Stationen

Samstag, 2. November 2013

Messen - Eine Expedition nach Deutschland

Wer so lebt wie wir, einsam und fernsehlos unter Tieren, also abgeschnitten, hat keine Chance, ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu entwickeln. Wenn ein jäher Windstoß die letzten Blätter von der Oxelbeere fegt, wenn die Kürbisblätter morgens rauhbereift herabhängen wie Lederflicken, wenn die Hupmelodie des Bäckerwagens mehrere Aussetzer hat, so, daß sie nach einem atonalen Musikstück klingt, dann sind das hier die Sensationen, über die es nachzusinnen gilt. Zweiunddreißig Wespen, die an einem Fallobstrest nagen: Wahnsinn, Kinder, kommt gelaufen!

Wenn Putje, das Zicklein, wieder einen Holzzaun umrammt, der sie vom Euter der Mutter trennt, dann ist dergleichen ein Knaller, der uns beschäftigt. Die Uhren ticken hier anders, ohne menschliche Störgeräusche, ohne Werbeplakate, ohne Gerüche, die man nicht auf Anhieb identifizieren kann. Man mag das als reizvoll empfinden oder als reizlos, je nach Verfaßtheit.

Ein paar mal im Jahr kommt das großstädtische Kontrastprogramm zum Aufruf, diesmal in Form eines Buchmessenwochenendes. An einem einzigen Tag so vielen Leuten begegnen wie sonst im Lauf eines ganzes Jahres nicht!

Ich fahre schwarz mit meinem Sohn in der S-Bahn, auch wenn man das heute sicher anders ausdrücken sollte. „Illegal“ ist auch nicht der richtige Terminus,  kein Mensch ist illegal. Wir reisen also fahrscheinlos, weil die Automaten unseren kleinen Schein nicht akzeptierten. Es war kein Passant und kein Kiosk in der Nähe, die hätten wechseln können. An der nächsten Station steigen Uniformierte ein, wir entwischen nach draußen. Nach zwei Stationen mit der nächsten Bahn steigen erneut Uniformierte ein, es sind dieselben Männer. Wir können nicht mehr aussteigen, mein Herz flattert, es ist mir unbegreiflich, daß ich solche Spielchen, Jahrzehnte ist´s her, mal sportlich genommen habe. Das Provinzleben scheint sensibilisierend zu wirken.

Am Hauptbahnhof wird das Gedränge so dicht, daß wir uns auszuatmen erlauben. Hier kann kein Kontrolleur durch. Wir sind aufgestanden, für Ältere und Hinfällige. Auf unseren freigegebenen Platz setzt sich eine junge Dunkelblonde mit Dreadlocks und Ohrstöpseln.

Mein Sohn betrachtet von oben die Pracht. Er ist aufgrund seiner Körpergröße deutlich näher dran als ich. Fragend, ich möchte nicht sagen: erschüttert schaut er mich an. Ich schaue hinunter. So stelle ich mir einen fremden Planeten vor, feindselige Biotope. Sind die ersten ein, zwei Zentimter über der Kopfhaut eines Dreadlock-Trägers je literarisch in Worte gefaßt worden? Meines Wissens nicht, und auch meine Worte zerfallen zu Staub, Schuppen und Unsagbaren. Ich begreife:  Hier, an dieser borkigem Fleckchen Mensch, ist der Untergang des Abendlands leibhaftig geworden.

Ein kleines Mädchen steht neben meinem Sohn. Wie er hält sie ihren Mund leicht geöffnet, die nasale Atmung scheint ausgesetzt. Sie fragt ihre Mutter leise, was das denn sei, auf dem Kopf da. Die beiden haben anscheinend einen weiten Weg hinter sich, sie sprechen schwäbisch. Sie entstammen einer reichen, großzügigen Region. „Des isch a gaanz kunschtvolle Frisur“, sagt die Mutter, Anerkennung schwingt in den Worten mit. „Du, des isch a Mordsaufwand. Da brauchscht Geduld und a waahnsinniges Gschick“, sagt die Mutter.

„Aber wie genau geht das“, flüstert die Tochter.  „Des weiß ich au net. Deschja a Kunschtwerk! Aba weischt was?“, die Stimme wird unternehmungsluschtig, „mir frage die Dame oifach!“ Im Aussteigegewimmel entzieht sich das Fragespiel unseren Ohren.

