Neugierig und voller Unschuld hatte der Zeitungsleser nach der
Rezeption des Schriftstellers Wilhelm Raabe gefragt. Die Antwort von
Marcel Reich-Ranicki war kurz, entschieden und haßerfüllt: Raabe sei in
Vergessenheit geraten. Das verwundere ihn – Reich-Ranicki – gar nicht,
denn Raabes Bücher hätten ihn – Reich-Ranicki – immer gelangweilt.
Bald würde sein – Raabes – Werk wohl
aufhören, »Stoff sogar für kümmerliche Germanisten zu sein«. Sein
populärster Roman sei zugleich sein »fragwürdigstes, wenn nicht
widerlichstes Buch: der antisemitische Roman Der Hungerpastor«.
Zwischendurch entschlüpfte Reich-Ranicki das Geständnis, Raabe »sei
vielleicht noch heute ein überschätzter Romancier«. Also doch kein
Vergessener! Der Großkritiker hatte lediglich seinen persönlichen
Exterminierungswunsch geäußert.
Der 1831 geborene, 1910 verstorbene Wilhelm Raabe ist die Kontrast-
und Komplementärfigur zum elf Jahre älteren Theodor Fontane. Dieser
hatte mehrere Jahre als Korrespondent aus London berichtet. Das
vergleichsweise provinzielle Preußen-Deutschland schilderte er aus der
Sicht des urbanen Weltmannes. Raabe dagegen beschrieb die Welt aus der
Perspektive der deutschen Provinz. Sein Blick ist weder sentimental noch
romantisierend, sondern distanziert und ironisch. Er fällt auf eine
ländlich-kleinstädtische Welt, die spätfeudal, patriarchalisch, voller
Skurrilitäten und Anachronismen ist, wo jedoch nichts an die
barbarischen Zustände erinnert, welche zur gleichen Zeit aus den
ländlichen Gegenden Rußlands mitgeteilt werden.
So übel das Leben den Figuren auch mitspielt, meistens gibt es eine
Instanz, die das Äußerste verhindert oder abmildert: die gutherzige
Junkerwitwe, den lebensklugen Pfarrer, den nachsichtigen Staatsanwalt.
In dieser Welt findet der Dorftrottel genauso sein Gnadenbrot wie das
exilierte Adelsfräulein oder der zahnlose Chevalier, die letzten
Überbleibsel des Ancien régimes. Die Welt mit ihren kleinteiligen
Landfetzen, spitzgiebligen Gassen, ihren Fluchtwinkeln und Verstecken
gerät langsam, aber sicher unter die Räder des Industriezeitalters. Die
Donnersätze aus dem Kommunistischen Manifest über die Zerstörung
der »feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse«, über die
zerrissenen »buntscheckigen Feudalbande« und die Substitution »der
zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten« durch »die eine
gewissenlose Handelsfreiheit« – Raabe hat sie auf die Lebenswirklichkeit
übertragen. Deshalb gehört er zu den großen deutschen Realisten des 19.
Jahrhunderts!
Doch Reich-Ranicki ging es ohnehin nicht um Literatur, sondern – wie
fast immer, wenn der Begriff »antisemitisch« hervorgeholt wird – um
Leidenschaften, um Deutungshoheit, um Macht.
Die Deutungshoheit ergibt
sich nicht aus dem besseren Argument. Entscheidend ist allein, wer über
die formellen und informellen Mittel – vor allem über den Zugriff auf
die Medien – verfügt, um festzulegen, welche Argumente und Redeweisen
benutzt werden dürfen und welche nicht. Dafür ist Reich-Ranicki selber
ein sprechendes Beispiel. Ungeniert nannte er im Jahr 2000 den
Historiker Ernst Nolte eine »trübe, ja verächtliche Figur der
Zeitgeschichte«. Als Martin Walser ihn 2002 im Roman Tod eines Kritikers als Literaturkritiker André Ehrl-König karikierte und auf seine Machtposition im Kulturbetrieb anspielte, brachte FAZ-Herausgeber
Frank Schirrmacher umgehend den Antisemitismus-Vorwurf gegen Walser in
Stellung. Allerdings verfügte Walser neben einzigartigen Verkaufszahlen
auch über einen Ruf als Vergangenheitsbewältiger der ersten Stunde
(»Unser Auschwitz«, 1965) und konnte den Frankfurter Anschwärzer zwingen
beizudrehen. Dennoch geriet die Affäre zum Lehrstück, denn keine
Handvoll deutscher Autoren verfügt außer Walser über die Mittel, um das
einmal verhängte, tödliche Antisemitismus-Stigma erfolgreich von sich zu
weisen.
