellen, je nach Konstellation und Zeitpunkt. Entscheidend sei, dass sich die Frauen nicht von den ersten Emanzipationserfolgen blenden ließen und weiter die Hälfte der Welt einforderten, zum Beispiel die Hälfte der Vorstandsposten in Unternehmen. Außerdem werde die Zukunft viel stärker von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften geprägt sein als heute.
    „Ich will in meinem Vortrag sagen: Blutsloyalitäten werden immer mehr durch soziale Loyalitäten ersetzt“, erklärte die Dünne.
    „Das ist gut!“ versicherte ihre Kollegin.
    „Entschuldigen Sie bitte“, sagte plötzlich der Alte, „ich weiß, es ist unhöflich, fremde Gespräche zu belauschen, aber ich hatte gar keine Wahl und fand Ihre Unterhaltung auch viel zu interessant, um wegzuhören – darf ich Sie etwas fragen?“
    „Worum geht’s denn?“, fragte die Blonde im schwarzen Kleid, während ihre Freundin ein Was-will-denn-der?-Gesicht aufsetzte.
    „Kommen in Ihren neuen Familien auch Kinder vor?“
    „Natürlich. Wie denn sonst?“, sagte die Blonde in einem Ton, als habe er sie etwas Ungehöriges gefragt. „Kinder gehören nun mal dazu.“
    „Aber brauchen Kinder nicht Vater und Mutter?“, fragte der Alte.
    „Kinder brauchen Bezugspersonen“, wurde er belehrt. „Je mehr sie davon haben, desto besser. Wenn die Mutter nach der Trennung mit einem neuen Partner zusammenlebt, dann hat das Kind auf einmal zwei Väter, den leiblichen und den neuen. Ich wüsste nicht, was daran schlecht sein sollte, im Gegenteil: Es lernt nun zwei Väterwelten kennen. Sein Horizont erweitert sich. Der traditionelle Käfig ist aufgebrochen. Zwei Väter, das ist schon beinahe Demokratie. Jedenfalls gibt es keinen Alleinherrscher mehr. Für die Intelligenzentwicklung der Kinder kann das nur gut sein. Schon früh begreifen sie, dass es keine starren Formen gibt und die Dinge im Fluss sind. Das fördert ihre Selbständigkeit. In fünfzig Jahren wird kein Mensch mehr verstehen, warum in unserer Zeit ein Problem daraus gemacht wurde.“
    „Außerdem steht nirgendwo geschrieben, dass Kinder nicht zwei Väter oder zwei Mütter haben können“, ergänzte die Dünne mit den bunten Haaren und schaute kampfbereit.
    „Nein?“ fragte der Alte. „Steht es nicht in der Bibel, in den großen Romanen, sogar im Gundgesetz...?“
    Während die Dünne die gepiercte Nase rümpfte, da sie diese Aufzählung wohl nicht sehr repräsentativ fand, erklärte die andere: „Dort steht viel von Vater und Mutter geschrieben gewiss, aber kein Wort darüber, dass es nicht alternative Formen geben darf. Außerdem: Die Zeiten ändern sich eben.“
    Der alte Mann nickte sinnend und traurig, und die beiden Zukunftskennerinnen wollten sich wieder ihrem Zwiegespräch zuwenden, als er sie neuerlich unterbrach mit den Worten: 
 
„Verzeihen Sie, wenn ich Sie belästige, aber vielleicht interessiert es Sie ja. Ich erlebe am eigenen Leibe oder wenigstens aus nächster Nähe, was Sie so fröhlich beschreiben: die Zerstörung der traditionellen Familie. Die Unwilligkeit der jungen Leute, es zusammen zu versuchen, es miteinander auszuhalten. Das Leiden der Kinder. Ich habe nichts kennenlernen dürfen, was diesen Zerfall auffängt – außer der Familie.“

