Stationen

Freitag, 29. Januar 2016

Orientierung

Es sind in den vergangen beiden Wochen zwei Zeitungsbeiträge erschienen, deren Analyse für eine Beurteilung unserer Lage im noch jungen Jahr 2016 interessant ist. Mit »uns« meine ich das im weitesten Sinne für den Erhalt der ethnokulturellen Identität Deutschlands und der anderen europäischen Nationen kämpfende politische Lager, das sich zusammensetzt aus:

Intellektuellen, Medien, Verlagen, Bürgerbewegungen, Projekten, Gesinnungsgemeinschaften, Demonstrationsbündnissen und einem parteipolitischen Arm samt parlamentarischer Verankerung.

Dieses Lager versammelt – um eine erste Passage aus Karlheinz Weißmanns in der Jungen Freiheit erschienenen Beitrag „So günstig wie nie“ zu zitieren – in seinen Reihen
Praktiker und Theoretiker, kluge Köpfe und Spinner, Apparatschiks und Religionsstifter, Einzelgänger und Weltverbesserer, Liberale, Libertäre, Christlich-Soziale und Christdemokraten, Konservative jeder denkbaren Schattierung, Nationale und Nationalisten aller möglichen Facetten.
Der Kampf um die Identität und das damit zusammenhängende Selbstbestimmungsrecht unserer Völker ist das mögliche einende Band, und dieser Kampf ist ein Verteidigungskampf.

Es ist keiner mehr, der ein deutsches oder europäisches Rechtsverständnis, eine deutsche Lebensart und Alltagsorganisationsform, einen europäischen Säkularisationsgrad oder ein abendländisches Kulturverständnis mit Durchsetzungsanspruch in die Welt trüge – wir sind in diesem Sinne Kulturrelativisten nicht so sehr aus Einsicht in die Stimmigkeit dieses Ansatzes, sondern aus Einsicht in die Schwäche der eigenen Position und Lage:
unmöglich, weiterhin auszugreifen, wo doch das Eigentümliche, das Spezifische sogar im eigenen Beritt in Frage gestellt oder offen angefeindet und angegriffen wird – von den Fremden, die das Vakuum spüren und es auszufüllen beginnen, und von den eigenen Leuten, die mit großer Verachtung auf das Eigene, mit großem Vertrauensvorschuß aber auf das ganz Fremde blicken und sich von dort irgend­etwas erhoffen – etwas Befreiendes, etwas Ablenkendes, etwas Besseres, eine neue Garderobe, irgendeine kulturelle Metamorphose …

Und dennoch hat Karlheinz Weißmann vor gut einer Woche den bereits erwähnten Artikel über die Chancen rechter Politik in der Jungen Freiheit veröffentlicht, Chancen, die er als »So günstig wie nie« einschätzt. Was äußert er und worauf will er hinaus?

Weißmann kommt zunächst mit Peter Graf Kielmansegg auf die »eklatante Zukunftsschwäche« der Demokratie zu sprechen, die keine großen, rücksichtslosen Würfe in die Zukunft wagen könne, weil sie aufgrund der Wahlabhängigkeit auf die Gegenwart fixiert bleibe. Darin liege aber auch der Vorteil einer politischen Lern- und Korrekturfähigkeit, und diese Annahme führt Weißmann zu seinem eigentlichen Thema: der Frage nach den Betreibern und Akteuren der Korrektur, und diese Akteure sieht er – kaum verwunderlich! – auf der rechten Seite.
Wichtig an Weißmanns Ausführungen ist die Einsicht, daß kaum etwas von dem, was zur Rettung des Vaterlandes geschehen müsse, von alleine geschehe. Anders ausgedrückt: Was geschehen kann, mag sich als amorphe Tendenz abzeichnen; in Form gebracht, politisch gemacht, also innerhalb des politischen Systems als Möglichkeit erkennbar und anfaßbar gemacht, wird diese amorphe Tendenz hingegen nicht durch die Kräfte und den Druck irgendeines überpersönlichen Ablaufes an sich, sondern immer von entschlossenen Einzelnen, Gruppen, Bewegungen.
Als Fragestellung ausgedrückt:

Was muß nun rasch und klug von unserem Lager organisiert und vorgebracht werden, damit nicht wiederum diejenigen zu den entscheidenden Ordnungskräften im Chaos werden, die es selbst gegen jedes bessere Wissen angerichtet haben – mit einer unglaublichen Arroganz dem ihnen anvertrauten Volk gegenüber? Denn der Machterhaltungstrieb der Altparteien ist stärker ausgeprägt als alles andere, was man ihnen sonst noch zuschreiben möchte, und ihre Witterung für kommende Mehrheiten ist fein wie die von Drogenhunden.

