Wahrscheinlich werden die Gottesdienste auch an diesem Heiligabend
gut besucht sein. Im vergangenen Jahr fand fast die Hälfte der
Bevölkerung den Weg in die Kirche. Und daran dürfte sich so bald nichts
ändern, Austritte, Glaubensverlust, Individualisierung und
Säkularisierung hin oder her.
Zwar ist der Grad der Entfremdung gegenüber dem eigentlichen
Geschehen im Altarraum und der Predigt von der Kanzel weit gediehen, und
selbst die Aufforderung eines Geistlichen, das Mobiltelefon
abzuschalten oder wenigstens das Dauerfilmen und Simsen zu unterlassen,
löst Verblüffung aus, aber trotzdem bleibt es in Deutschland dabei, daß
ein Großteil der Menschen das Gefühl hat, die Kirche gehöre Weihnachten
dazu.
Man kann das selbstverständlich „Fassadenchristentum“ (Dirk Schümer)
nennen und die Neigung unserer Nachbarn loben, die einfach stilvoll
genießen (vor allem die Romanen) oder laut und ausgelassen eine Art
Vorkarneval feiern (vor allem die Angelsachsen).
Bedeutungsverlust des Christentums
Aber es bleibt die Frage, ob das wirklich die angemessene Art und
Weise ist, mit den Resten jener „Innerlichkeit“ umzugehen, jener immer
gefühlvollen, manchmal sentimentalen und gelegentlich schwer
erträglichen Neigung, sich Weihnachten eine Stimmung zu erlauben, die
wohl tiefer verankert ist, als wir die übrige Zeit wahrhaben wollen. Die
mag weder mit Glauben noch mit der Geschichte von der Geburt des
Erlösers zu tun haben und auch nichts mit den alten Volksbräuchen. Aber
es bleibt eine Art Reservat für seltene Gefühle, etwas, das uns auf die
besondere Atmosphäre reagieren läßt und sich nicht nur in erhöhter
Spendenbereitschaft äußert oder der Entschlossenheit, beim
Familientreffen auch die weniger geschätzten Verwandten mit einem
freundlichen Wort zu bedenken.
Über den Bedeutungsverlust des Christentums kann das natürlich nicht
hinwegtäuschen. Der ist auch kein neues Phänomen. Ernest Renan, der aus
einem der frömmsten Winkel des Kontinents stammte, kam schon Mitte des
19. Jahrhunderts zu dem Ergebnis, daß es „keine gläubigen Massen“ mehr
gebe. Was die Aufklärung in den Eliten vorbereitet hatte, fand seine
Vollendung und seine Verbreitung bis in die letzte Hütte durch die große
Revolution und den wissenschaftlich-technischen Fortschritt.
Kirchliche Milieus verschwinden
Zwar kam nicht das Himmlische Jerusalem von Menschenhand, aber doch
eine Welt zustande, in der die alte Demut sich immer schwerer gegen die
neuen Verheißungen behauptete. Auch wenn man das Bild eines in seiner
Gläubigkeit geschlossenen Mittelalters eher romantischer Verklärung als
den Tatsachen zuschreibt, wird man die Tiefe des Bruchs nicht bestreiten
können.
Es hat immer wieder Versuche gegeben, den zu heilen, gutgemeinte und
zynische, ästhetische und politische, missionarische und argumentative,
praktische und versponnene. Erfolgreich war nichts davon, die
Entwicklung nicht aufzuhalten. Das, was die Älteren immerhin noch als
klar umrissenes kirchliches Milieu kannten, was einmal an
gesellschaftlichem Einfluß der großen christlichen
Religionsgemeinschaften vorhanden war, ist heute bis auf Reste
verschwunden.
Es gibt noch imposante, vor allem finanzielle, Bestände, aber das
alles besagt nichts über den tatsächlichen Grad an geistigem oder
geistlichem Einfluß. Dessen Verfall kann man zur Kenntnis nehmen und
achselzuckend zur Tagesordnung übergehen. Oder man versucht ein klareres
Bild zu gewinnen, indem man auf größere Distanz geht und einen Blick
auf das wirft, was das Christentum nicht nur für Deutschland, sondern
für die Geschichte Europas überhaupt bedeutet.
Die seelische Struktur unseres Kontinents
Ortega y Gasset hat davon gesprochen, daß die Einheit unseres
Kontinents niemals in einer äußeren – imperialen, katholischen,
ideologischen – Uniformität zu suchen war, sondern in einer hinter der
Vielfalt und dem kulturellen Reichtum schwerer erkennbaren, aber ohne
Zweifel vorhandenen „seelischen Struktur“.
Diese seelische Struktur ist älter als das Christentum, sie hat mit weit
in die Vergangenheit zurückreichenden Prägungen zu tun, mit kollektiven
Erfahrungen und entscheidenden Schritten auf dem europäischen
Sonderweg.
Das bezeugen die Monumente der Vergangenheit, von den Malereien in
den Höhlen von Lascaux und Altamira über die großen Steinsetzungen an
den Küsten des Atlantiks bis zu den goldglänzenden Rüstungen der
homerischen Helden. Von den Werken der griechischen Philosophie bis zu
den Schöpfungen römischer Staatsgesinnung, von der Erinnerung an das
Blut der Märtyrer bis zur Kühnheit der gotischen Kathedralen, die uns
heute noch beeindruckt. Vom faustischen Geist der Entdecker, Erfinder,
Unternehmer, Staatengründer, Feldherrn und Revolutionäre bis zu den
Gedanken der Einsamen und Gescheiterten, die versucht haben, das Wesen
des Menschen immer neu zu ergründen.
Was macht Europa aus?
Heute droht nicht nur das Christentum zu verlöschen, sondern auch das
Bewußtsein dieser europäischen Identität. Identität kann nicht sein,
was Religion ihrem Wesen nach ist. Aber sie kann Gewißheit bieten im
Hinblick auf das, was wir sind, wohin wir gehören, worin die Würde
unserer besonderen Art zu denken und zu leben wurzelt. In der nächsten
Zukunft wird dieses knappe Gut hart umkämpft sein.
Deshalb müssen die Europäer klären, was sie ausmacht, worin ihre
Überlieferung besteht, was dazugehört, was nicht, was sich mit ihr
verknüpfen läßt, was nicht. Die Christen können und dürfen sich dem
nicht entziehen. Ganz im Gegenteil, denn von ihnen ist nicht nur eine
geschärfte Wahrnehmung der Lage zu fordern, sondern auch ein besonderes
Maß an Entschlossenheit, das zu verteidigen, was zwar nicht zu den
letzten, aber doch zu den vorletzten Dingen gehört. Weißmann
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