    Er verstummte und schlug die Augen nieder. Eine Weile herrschte Schweigen im Abteil. Dann sagte der alte Mann: „Ich habe vier Kinder, einen Sohn und drei Töchter. Meine Töchter haben mir bisher drei Enkel geschenkt, ich müsste mich also glücklich schätzen. Zwei waren verheiratet und sind inzwischen geschieden. Mein Sohn, der Jüngste der Familie, ist als einziges meiner Kinder zur Zeit verheiratet. Allerdings mit einem Mann.“
    Zunächst hatten die beiden Frauen ihm so unfreiwillig zugehört, wie er zuvor ihnen. Nun belebte plötzlich Interesse ihre Mienen.
    „Wissen Sie, ich fahre nicht auf einen Kongress wie Sie, sondern ich hole meine Jüngste nach Hause. Sie hat vor sieben Monaten ihr Baby bekommen, und der Kerl hat sie sitzengelassen. Er ist einfach verschwunden, eines Abends nicht mehr heimgekommen, und sie weiß weder, wo er ist, noch wie sie die Wohnung bezahlen soll. Also hole ich sie nach Hause. Ich wohne in einem Provinznest, wissen Sie, die Nachbarn zerreißen sich die Mäuler, wenn die Tochter mit einem Baby und ohne Mann zurückkehrt. Alle drei Töchter haben unser Städtchen mit ihren Männern verlassen, und alle drei sind allein wieder zurückgekommen. Der Junge hat das Städtchen ebenfalls für einen Mann verlassen und ist nicht wiedergekommen. Von meinem Sohn, der verheiratet ist, werde ich nie einen Enkel bekommen. Von zweien meiner Töchter habe ich Enkel, aber der eine Vater ist asozial und lebensuntüchtig und nicht in der Lage, Alimente zu zahlen, der andere ist verschwunden, also auch asozial. Meine Älteste hat sich nur um ihre Karriere gekümmert und Kinder immer später haben wollen, deshalb ist ihr der Mann schließlich weggelaufen und hat sein Kind mit einer anderen gemacht. Vor drei Jahren hat sie versucht, sich umzubringen. Ist das Patchwork?“

    Die beiden Familienforscherinnen schwiegen vor so viel Empirie. Wer kann für Unglück?, dachte die Dünne.
    „Was macht Ihre älteste Tochter denn beruflich?“, erkundigte sich nach einer Bedenkzeit die Blonde.
    „Sie hat Finanzwesen studiert und ist Bankerin geworden. Sie war ziemlich weit oben in der Deutschen Bank in Frankfurt. Heute leitet sie unsere Kreissparkasse. Dazwischen lagen die Trennung und zwei Monate Krankenhaus. Sie hatte sich mit Tabletten vergiftet.“
    „Das ist ja furchtbar.“
    Der Erzähler nickte traurig.
    „Ihr Mann hat also ihr Leben zerstört“, stellte die Dünne trocken fest.
    „Nein, so war es nicht“, rief nun der Alte und hob beschwichtigend die Hände. „Er ist ein guter, bodenständiger Mann. Er hat es nicht ausgehalten, seine Frau nur an den Wochenenden zu sehen, und selbst dann war sie in Gedanken kaum bei ihm. Wissen Sie, die beiden hatten ein großes Haus und eine Oldtimer-Sammlung, aber kein gemeinsames Leben. Und keine Zukunft, außer noch mehr Oldtimern.“
    „Und Sie meinen, daran war Ihre Tochter schuld?“, bohrte die Dünne weiter.
    „Ach, Schuld!“, seufzte der Alte. „Es geht nicht um Schuld. Die Familie ist ja da, damit es einen Ort gibt, wo der eine die Last des anderen mitträgt, ohne dass der andere sich schuldig fühlen muss deswegen. Nicht dieses ewige Feilschen und Fordern, damit es ja überall gerecht zugeht. Man verwechselt gern die Worte gleich und gerecht. Dann ist es auf einmal ungerecht, dass die Frauen die Kinder bekommen.“
    „Aber Ihr Schwiegersohn“, ließ die Dünne nicht locker, „hätte doch die Kinder betreuen  können.“
    Der Alte lächelte müde und sagte: „Betreut hätte er sie am Ende auch. Aber selber bekommen konnte er sie nicht.“  
    Er schwieg. Die beiden Soziologinnen, die es für unhöflich gehalten hätten, ihr Gespräch einfach fortzusetzen, taten desgleichen. Der Zug ratterte gleichförmig dahin. Die Kurzhaarige entnahm ihrem Rucksack eine Flasche Bionade und zwei Plastikbecher.      
     „Magst du auch?“, fragte sie ihre Kollegin.
     Die schüttelte den Kopf und wandte sich stattdessen wieder an den Alten: „Wie haben Sie reagiert, als sie erfuhren, dass ihr Sohn homosexuell ist?“
    „Wie soll ich denn reagiert haben?“, erwiderte der achselzuckend. „Er ist mein Sohn. Da gibt es doch gar keine Wahl. Früher hat man geglaubt, es liege etwas Perverses in der Liebe zum gleichen Geschlecht. Ich war nie dieser Ansicht. Es ist vielleicht nicht natürlich, aber es lag in seiner Natur. Gott weiß, wie es da hineingekommen ist. Mein Junge ist doch kein schlechter Kerl...“
    „Natürlich nicht“, rief nun leicht maulig die Dünne. „Pervers ist es, jemandem aus seiner sexuellen Orientierung einen Vorwurf zu machen. Schließlich sind die meisten Menschen von Hause aus bisexuell. Es ist die Gesellschaft, die ihnen vorschreibt, Heterosexualität als normal zu empfinden.“
    „Ach ja?“, fragte der Alte. Ein bitterer und zugleich spöttischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Dann seien Sie mal froh, dass sich Ihre Eltern an die Vorschriften gehalten  haben.“