Wie stets in seinen Werken erweist Raabe sich im 1864 erschienenen Hungerpastor als
Menschenfreund. Der Roman erzählt, beginnend im Jahr 1819, die
parallelen Lebenswege zweier Freunde. Der Schuhmachersohn Hans Unwirrsch
und Moses Freudenstein, Sohn eines aus Russisch-Polen zugewanderten
jüdischen Trödlers, wachsen in einer Kleinstadt auf. Moses wird von den
anderen Kindern gehänselt und gedemütigt, bis Hans sich vor ihn stellt.
Nach dem Abitur nimmt Hans ein Theologiestudium auf, Moses studiert
Philosophie. Er geht nach Paris, betätigt sich als Literat, konvertiert
zum Katholizismus und nennt sich fortan Dr. Theophil Stein. Um jeden
Preis will er Karriere machen und bespitzelt im Regierungsauftrag die
Emigrantenszene.
Nach Jahren führt der Zufall die beiden in dieselbe Stadt, wo
Unwirrsch bei einem Fabrikanten eine Anstellung als Hauslehrer gefunden
und (Freuden)Stein eine außerordentliche Professur in Aussicht hat. Die
Begegnung mit Unwirrsch mißfällt ihm, will er doch seine Herkunft
verbergen. Dank seiner Intelligenz und Gewandtheit erringt er eine
angesehene gesellschaftliche Position, die er nutzt, um den Ruf des
schwerblütigen und unbeholfenen Unwirrsch zu untergraben. Hinter seinem
Rücken verspottet er ihn als »Hungerpastor« und fädelt eine Intrige ein,
durch die dieser seine Anstellung verliert. Spät durchschaut Unwirrsch
den vermeintlichen Freund als »schlüpfrige, ewig wechselnde Kreatur«.
Freudenstein verführt die Fabrikantentochter und flieht mir ihr nach
Paris – in der Annahme, ihre Eltern damit zu zwingen, die Verbindung zu
legitimieren und ihm die Mitgift auszuzahlen. Doch wird seine Frau
enterbt, worauf er sie fallenläßt. Schließlich verliert Freudenstein die
Gunst seiner Auftraggeber und wird für bürgerlich tot erklärt.
Unwirrsch hingegen findet sein familiäres Glück und in einer kleinen
Pfarrei an der Ostsee eine Aufgabe, die ihn ausfüllt.
Der Hungerpastor enthält unübersehbare Schwächen, so die
manichäische Figurenkonstellation, in der sich die simple
Gegenüberstellung von Moral und Unmoral, von richtigem und falschem
Leben ausdrückt, oder der bigotte, lehr- und märchenhafte Schluß, wo der
Tugendhafte belohnt und der Böse bestraft wird. Das Vorbild für das
Arrangement war Gustav Freytags Roman Soll und Haben aus dem Jahr
1855. Ein Vergleich beider Bücher verdeutlicht freilich auch die
künstlerischen Vorzüge Raabes. Beide Autoren haben den Protagonisten
sprechende Namen verliehen. Bei Freytag heißen sie Anton Wohlfahrt und
Itzig Veitel, wodurch von Anfang an Werturteile suggeriert werden, die
die Sympathien des Lesers steuern. Der Name »Unwirrsch« dagegen
bezeichnet eine zunächst nachteilige Charaktereigenschaft. Die
moralische Überlegenheit des Namensträgers enthüllt sich erst während
der Romanhandlung.
Als Anton nach Jahren wieder auf Itzig trifft, tritt der ihm »hager,
bleich, mit rötlichem krausen Haar, in einer alten Jacke und defekten
Beinkleidern« entgegen, so »daß er einem Gendarmen ungleich
interessanter sein mußte als anderen Reisenden«. Auch sein Sprechen
bereitet Unbehagen: »Die Leute sagen, daß du gehst nach der großen
Stadt, um zu lernen das Geschäft. … ich gehe auch nach der Stadt, ich
will machen mein Glück.« Raabes Prosa ist unvergleichlich subtiler.
