1967 kam ich aufs Gymnasium. Zwei Jahre lang waren die Deutsch-Lesebücher noch die von Ernst Bender herausgegebenen. Sie waren voller herrlicher Geschichten (zum Beispiel von Lise Gast). Jugend und Heimat. Aus dem Leben der Natur. Land und Volk. Weite Welt und Abenteuer. Arbeit und Technik. Menschen untereinander. Schelme und Käuze. Märchen und Fabeln. Sagen und Legenden. Gedichte. So die Überschriften der Kapitel. Die Sagen der alten Griechen lagen in Nacherzählungen von Gustav Schwab bis Walter Jens vor. Ich las quer durcheinander ganze Nachmittage in diesen beiden Lesebuchjahrgängen. So begeistert hatte ich zuvor nur Karl May gelesen. Ich freute mich schon auf den dritten Band 1970. Aber 1970 war der Zauber vorbei. In nur 2 Jahren hatte die kulturpolitische Weichenstellung von 1968 voll durchgeschlagen. Mit dem Muff unter den Talaren verschwand auch der Zauber von 1000 Jahren. Mit dem schmutzigen Badewasser das Kind. Rückblickend würde ich sagen, die Ära von Chefzensor Reich-Ranicki hatte deutlich spürbar begonnen. Jetzt hieß das Lesebuch nicht mehr "Deutsches Lesebuch", sondern "Wort und Sinn". Es musste bis 1976 ausreichen, es war darin fast nichts zu finden, was kein Problem aufwarf. Wir Kinder waren davon völlig überfordert und wurden nicht nur um das Lesen als Erlebnis und um Geschichten gelebten Lebens betrogen, sondern auch um unsere Kindheit, insofern man uns plötzlich altersgerechte Geschichten vorenthielt und einen Band mit Texten auftischte, die eigentlich erst vier Jahre später halbwegs genießbar waren. Es war der Beginn der Gehirnwäsche, die mittlerweile so perfektioniert wurde, dass dabei eine Figur wie Felix Finkbeiner herauskommen kann.
1968 hat gewiss auch gute Entgrenzungen bewirkt. Aber ausgerechnet in Pädagogik und Didaktik habe ich außer den Impulsen Frederic Vesters (der bezeichnender Weise gar kein Bildungswissenschaftler war!!) in jahrzehntelanger Beobachtung der Entwicklung nach 68 nur Verschlechterungen erkennen können und eine beispiellose, von Spezialisten vom Zaun gebrochene Verblödung, die immer noch nicht enden will (vorläufiger Höhepunkt: die Absicht, das Wahlalter auf 16 herabzusetzen, obwohl die großen Kinder immer unreifer werden; ich war schon 1975 - als es auf 18 gesenkt wurde - der Ansicht, das aktive Wahlrecht dürfe man erst mit 25 erhalten).
Ich habe diese Entwicklung von Anfang an im vollen Bewusstsein dessen, was sich vor meinem Auge abspielte und entwickelte, erlitten. Wie herrlich war noch die Volksschulzeit gewesen! Gerade das, was moderne Pädagogen aufbrachte, war doch das Interessante und Anregende: die Tatsache, dass ein Lehrer bei uns auf dem Dorf gleichzeitig zwei aufeinander folgende Klassen im selben Zimmer unterrichtete. Dieser "Lehrermangel" war einfach nur stimulierend. Und zwar 1000 mal stimulierender als das, was wenige Jahre später begann: dass schon kleine Kinder von der ersten Klasse an mit dem Bus von einem Dorf zum anderen gekarrt wurden, wodurch die Kinder keine konstante Bezugsperson mehr hatten (bisher lehnt sich in Italien, wo dieselbe Unsitte Verbreitung fand, nur die gute Gelmini, die Kultusministerin Berlusconis dagegen auf). Aber schlimmer als das war für mich, dass es plötzlich keine Heimatkunde mehr gab, dass jeder örtliche Bezug im Geschichtsunterricht ausgeschaltet wurde und dass unsere Volkskultur aus den Büchern verbannt wurde. Und dann noch dezidiert dem Volk zu Liebe und quasi im Namen des Volkes. Ein Alptraum.
Ein Narr selbst nichts zu sagen wagt,
nur weils ein Nazi schon gesagt.
Selbst Till Eulenspiegel verstummte. Sprichwörter wurden verhöhnt, Gedichte nicht mehr auswendig gelernt, die mittelhochdeutsche Literatur nur wie eine lästige Pflicht kurz angeschnitten, die Volksbücher in der Ausgabe von Karl Simrock mit keinem Wort erwähnt. So als sei Simrock der schändlichste aller Schandflecken.
Till Eulenspiegel
Deutsches Fastnachtmuseum
Kitzingen
In den vier Jahren Volksschule waren Heimatkunde und Religion meine Lieblingsfächer gewesen. Im Gymnasium fand Heimatkunde überhaupt nicht mehr statt. Mein Vater tröstete mich, Geschichte sei so ähnlich. Aber keine Sekunde lang gab es Bezugnahmen auf die lokale Geschichte, obwohl sich ortsnah welche anboten (Friedrich Rückert, Jean Paul, Deutschorden, Hohenlohe, Schönborn, Greiffenclau, Konrad von Weinsberg, um nur einige zu nennen). Und im Religionsunterricht wurde Luthers schöne Bibel von Anfang an, also bereits 1967, mit der Schundbibel des unsäglichen Jörg Zink ersetzt.
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