    Darauf fiel der Dünnen keine andere Antwort ein als ein empörtes Luftausstoßen durch die gepiercte Nase.
    „Und alle Töchter wohnen jetzt wieder bei Ihnen?“, lenkte die Blonde das Gespräch in eine andere Richtung.
    „Nein, ich hole jetzt nur die Jüngste und ihr Baby zu uns. Aber ihre ältere Schwester hat davor auch wieder zu Hause gewohnt, mit ihren beiden Kindern. Der Vater ist ein Unglücksrabe, alles, was er anpackt, misslingt ihm. Er hat nicht mal die Alimente zahlen können. Aber die Kinder lieben ihn. Er besitzt großen Charme, müssen Sie wissen, er ist ein sympathischer Tunichtgut, die Frauen mögen ihn, und deshalb ist ihm meine Tochter auch weggelaufen. Kein Geld und fremdgehen, das war ihr einfach zu viel.“
    „Da hat sie vollkommen Recht“, beteuerte die Dünne.
    „Vielleicht, ja“, sagte mit sinnendem Blick der Erzähler. „Aber es kam ja noch schlimmer. Sie lebt inzwischen mit einem pakistanischen Muslim, der hier studiert hat und nun mit ihr und den Kindern in seine Heimat ziehen will. Sie hatte vorher schon einen Knacks von ihren gescheiterten Beziehungen, ihr Mann hat ihr den Rest gegeben, und nun ist sie ihm anscheinend vollkommen hörig geworden. Mein Kind trägt heute einen Schleier, betet Koransuren und wirft sich fünfmal täglich auf den Boden vor einem Typen namens Allah. Und wenn ihr neuer Freund sagt, hör’ auf zu arbeiten, hört sie auf zu arbeiten. Und wenn er sagt, hör’ auf, dich mit Freundinnen zu treffen, bleibt sie zu Hause. Sie können sich ausmalen, wie dieser Mann reagiert, wenn der leibliche Vater die Kinder sehen will. Kann sein, dass meine Enkel bald tausende Kilometer von mir entfernt leben und ich sie nie mehr wiedersehe.“
    Seine Kehle begann sich zuzuschnüren, so dass der höhnisch nachgeschobene Ausruf „Patchwork!“ kaum zu verstehen war.
    Er schwieg und starrte blicklos vor sich auf den Boden.
    „Ein muslimischer Mann“, sagte die Blonde gedämpft. „Behandelt er sie denn schlecht?“
    „Er ist kein Extremist, wenn Sie das meinen“, antwortete der Alte, „er trägt nicht mal einen Bart und kleidet sich eher westlich. Aber er hat sehr genaue Vorstellungen davon, wie ein Leben im Dienste Allahs aussieht. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde, wenn meine Tochter es wagen würde, ihm jemals zu widersprechen.“
    „Aber können Sie Ihre Tochter nicht von diesem Mann wegholen?“
    „Warum? Es ist ihr Wille, mit ihm nach seinen Regeln zu leben. Meine Frau und ich haben tagelang auf sie eingeredet – vergeblich. Sie ist wie vernarrt. Und wissen Sie, warum?“
    Zwei erwartungsvolle Augenpaare hefteten sich auf den Frager.
    „Weil er sie ernährt. Weil er sie beschützt. Weil er die Familie über alles stellt, mitsamt seiner verrückten Religion. Er würde sich sofort auf jeden stürzen, der sie oder Allah beleidigt. Er würde jeden umbringen, der sie zu berühren wagt. Sie liebt ihn, weil er ein Mann ist – und keiner dieser ewig unreifen, verantwortungslosen großen Jungs, die hier herumlaufen und nicht wissen, was sie wollen, ihren nächsten kleinen schäbigen Genuss ausgenommen. Auf die man sich nicht verlassen kann. Die Frau und Kinder sitzen lassen für irgendeine andere.“
    Die Dünne wollte etwas sagen, doch der alte Mann, dessen Körper sich im Zorn gestrafft hatte, gebot ihr mit einer plötzlich herrischen Geste, zu schweigen, und fuhr fort: „Sagen Sie jetzt nicht, dass die Männer schuld sind an der Misere. Die Frauen sind es genauso. Sie klagen, sie jammern, sie fordern, nie sind sie zufrieden. Heute ist eine Frau von einem Kind so geschafft, wie zu meinen Zeiten von fünfen nicht. Sie wollen emanzipiert sein, aber ihre alten Privilegien behalten. Sie wollen arbeiten, aber nicht zu viel, sie wollen Kinder, aber nicht schwanger werden, sie wollen, dass der Mann die Steuererklärung macht und gleichzeitig mit ihnen, wie es heute heißt, shoppen geht, sie wollen mit den Männern konkurrieren, aber die Männer dürfen sie nicht wie Konkurrentinnen behandeln. Der Mann soll nach außen ein Kerl sein, der die anderen unterbuttert, und sich daheim den Launen der Frau unterwerfen, die sie für Gefühle ausgibt...