Weißmanns Versuch einer Handlungsskizze für die kommende Umbruchsepoche ist vage und andeutend. Er erinnert in der Neigung, alles oder nichts für möglich zu halten, an den jüngst verstorbenen Soziologen Ulrich Beck. Von ihm sagte Peter Sloterdijk einmal, er prognostiziere ständig „bürgerkriegsähnliche Zustände in den kommenden Jahren, mindestens jedoch Tarifverhandlungen.“
Weißmann nun hofft für unser Land – Jacob Burckhardt zitierend – auf eine Phase „beschleunigter Prozesse“, auf eine Phase also, in der „die Dinge ins Rutschen kommen“. Er schreibt:
Vieles spricht dafür, daß genau das jetzt geschieht und Turbulenzen zu erwarten sind. Die führen dazu, daß noch der Geduldigste die Geduld verliert, daß das, was eben noch als selbstverständlich galt, es jetzt schon nicht mehr ist, daß das, was gestern tabu war, heute die Spatzen von den Dächern pfeifen, und daß Personen und Ideen, die bis dato niemand kannte und niemand ernstgenommen hat, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Soweit, so Ulrich Beck. Was aber heißt das für uns? Daß Weißmann dieses „uns“ als den schillernden Regenbogen wahrnimmt, der es ist, zeigte seine Typenaufzählung von oben. Aus diesem bunten Haufen nun eine politische Einheit zu schmieden, sei die zu leistende Aufgabe. Weißmann:
Um das zu erreichen, bedarf es zuerst der entscheidenden Tugend des echten Politikers: der „geschulten Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten“ (Max Weber), und das bedeutet Einsicht darein, was geht und was nicht geht. Dazu bedarf es weiter der klaren Scheidung von denen, die sich dem größeren Ziel – dem Zugriff auf die Macht – nicht unterordnen, wie von denen, die die geltenden Verfahrensregeln nicht akzeptieren wollen. Dazu bedarf es schließlich der Klärung, wie denn die Alternative der Alternative jenseits des politischen Klein-Klein aussehen soll, nicht nur, auf welche Parolen die zu bringen ist, sondern auch welche Weltanschauung ihr zugrunde liegen soll.
Einsicht in das, was geht, klare Scheidung von denen im eigenen Lager, die den Zugriff auf die Macht vergeigen, Klärung des weltanschaulichen Fundaments – dies also sind wohl die zentralen Aufträge an die metapolitische Besenbrigade, und der Jungen Freiheit kommt, als wichtigstem Organ unseres Lagers, vor allem in Fragen der klaren Scheidung von denen, die man auf dem Wege zur Macht nicht neben oder vor sich herumtoben sehen möchte, dabei eine zentrale Rolle zu, der sie mit einem für den politischen Gegner in hohem Maße zugleich irritierenden wie erfreulichen Hygienefimmel durchaus gerecht wird.

Es gäbe zwar wahrlich Wichtigeres: eine „Politeia“ zu schreiben, ein konservatives Maximum sozusagen, eine metapolitische Wegweisung, verfaßt mit der „geschulten Rücksichtslosigkeit des Theoretikers für die Praktiker“; aber das Säubern der eigenen Reihen scheint eben vordringlich zu sein auf einem Spielfeld, das sich doch wie ein riesiger leerer Raum vor uns öffnet und selbst Spekulationen über genetisch bedingte Reproduktionsunterschiede zwischen Afrikanern und Europäern als das erscheinen läßt, was sie sind: skandalöse Maulwurfshügelchen.