Ich war noch nie zu den sogenannten Besuchertagen auf der Frankfurter Buchmesse. “Rund eine Million“, schätzt  mein Sohn die Menschenmassen.

Ich entlasse ihn in Halle 3.0 , der Kinder- und Jugendbuchhalle. Wir haben als Treffpunkt den Stand mit der Maus vereinbart. Der Sohn kommt nicht.

Der Stand ist größer als der Radius meines Blickwinkels. Ich frage eine Standbetreuerin, ob sich ein kleiner blonder Junge gemeldet habe. Hat er nicht. „Geht er nicht ans Handy?“ – „Wir sind eine handylose Familie.“ Die Standbetreuerin rügt mich. Das sei verantwortungslos, heutzutage.

Ich komme mir kühn vor und lese Literaturbeilagen. Muß von der standeigenen Bank mit bukolischem Flair weichen, weil sich im Minutentakt Eltern mit ihren Kinder vor der Hintergrundwand mit „Shaun, das Schaf“ photographieren lassen wollen.

Der Sohn braucht noch eine Weile, er trägt schwer. Er habe nur eine einzige Reihe geschafft, und an jedem Stand, der sein Interesse fand, habe es geheißen: „Das ist so niedlich, wie versunken du liest, weiß du was, wir wollen dir das Buch schenken.“ Der Sohn sagt, nach dem zweiten interessanten Buch habe er daraus eine Taktik entwickeln wollen.

Ausführlich und kompliziert berichtet er, wie er erfolgreich gescheitert ist: „Ich wollte dann nur so tun, als ob ich ein Buch ganz intensiv lese, aber dann hab ich das vergessen und einfach weitergelesen, und immer weiter, und dann kam wieder so eine Frau und hat gesagt: Na, das Buch scheint dir ja wirklich zu gefallen, wir beobachten dich schon länger, weißt du was, wir schenken es dir“

Der Sohn hat wahre Prachtbände in seinem Stoffsack, sein Geschmack freut mich.

Wir wechseln zu Halle 4.1., müssen dafür ein Bistro durchqueren. Die Menschenmassen stocken. Dort lichten sie sich. Ich sehe von ferne einen schmalen blonden Zweimetermann, der einen anderen eskortiert, klein und gebeugt. Ein bizarres Raunen geht durch die leiser werdende Menge, sein Fortgang läßt sich meterweise verfolgen, wie eine rasche, stille oder halblaute Post. „SS-ss-ss-ss!“, eine akustische La-Ola-Welle auf Zischlaute: Es ist Günter Grass, der am Stock durch den Gang schreitet, „der Grass !-, Grass!, -ass,-ss,-ss.“

Ich sage meinem Sohn, daß der gebeugte Mann ein weltberühmter deutscher Schriftsteller sei. Er überlegt und fragt dann: „Wenn jetzt die Frau Merkel hier entlangginge, dann würden manche hinterherschimpfen, oder?“

Als wir uns dann gemeinsam durch Halle 4.1. schlängeln, ist mir mein Sohn ein bißchen peinlich. Den schweren Stoffsack schleppe ich, er schleudert einen weiteren, noch leeren herum. Ich hatte vergessen, daß das Kind ein Quartalsnascher ist. Da in unserem Hause jenseits der Oster- und Weihnachtszeit außer Äpfeln und Birnen kein Zuckerzeug gereicht wird, fühlt er sich hier im Süßigkeitenparadies. Ein Stand hat Gummitiere auf den Tischen, der nächste Kekse, der übernächste Schokolade. Der Sohn hat in der Kinderbuchhalle erfahren, daß man zugreifen darf. Er nimmt sich reichlich, überall, eine Hand in den Mund, eine in den Stoffsack. Ich finde das dreist und ermahne ihn zur Zurückhaltung, aber die Messeleute ermuntern ihn freundlich. Bald wird auch mal mit beiden Händen zugegriffen.

Ich recke das Kinn und setze einen kinderlosen Blick auf, tue, als seien der blonde Junge und ich nur flüchtige Bekannte.

Es gibt, wen wundert´s, zahlreiche schöne, gute, interessante Bücher und ein Überzahl von besser-nicht-Gedrucktem. Es gibt definitiv mehr Kitsch als Wahres, definitiv mehr Schund als Literatur, und im Sachbuchbereich defintiv mehr Linkes als Konservatives. Man könnte sagen, diese Buchmesse hat abermals „Schlagseite“. Die WfD hält abermals mit.Vermutlich, ohne den ideologischen Impetus radikallinker oder radikalantichristlicher oder radikalperverser Stände mittragen zu können. Wie das moralisch so geht? Keine Ahnung.