Moses Freudenstein alias Theophil Stein ist eine ausgesprochen elegante
Erscheinung. Zwar bedient auch er sich der jiddelnden Sprechweise, doch
bezeichnenderweise nur im Gespräch mit dem Vater, als der ihn darüber
belehrt, daß Bildung das beste Mittel sei, um den sozialen Aufstieg zu
erreichen und den Quälereien der Mitmenschen zu entkommen. Moses
verspricht ihm: »So will ich sitzen im Dunkeln und will lernen alles,
was es gibt, und wenn ich alles weiß und habe das Geld, so will ich es
ihnen in der Gasse vergelten, was sie mir tun.«
Genauso kommt es auch. Moses kann sich auf eine Reihe vorteilhafter
Eigenschaften und Talente stützen: Hans ist ein guter und fleißiger
Schüler, doch Moses ist ein Hochbegabter und bereits als Schüler zu
philosophischer Spekulation fähig. Es zeugt von der Meisterschaft
Raabes, daß er das Niveaugefälle zwischen den Freunden nicht einfach
nur behauptet, sondern durch Dialoge und Gesellschaftsszenen zur
Anschauung bringt. Der aus Paris zurückgekehrte Stein verfügt über
glänzende gesellschaftliche Fähigkeiten: Er ist weltgewandt, eloquent
und kann sich auf die unterschiedlichen Gesprächspartner leicht
einstellen. Er greift ihre unausgegorenen Gedanken auf, ordnet sie
blitzschnell und faßt sie in eine ansprechende Form, um sie ihnen als
ihr vermeintliches geistiges Eigentum zurückzugeben. Er manipuliert sie
durch Schmeichelei und macht sie sich gefügig. Loyalitäten gleich
welcher Art – persönliche, weltanschauliche, religiöse, nationale –
erwachsen ihm daraus nicht. Ihm gerät alles zum Material, um zu Geld und
Einfluß zu gelangen.
Rechtfertigt diese Negativ-Figur den oft erhobenen
Antisemitismus-Vorwurf gegen das Buch? Mit ihm steht Reich-Ranicki bei
weitem nicht allein. Sogar der wohlwollende Raabe-Biograph Werner Fuld
meint, der Schriftsteller sei zwar kein Antisemit gewesen, doch er habe
bereitwillig »die zeitgenössischen antisemitischen Vorurteile bedient
und befördert«. Synonymisch für »Vorurteil« werden auch Begriffe wie
»Klischee« und »Projektion« verwendet. Die Negativ-Figur des Moses
Freudenstein soll demnach auf einem falschen Bewußtsein beruhen.
Raabe hat um die Unzulänglichkeit des Hungerpastors gewußt und
im Rückblick von »Jugendquark« gesprochen. Den Vorwurf aber, das Buch
sei judenfeindlich, hat er stets zurückgewiesen. 1883 lehnte er den
Vorschlag, für eine Anthologie eine antisemitische Novelle beizusteuern,
entschieden ab. Im Text gibt es mehrere kommentierende Passagen, in
denen der auktoriale Erzähler klarstellt, daß er den Antisemitismus
ablehnt und froh darüber ist, daß die Judenfeindschaft wenigstens in
ihren ärgsten Formen der Vergangenheit angehört. Der definitive Beleg
dafür, daß Raabe den monströsen Charakter Freudensteins keineswegs für
die Inkarnation eines Ewig-Jüdischen hält, besteht darin, daß dessen
Vater der Schlag trifft, als er die Deformation des Sohnes durchschaut.
Interessanterweise hat Götz Aly in seinem neuen Buch, Warum die Deutschen? Warum die Juden?, dem Hungerpastor einige
Absätze gewidmet. Alys Streitschrift ist gleichfalls strikt manichäisch
konzipiert: Der kluge, erfolgreiche, zukunftsorientierte, kultivierte
Jude überrundet den tumben, rückständigen Deutschen, wird von diesem
beneidet, mit Ressentiments bedacht und am Ende umgebracht. Doch gibt es
auch luzide Passagen, in denen Aly das Verhalten und die Wahrnehmungen
der Deutschen aus der historischen Situation erklärt. Seine Überlegungen
zu Raabe (die mehr auf der Kenntnis von Sekundär- als Primärliteratur
beruhen) sind ein Kompromiß. Den Antisemitismus-Vorwurf gegen Raabe (und
Freytag) weist er zurück – mit der schwachen Begründung, außer Moses
Freudenstein seien alle jüdischen Figuren positiv gezeichnet.