Mehr Spannung, möchte man rufen, mehr Mut, mehr Experiment, mehr Wegwischen von Mißlungenem, von Vorläufigkeit und Situationsbedingtem! Macht mal die Fenster auf, möchte man rufen, packt mal den Raumspray weg!
Indes:

Wozu sich damit aufhalten? Vielleicht ist längst von ganz anderer Seite zu erwarten, was andernorts vor lauter „Einsicht darein, was geht und was nicht geht“, nicht geleistet wird: Vor zwei Wochen erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Beitrag unter dem irreführenden, leserabwehrenden Titel „Die wehrhafte Wut des Winkelzahnmolchs“.

Dieser ganzseitige Beitrag ist ein politisches Porträt des stellvertretenden Landesvorsitzenden der AfD in Baden-Württemberg, Marc Jongen. Jongen war Assistent am Lehrstuhl Peter Sloterdijks, arbeitet noch immer als Philosophiedozent an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und steht vor dem Abschluß einer philosophischen Grundlegung der AfD: Er nennt sein noch unfertiges Werk ein „Manifest“.
Das Helfende, das Erleichternde an Jongens Ansatz gleich vorweg: Obwohl ihm die beiden Journalisten – Reinhard Bingener und Justus Bender – ein Stöckchen nach dem anderen vor die Beine halten und ihm den Fußball dicht vors leere Gehäuse legen: Jongen schießt die billigen Tore nicht und absolviert nicht den gewohnten Hürdenlauf. Er sieht vielmehr überall, wo für und nicht gegen Deutschland Politik gemacht wird, viel mehr Gemeinsames als Trennendes, und vor allem weitet er den Blick auf eine der Grundvoraussetzungen einer gelingenden „Verteidigung des Eigenen“: auf den notwendigen Zorn, mit dem den hyperidentitären, durchsetzungshungrigen, uns fremden Kulturen und Ideologien entgegenzutreten sei.

Jongen bezeichnet die flächendeckende Wehrlosigkeit der Deutschen als „thymotische Unterversorgung“ und greift damit auf die antike Trias der Lebenstöne oder – in seiner Diktion – der Seelenfakultäten zurück: den Logos (die Vernunft), den Eros (die Lust) und eben den Thymos (den man in einem Bedeutungsfeld aus Mut, Zorn und Empörung ansiedeln kann).

Daß diese Seelenfakultäten in einer dissonanten Harmonie zueinander stünden und ständig zu einem Ausgleich gebracht werden müßten, ist die Grundlage jeder in die Natur des Menschen einsichtigen, philosophisch gespeisten Erziehungslehre, und seinen literarischen Niederschlag fand diese Ausgleichsarbeit in Hölderlins Bildungsroman Hyperion, der die Lebenstöne des Idealischen, des Naiven und des Heroischen und ihren unausgesetzten Wechsel und Ausgleich, ihre Reibung und Spannung zum Thema hat und in sich aussöhnen mochte.

In Deutschland ist das alles nicht ausgesöhnt. „Thymotische Unterversorgung“ als philosophisches Erklärungsmuster hinter der Entmännlichung unseres Volkes bei gleichzeitiger Forderung nach einem überlebensnotwendigen Wechsel in diese Tonlage des Zorns: Das ist ein unserer Lage angemessener Ansatz. Er soll nicht blind sein, dieser Zorn, aber er muß erst einmal wieder in sein Recht gesetzt werden, und zwar vor aller „Einsicht in das, was geht und was nicht“.
Denn hätte man – um ein Beispiel aus der AfD selbst zu bringen – auf diejenigen Ratgeber gehört, die für den Abgang Henkels und Luckes das Ende der Partei prognostizierten und jüngst vor einer Entwicklung der AfD zu einer „Lega Ost“ warnten: Wir hätten alle einer völligen Marginalisierung der grundsätzlichen, rechten Kräfte innerhalb der Partei beiwohnen dürfen und als Ergebnis der „geschulten Rücksichtslosigkeit des Blicks in die Realitäten“ die Eingliederung der AfD in die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers für die CDU miterlebt – mit Personal, das schon immer zum Establishment dazugehörte und weiterhin dazugehören will, und mit ausgewählten Neulingen, deren Wunsch, dazuzugehören, als Ausweis für ihre Politikfähigkeit und Einsicht ins Blablabla diente.

