Stationen

Freitag, 22. November 2013

Kindermund tut Wahrheit kund

Man kann bereits als Kind instinktiv alles richtig verstehen. Durch Dazulernen kann man eigentlich gar nichts dazulernen. Man kann sich nur die kindliche Unvoreingenommenheit erhalten. Indem man die richtigen Informationen aufspürt und, wo diese nicht zu finden sind, die eigene Witterung schärft: man bekommt ein Gespür dafür, ob einem systematisch Informationen vorenthalten werden, oder ob man sich nur geirrt hatte. So sehr man auch ein Gefangener der Subjektivität bleibt, Empathie und Aufmerksamkeit können ausreichen für eine Reise um die Welt und sind ein leichtes Gepäck, sie sind auch ein gern gesehener Pass, selbst bei den Wilden; vor allem wenn die Spiegelneuronen nicht nur umständehalber geschult wurden, sondern zu den Talenten gehören.

Ich weiß noch welches Grauen ich empfand, wenn ich Jacky Kennedy sah. Sei es im Fernsehen, noch schwarzweiß, als sie nach Berlin kam - damals war ich 6, und im Herbst darauf kam ich in die Grundschule - sei es auf Bildern später im "Stern", als ich schon lesen konnte. Ich versuchte, mir eine Liebesgeschichte einzureden, als sie sich über den erschossenen Kennedy beugte. Aber es wollte nicht recht gelingen. Sie war mir unheimlich, sie wirkte immer finster auf mich. Fräulein Krug dagegen, meine erste Lehrerin in der Grundschule, war wunderschön, ich liebte sie sehr. Zwei Frauen, die äußerlich zum selben eleganten Typ gehörten. Aber eine war eine Hexe und die andere eine Fee.


Und vier Jahre danach, als ich aufs Gymnasium kam, am ersten Schultag, nachdem wir schon eine Reihe von Lehrern kennengelernt hatten, sollten wir uns in einem kleinen Aufenthaltsraum einfinden. Dorthin kam eine hochgewachsene, schlanke Frau im weißen Kittel mit eckigen Bewegungen, kurzen, etwas gewellten Haaren, fettglänzender Haut und kehliger Stimme, die völlig an uns vorbeiredete, uns "das Programm" erklärte, das offensichtlich auf uns hereinbrechen sollte und uns - ganz antiautoritärer, herrischer Gestus - unbeirrbar und gnadenlos demokratisch wie mündige Bürger behandelte. Das also sollte unsere Kunstlehrerin sein. Auf sie hatte ich mich besonders gefreut, weil ich gerne malte. Ich kannte das Wort Emanze noch nicht, aber ich hasste sie auf den ersten Blick aus vollem Kinderherzen. Das war eine 68-erin ante litteram im September 1967. Eine von den Frauen, die ständig die Kinder anderer Leute erziehen wollen, weil sie selber nie welche haben möchten.


Wenige Monate zuvor muss ich bereits zum ersten Mal Rudi Dutschke im Fernsehen gesehen haben. Aber erst jetzt nahm ich ihn wahr. Denn erst jetzt hatte ich einmal pro Woche mit einem Menschenschlag zu tun, den ich instinktiv mit diesem Dutschke in Zusammenhang brachte. Ich war von seinen stechenden Augen entsetzt. Es war das erste Mal, dass ich einen Fanatiker sah. Ich kannte das Wort noch nicht. Als ich es Jahre später lernte, musste ich immer an Dutschke denken, gerade weil es nie im Zusammenhang mit Dutschke fiel und ich instinktiv spürte, dass ich angeeckt hätte, wenn ich ihn als Beispiel für Fanatismus genannt hätte. Dass Dutschke auch gute Seiten hatte, erfuhr ich erst Jahrzehnte später, und es fiel mir schwer, mich davon zu überzeugen, dass es sich dabei auch wirklich um Tatsachen handelt. Aber er scheint tatsächlich den Wehrdienst in der DDR verweigert zu haben, und er scheint dies tatsächlich mit der patriotischen Überzeugung begründet zu haben, er sei nicht bereit, auf andere Deutsche zu schießen. Habe ich also doch etwas dazugelernt? Ich bin immer noch skeptisch. Wichtiger war sein besser verbürgter Satz, der nicht Teil der Hagiographie ist, "Wer von Allende spricht und von Prag schweigt, ist kein Sozialist.", und den ich bereits 1977 las, als ich mich über Solschenizyn dokumentierte. Immerhin, Dutschke war also gerecht. Und gerade nicht der bösartige, engstirnige Vogel, als der er von den Geh-doch-rüber-Konservativen damals bezeichnet wurde. Außerdem war er ja rübergegangen! Rüber zu uns nämlich. Auch das erfuhr ich sehr spät. 