Inkonsequent geht auch Raabe-Biograph Fuld vor, der zwar feststellt,
daß Moses Freudenstein für den zeitgenössischen Leser als »ein typischer
Jude« erscheinen mußte und der Figur eine historisch verbürgte,
»typische Karriere jener Zeit« (Hervorhebungen von Hinz) zugrunde liege,
den nächsten logischen Schritt aber scheut. Der bestünde in der
Erörterung der »typischen« Verhaltensweisen, die Raabe in der Figur des
Freudenstein verdichtet hat. In einem nächsten Schritt wäre danach zu
fragen, inwieweit sie einen sozialen Typus konstituieren und mit der
jüdischen Herkunft zu tun haben.
So wird behauptet, die Darstellung von Vater Freudenstein sei
antisemitisch intendiert. Die Begründung: Körperhygiene und Maniküre
dieses im übrigen freundlichen Herrn lassen deutlich zu wünschen übrig.
Außerdem hat er zu Hause Gold versteckt, während er nach außen bemüht
ist, arm zu erscheinen. In Wahrheit werden diese Eigenheiten aus der
angedeuteten Ghetto-Vergangenheit verständlich. Eine vage Vorstellung
davon vermittelt Goethe in seiner Schilderung der Frankfurter
Judengasse, wo ihm »die Enge, der Schmutz, das Gewimmel« auffielen. Die
Heimlichtuerei in Gelddingen erklärt sich aus der Angst vor dem Pogrom.
Auf keinen Fall will Vater Freudenstein den Neid der Nachbarn erregen,
andererseits benötigt er für den Fall der Fälle eine leicht greifbare
Notreserve. Entscheidend ist jedenfalls, daß Raabe das Verhalten nicht
aus einer biologisch-rassischen Disposition, sondern aus geschichtlich
tradierten und persönlichen Erfahrungen ableitet.
Das gilt auch für Moses. Wenn dessen Vorzüge zum Negativen
ausschlagen, ist das eindeutig geschichtlich, sozial und psychologisch
begründet. Wer als Kind in diesem Maße gedemütigt und verfolgt wird,
müßte schon ein Heiliger sein, um sein Welt- und Menschenbild von dieser
Erfahrung freizuhalten. Der Geschlagene ist verschlagen geworden. Er
hat gelernt, sich zu verstellen, sich unsichtbar zu machen, zu heucheln,
sich taktisch zu unterwerfen, den Gegner hinterrücks zu Fall zu
bringen. Das ist für ihn die einzige Möglichkeit, aus der Opferstellung
herauszutreten. Sein Rachebedürfnis und sogar sein Verrat an Hans sind
psychologisch leicht zu erklären. Hans ist der Kronzeuge seiner
Demütigungen und ruft durch seine Gegenwart die qualvollen Erinnerungen
wieder herauf. Zugleich ist er ein Mitwisser, der Moses’ Geheimnis
jederzeit offenbaren kann. Der denkt gar nicht daran, doch an dessen
Anstand kann Moses nicht glauben. Die Illoyalität, Skrupellosigkeit und
die kalte Berechnung, mit der er seine Umwelt taxiert und ausbeutet,
bilden die Voraussetzungen für seinen Aufstieg. Die Figur, die Raabe
gezeichnet hat, ist also nicht als antisemitische Projektion, sondern
als das Ergebnis sozialer Interaktionen und deren künstlerische
Widerspiegelung zu betrachten. Eine »typische Karriere jener Zeit«.
In einem erweiterten Sinn agiert Freudenstein als Avantgardist der
kapitalistischen Moderne. Sein Interesse – und das der Juden überhaupt
–, die vormodernen Strukturen und Regeln zu beseitigen, ist absolut,
denn dadurch erst wird der Weg frei zu ihrer vollständigen Emanzipation.
Dabei verliert er das Gefühl für Takt und Tempo. Bei der Ver- und
Entführung der Fabrikantentochter läßt er außer acht, daß deren Mutter
einen Hierarchiebegriff adaptiert hat, dessen Strenge dem des Adels
gleichkommt und der es ihr verbietet, einen Aufsteiger unklarer Herkunft
als Schwiegersohn zu akzeptieren. Dieses temporäre Scheitern aber
bestätigt nur sein objektives Interesse.