    Er hielt inne. Die beiden Soziologinnen hatten nicht die Kraft, diesem Ausbruch etwas entgegenzusetzen; ihnen fehlte der schützende Schreibtisch.
    „Ich finde es falsch“, fuhr der Redner jetzt ruhiger fort, und strich das schüttere Haar, das sich bei seinem Sermon etwas aufgelöst hatte, wieder nach hinten, „den jungen Leuten einzureden, dass es völlig normal ist, wenn sie sich trennen. Sie sollten verdammt noch mal ein schlechtes Gewissen haben. Die Menschen behandeln sich heutzutage wie Waren im Kaufhaus. Der Andere hat immer ein Verfallsdatum, oder die Garantie läuft ab, er hat plötzlich Macken, die nicht im Kaufvertrag und der Bedienungsanleitung standen. Dann eben weg mit ihm, nicht wahr? Es kommt ja wieder neue Ware ins Kaufhaus, unausgesetzt, jeden Tag. Wer will denn zeitlebens mit demselben Sofa leben? Auch wenn es mal das beste Stück war. Pech nur, wenn eines Tages das eigene Kapital alle ist. Und was Sie da vorhin sagten mit den Kindern, die hätten durch die vielen Trennungen mehr – wie sagten Sie? Bezugspersonen? –, das ist Unsinn, verzeihen Sie. Die Kinder verstehen das Warenspiel nämlich noch nicht. Sie haben keine Ahnung vom Verfallsdatum. Sie lieben einfach. Für sie gibt es nur Vater und Mutter. Ich sehe es an meinen Enkeln, wie schlimm es ist, wenn der Vater nicht mehr zu Hause wohnt. Wie es sie zerreißt... – Haben Sie Kinder?“
    Die beiden Familienforscherinnen schwiegen betreten.
    Der alte Mann nickte traurig und sah aus dem Fenster.
    „Ich bin seit 46 Jahren verheiratet“, sagte er schließlich, ohne den Blick wieder ins Innere des Abteils zu richten, so dass es schien, als spräche er mehr zu sich als zu seinen Zuhörerinnen. „Es war nicht immer leicht. Auch das Treusein nicht. Hunderte Nächte haben wir nicht schlafen können, weil ein Baby geschrieen hat oder eins der Kinder krank war. Und mit den Enkeln ging der Nachtstress weiter, weil ihre Mutter eine Ausbildung machen und arbeiten musste, der Mann konnte sie ja nicht ernähren. Ich glaube, ich bin das erstemal in meinem Leben im Ausland gewesen, als die beiden Ältesten volljährig waren. Wie habe ich mich gefreut, als die erste geheiratet hat. Was war ich glücklich, als die Enkel kamen. Und nun ist alles so schlimm geworden. Ein Scherbenhaufen.“
    Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
    „Und trotzdem“, sagte er leise. „Und trotzdem! Ich würde es nicht anders machen.“
    Über den Bordfunk wurde der nächste Halt angekündigt. Der alte Mann erhob sich schwerfällig.
    „Ich befreie Sie jetzt von meinem Gerede“, sagte er. „Verzeihen Sie nochmals, dass ich Ihnen das alles zugemutet habe. Es war nur, weil ich gehört hatte, dass Sie sich beruflich mit der Familie beschäftigen. Verzeihen Sie. Und viel Glück mit der eigenen!“
    Mit einem Köfferchen in der Hand verließ er das Abteil und zog die Tür hinter sich zu. Die Blonde sah ihm nach. Auf ihrer Stirn standen zwei senkrechte Falten, ihren Augen blickten nachdenklich, ihre Mundwinkel waren nach unten gesunken.
    „Bist du traurig wegen diesem alten Sack?“, fragte die Dünne. „Komm, gib mir einen Kuss.“


Diese Geschichte habe ich vor etwa zehn Jahren geschrieben. Sie ist nie veröffentlicht worden.
 
 
Man lese bitte den ersten Satz von Tolstojs "Anna Karenina".

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