Am riesigen Stand von Respekt! Kein Platz für Rassismus in Sichtweite der WfD – es ist der Gang für Verlage mit außergewöhnlichen Positionierungen, außer der WfD sind hier fast nur sehr linke Aussteller – ist eine kleine Torwand aufgebaut. Mein Sohn ballert wie manisch. Es ist der Zuckerschock.



Als eine Standbetreuerin nervös auf ihn zukommt, fragt er sie, ob er einen der schönen Respekt!-Bälle haben könne. Ich gucke weg. Die Dame sagt: „Jaaa – grundsätzlich schon, aber die kosten gaaanz viel Geld.“ Ich sehe aus den Augenwinkeln meinen Sohn sich schüchtern abwenden. Der Blick der Dame folgt ihm. Er krallt sich eine Handvoll Süßigkeiten. Der Damenblick ruht noch immer auf ihm. Mein Sohn wird rot und tut, als wären die Schmankerl nicht für ihn bestimmt. Er läßt ein paar Päckchen auffällig unauffällig in den Beutel gleiten und drückt der Frau zwei Tagesdosen „Antiidiotika“ in die Hand. „Für sie!“

Der nächste Tag ist Sonntag, und es soll frühmorgens zu einer anderen Messe gehen, der Türkenmesse, von der mein Vater seit vielen Monaten schwärmt: Mußt du dir angucken! Jeden zweiten Sonntag im Monat findet der Türkenmarkt auf dem riesigen Parkplatzareal des Offenbacher „Ring-Centers“ statt. Die umliegenden Straßen sind in weitem Areal abgesperrt, deutsche Ordner in Neon-Westen überwachen jede einzelne Stichstraße. Ohne diese Maßnahmen wäre „hier die Hölle los“, sagt ein Neonmann.

Mein Papa ist ein guter Kunde bei den Türken: Duscharmaturen, Batterien, Lederschuhe, „das werfen die dir quasi hinterher“. Diesmal braucht er einen neuen Photoapparat, sein alter tut´s nur noch so halbwegs. Um halb neun ist noch wenig los. Die aufgestellten Schilder künden vom „Schnäppchenmarkt“, aber mein Vater hat schon recht: Es ist ein Türkenmarkt, ein fast reiner. Ich spreche ein paar Aussteller an. Woher sie kämen: Krefeld, Duisburg, Wesel, Göttingen. Und eigentlich? Türkei. Wieso sich aber hier fast ausschließlich Türken einfänden? „Sonntag schlechte Zeit für Deutschen: Da sind Kirche.“ Ich lache herzhaft. Der Türke stimmt ein, schallend.

Kubitschek ist enttäuscht. Er hat Datteln erwartet, Wasserpfeifen und fliegende Teppiche. Stattdessen werden Head and Shoulders-Flaschen zu zwei fuffzisch angeboten, grellgrüne Pullis mit der Aufschrift „Why dont you try it?“ und Bettwäsche mit Ökosiegel. Das Areal umfaßt mehr Stände als eine Buchmessenhalle, es ist gigantisch. Um zehn hat sich der Markt gefüllt. Gemäß unserer Herkunft sind wir eine verschwindende Minderheit am Platze. Es ist ein Kurzurlaub in der Exiltürkei; dagegen ist die Offenbacher Innenstadt alltags eine reindeutsche Erscheinung.

Unsere Töchter sind begeistert. Otto und ebay haben so gut wie keine schönen langen Röcke im Angebot, hier findet man sie in Massen. Leider ausschließlich 100% Polyester. Wir haben wunderbare Photos geschossen. Kubitschek mit einer „Leader-Jacke, 10 Euro“, die Schilder mit den Warnhinweisen vor Taschendieben, Parfum-Flakons in Form eines weiblichen Torsos, der Koran als heiliges Daumenkino, solche Sachen. Leider war der Kauf einer neuen Kamera erst die letzte Tat auf dieser besonderen Messe. Das alte Ding streikt im Moment, mein Vater will die Aufnahmen in den nächsten Tagen nachreichen. Ich werde sie weiterreichen, versprochen. Ellen Kositza

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