Für die anderen bedeutete die kapitalistische Entwicklung – wie Marx
und Engels hervorhoben – zugleich eine Verlust- und Schadensbilanz. Das
machte ihr Verhältnis zu den Umwälzungen und zum »Fortschritt«
komplizierter und schwieriger. Sie waren eingebunden in lokale,
regionale und dynastische Loyalitäten, in Traditionen und
Gewohnheitsrechte, die neben gesellschaftlichen, politischen und
sozialen Einschränkungen auch einen Schutz boten vor der kalten
Rationalität des Geldes. Ihre innere und äußere Gebundenheit erwies sich
als Wettbewerbsnachteil gegenüber der unbegrenzten Mobilität der Juden,
die »als treibendes und organisierendes Ferment in diesem für den
einzelnen so bedrohlichen Prozeß« wirkten (Götz Aly). Der
Niveauunterschied zwischen Moses und Hans ist nicht nur in ihrer
unterschiedlichen Begabung begründet. Während Hans, ganz
traditionsverhaftet, sich den Dingen mit einer »ehrfurchtsvollen Scheu«
und voller Hemmungen nähert, kann Moses sie gänzlich »vorurteilsfrei«
betrachten, analysieren und verwerfen.
Damit ist auch die nationale Frage berührt. Kritiker verübeln Raabe
die Rede, in der Moses Freudenstein verkündet, nur so lange ein
Deutscher sein zu wollen, wie es ihm zum Vorteil gereiche, und
andernfalls aus der Rolle wieder herauszuschlüpfen. Die
Rechtsgleichheit, die der preußische Staat den Juden zugesteht,
betrachtet er unter der Maßgabe des persönlichen Nutzens, ohne daß ihm
daraus die innere Verpflichtung zur Loyalität erwächst. Statt deswegen
dem Schriftsteller antisemitische Motive zu unterstellen, wäre erst
einmal zu prüfen, welche Befürchtungen Raabes den Hintergrund für die
Suada abgaben, auf welche realen Erfahrungen sie sich stützten und
wieweit sie im historischen Kontext erklärbar und plausibel sind. In
diesem Punkt läßt die aktuelle Geschichtswissenschaft uns im Stich.
Hilfsweise lassen sich vom Roman gedankliche Verbindungslinien zum
Aufsatz »Unsere Aussichten« ziehen, mit dem der Historiker Heinrich von
Treitschke 1879 ungewollt den Antisemitismus-Streit auslöste. Die
Aufforderung zur Assimilation, die Treitschke an die Juden richtete: »…
sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen –
unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerung, die uns
allen ehrwürdig sind«, liest sich wie die unmittelbare Reaktion auf die
Ansprache Freudensteins. Wie Raabe grenzte auch Treitschke sich ab vom
Antisemitismus und hielt eine Einschränkung der Judenemanzipation für
moralisch und politisch verhängnisvoll. Die Situation in Deutschland war
in seinen Augen dennoch eine andere als in England und Frankreich. Der
deutsche Nationalstaat war jung, seine geistig-moralischen Grundlagen,
das Nationalgefühl waren unsicher und ungefestigt, weshalb Treitschke
die schneidende Pressekritik, für die er Journalisten à la Freudenstein
in der Verantwortung sah, für staatspolitisch destruktiv hielt. Im
selben Atemzug kritisierte er, daß es antijüdische Restriktionen seien,
die gebildete Juden verstärkt auf den Journalistenberuf verwiesen.
Zwei weitere Umstände erschwerten die Assimilation der Juden in
Deutschland. Ihre, verglichen mit England und Frankreich, viel größere
Anzahl und die Herkunft immer neuer Zuwanderer »aus dem polnischen
Judenstamme …, dem die Narben vielhundertjähriger christlicher Tyrannei
sehr tief eingeprägt sind«. Treitschke umriß genau die psychische
Konstitution, welche die Figur des Moses Freudenstein verkörpert.
Wer Raabes Werk für obsolet erklärt, will dessen anhaltende Brisanz
unter Verschluß halten. Die Frage danach, wieviel historische Wahrheit
in seiner Dichtung steckt, wird als anstößig stigmatisiert. Die
Befreiung aus der Blockade heißt, sich den freien Zugang zu einem großen
literarischen Werk wie zur Realgeschichte zu bahnen. Thorsten Hinz
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