Aber weltfremd war er dennoch. 1977 stand in "Konkret" ein Artikel von ihm, in dem er die freimütigen Debatten in Italien lobte. Nach dem Attentat, das auf ihn verübt worden war, hatte ihm Hans Werner Henze nämlich in seinem Haus in den Albaner Bergen Gastfreundschaft angeboten, damit er sich erholen konnte. Aber da Dutschke in seinem Artikel kein einziges Beispiel für diese vermeintlich ach so fruchtbaren Debatten nannte, war ich skeptisch. Ich las Dutschke auch nur, um mir aus erster Hand ein Bild von ihm zu machen, nicht um mich über Italien oder was auch immer zu informieren. 


Nie sich auf Informationen aus zweiter Hand verlassen war mein Vorsatz, seit die Behauptungen, die ich in meiner Familie hörte, erheblich mit denen kontrastierten, die ich auf dem Gymnasium von den Gescheiteren unter den Lehrern hörte und auch zunehmend deutlich wurde, dass aufrichtige, faire Gegenüberstellungen dieser beiden Welten nie zustande kommen würden. 1977 wusste ich noch nicht, dass ich irgendwann in Italien leben würde.


Nun, freimütig waren die italienischen Debatten damals allerdings. Aber das lag nur daran, dass sie so unverbindlich waren, nie jemand auf den Busch klopfte und die Debatten ausschließlich aus Geschwätz bestanden. Erst als 1994 Berlusconi an den Debatten teilnahm, wurden daraus seriöse Diskussionen, weil er sie mit vernünftigen Thesen und Fakten, die niemand leugnen konnte, dazu zwang, endlich einmal logisch zu argumentieren. Und siehe da, das Parteichinesisch war auf einmal nicht mehr zu hören. Es dauerte aber nur ganze zwei Jahre. Dann fing Berlusconi das, was seine schärfste Waffe gewesen war, beiseite zu legen: die Wahrheit. Auch er begann mit seinen Gegnern um die Wette zu lügen. Inzwischen haben wir wieder die freimütigen, leeren Debatten, die Dutschke so gefielen.



Auch Fritz Teufel fand ich vom ersten Augenblick an grauenhaft. Aber ich bewunderte ihn! Er war witzig und konnte zweifellos genial formulieren, und sogar aus dem Stand. Genau wie Berlusconi.

John F. Kennedy dagegen war mir sofort sympathisch. Davon werden mich auch seine erotomanischen Gewohnheiten nicht abbringen. Mir leuchtet auch ein, dass es sich bei diesen Gewohnheiten um ein Antidot gegen seine schmerzhaften Gebrechen handelte. Jedenfalls hat er mein Mitgefühl. Jacky nicht. Und selbst wenn ich Zweifel an meinen Sympathien für Kennedy hätte, ich brauche nur seine Rede in Berlin anzuhören, um wieder genau das zu empfinden, was ich im Sommer 1963 als kleiner Junge empfand.



Und jetzt?


So sehr ich auch gewisse Aspekte der Identitären Bewegung begrüße, die meines Erachtens längst überfällig waren, also wirklich seit Jahrzehnten. Ich argwöhne aber gerade deshalb, weil diese Besinnung längst überfällig ist, dass sie daneben gehen wird und die Identitären über ihr Ziel hinausschießen werden. Die alt68er Soziologen haben bereits angefangen, diese jungen Patrioten den Kryptonazis in die Arme zu treiben, und die Saat, die von deutschen Heavy Metal und Neofolk Gruppen ausgestreut wurde, wird irgendwann auch aufgehen. Gut ist andererseits, dass es sich - wie 1968 - um eine gesamteuropäische Bewegung zu handeln scheint. Genau das, was der Bewegung Schwung gibt, bremst sie daher vielleicht, wo sie aus dem Ruder laufen könnte.