So aber, mit der Verankerung der thymosfähigen Kräfte in der Partei, ist sie in die Funktion gerückt, die ihr Marc Jongen in seinem Manifest zuschreiben wird: Einzig die AfD lege „Wert darauf, die Thymos-Spannung in unserer Gesellschaft wieder zu heben“, sagt er. Und entlang dieser von ihm begrüßten und geförderten Aufgabe seiner Partei deutet und bewertet Jongen nun die thymotisch straffer als der Westen aufgespannten Ostverbände.
Ich bin kein Gegner von Höcke“, gibt er zu Protokoll. Nach Jongens Auffassung, notieren die beiden FAS-Redakteure,
weisen auch die vom Höcke-Lager organisierten Demonstrationen wie in Magdeburg in die richtige Richtung. Sie seien Mittel gegen die Thymos-Schwäche der Deutschen. (…) Das zentrale Ziel der ›Psychopolitik‹ der AfD müsse es sein, den deutschen Thymos wieder hochzuregulieren.
Was aber, wenn eine Steigerung des Thymos die Grundordnung der Gesellschaft bedroht?, fragen die Autoren. Jongen antwortet:
Damit ist eine Gefahr angesprochen, das leugne ich überhaupt nicht. Diese Gefahr muß man aber auf sich nehmen, wenn man der existentiellen Großgefahr eines Verschwindens der deutschen Kultur begegnen will. Dann muß man mit diesen Dingen umgehen und leben.
So klingt ein selbstbewußter Ton! Die Frage nach der Kontrollierbarkeit einer Revolte ist als hemmendes Moment, als Logos-Anteil in der herbeigewünschten, thymos-satten Zeit, ohne Frage von großer Bedeutung. Aber dennoch: Zunächst muß auf eine Revolte hingedacht und hingearbeitet werden, auf eine Revolte gegen den Großen Austausch, um den Titel eines Buches aus der Feder des französischen Vordenkers Renaud Camus zu zitieren, der zur fruchtbaren Lektüre Marc Jongens gehören könnte.

»Revoltiert!« heißt einer der von Martin Lichtmesz übersetzten Texte von Camus, die im Verlag Antaios in wenigen Tagen erscheinen, und letztlich münden dessen Ausführungen ebenso wie die Jongens oder unsere eigenen in folgender Überzeugung:
Wir alle haben nicht so sehr Furcht vor dem Maß an Veränderung und Umwälzung, das uns eine Revolte brächte, als vielmehr Angst davor, daß in unserem Volk die Kraft, die thymotische Energie zu einer erfolgreichen Verteidigung des Eigenen nicht mehr ausreiche. Die logos-zentrierte Mäßigung der Deutschen muß ebenso zugunsten einer dringend notwendigen Thymos-Spannung zurückgedreht werden wie die eros-abhängige Konsumzufriedenheit und Verhausschweinung.

Wir dürfen gespannt sein auf Jongens „Avantgarde-Konservatismus“, wie er sein Manifest vorgreifend unter anderem bezeichnet. Es wird keines sein, daß sich vornehmlich der Hygiene auf den Treppenstufen zur Macht widmet, sondern ein echter Überflug, der einordnend, relativierend und mobilisierend zugleich wirken und vorpreschende Parteifreunde oder auch jene außerhalb der AfD begrüßen wird, die an der Ausweitung der Kampfzone, an der Steigerung der Spannung, und das bedeutet: an der Vertiefung des Risses durch die Gesellschaft mitwirken.

Keinesfalls also wird es ein vages, neblig-distanzierendes Manifest werden, und das wird diese Politeia fundamental von derjenigen unterscheiden, die noch immer nicht geschrieben ist, aber sicherlich bald mit Einsicht in das, was geht (und vor allem: wer mitgehen darf) geschrieben, zum Zeitpunkt ihres Erscheinens aber leider so von den Realitäten planiert sein wird wie die Schoepssche Preußenrenaissance von 1960. Kubitschek am 28. 1. 2016


Wortgewandtheit und Unbefangenheit sind eigentlich dringender nötig als der angemessene Zorn. Dann erledigt sich die Frage, wie dem konservativen Lager eine Wirbelsäule eingepflanzt werden kann, von alleine. Andererseits führt gerade der angemessene Zorn vielleicht zu Unbefangenheit. Und die dann irgendwann zu Wortgewandtheit. Vielleicht sogar beim linkischen Höcke und beim tollpatschigen Meuthen. Also los!

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