Die Konservativen sind im Moment genau das, was Fritz Teufel und Rainer Langhans 1968 waren: intelligent, geistreich, witzig, phantasievoll und verführerisch. Aber auch die Kryptonazis sind geistreich, witzig, phantasievoll und verführerisch geworden. Die Konservativen haben in den letzten 45 Jahren wie Scipio Africanus den Gegner studiert und von ihm gelernt, und sie haben sich die ästhetischen Techniken angeeignet, mit denen man in den 70ern Erfolg hatte und heutzutage, wo es das Internet und die Sozialen Netzwerke gibt, erst recht Erfolg haben wird. 



Sie haben erstaunlich lange dafür gebraucht. 45 Jahre sind eine viel zu lange Zeit. Und wenn die Mauer, über die Kennedy sprach, nicht gefallen wäre, wenn Deutschland nicht wiedervereinigt wäre und Europa im Moment nicht von einer schweren Krise belastet würde, wäre diese längst überfällige Besinnung immer noch in weiter Ferne. Und je länger man etwas Notwendiges hinausschiebt, desto unheilvoller wird es auf die Menschen hereinbrechen.




Hans Magnus Enzensbergers "Kursbuch" haben diejenigen, die das Lambda der Identitären gerne mit einem Hakenkreuz ersetzen würden, jedenfalls aufmerksam gelesen. Dass ich das noch erlebe? Ich hätte gerne vor 40 Jahren eine gesunde Besinnung erlebt und mehr Dialog zwischen denen, die die Kursbücher nicht lasen und denen, die sie lasen. Jetzt könnte es zu spät sein, jedenfalls möchte ich nicht erleben, dass aus Besinnung Unsinn wird und die so oft gescholtene Spaßgesellschaft am Ende den Bach runter geht, statt zur Vernunft zu kommen. Es werden wahrscheinlich große Unruhen auf uns zu kommen, in denen sich viel angestauter Unmut entladen wird. Andrei Volkonsky sagte einmal zu mir, niemand sei den Deutschen dankbar dafür, dass sie verhindert hätten, dass der Kommunismus sich bis Sizilien, Gibraltar und die Biskaya ausgedehnt habe. Diese Dankbarkeit wird womöglich noch eingefordert irgendwann.

Generationskonflikte sind diesmal nicht zu erwarten, im Gegenteil. Diese Jugendbewegung, die bei Bismarck Trost sucht, wird es der Generation ihrer Eltern erleichtern, Schuldgefühle und Ausländerfreundlichkeit in dem Maße abzuschütteln, wie beide nie aufrichtig, weil verordnet waren und somit immer als Last empfunden wurden. Im Gegensatz zur 68er Bewegung wird die Bewegung der Identitären daher auch einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung haben, besonders wenn es zu Straßenkämpfen mit Muslimen kommen sollte und nicht nur Antifa-Militante angepöbelt werden. Und wenn in aller Bewusstsein als Gewissheit angekommen sein wird, was bisher nur verschwommen geahnt wird: dass nicht wenige der muslimischen jungen Männer eine Karriere als Extremtäter absolviert haben, bzw. dass sehr viele der jugendlichen, ständig rückfälligen Extremtäter keine Buddhisten oder Christen, sondern eben Muslime sind. Gegen das, was sich hier wahrscheinlich anbahnt, sind die Revolten in den Banlieus ein Spaziergang. Es kommt alles, wie es kommen muss. Das könnte so aus dem Ruder laufen und eskalieren, dass die Polizei der Lage nicht mehr Herr wird und zum ersten Mal die Notstandsgesetzgebung zur Anwendung kommt.


Kurzsichtige Menschen unterschätzen die Zeitlosigkeit des taedium vitae und die Biederkeit jeden authentischen Glücks. Sie richten Unheil an, sobald sie unumstößlich daran glauben, dass ihr Unbehagen eine ganz bestimmte, zeittypische Ursache haben muss, der man Abhilfe schaffen kann, indem man an den kennzeichnenden Umständen der Epoche etwas Entscheidendes ändert.

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