Stationen

Donnerstag, 19. September 2019

Revisionismus

Leser ***, AfD-Mitglied, moniert meine Einlassungen zum Kriegsausbruch 1939 (Acta vom 12. September) sowie die hier publizierten Ausführungen von Gerd Schultze-Rohnhof zu diesem bekanntlich heiklen Thema, da seiner Meinung nach "die Frage 'Schuld am Beginn des 2. Weltkriegs' von der Geschichtswissenschaft beantwortet wurde. Ich meine, dass wir Konservativen uns für die Rückkehr zur Demokratie, zum Rechtsstaat, zu sinnvoller Wirtschafts- , Währungs-, Einwanderungs- und Energiepolitik einsetzen sollten und nicht mit einer 'polnischen Teilschuld am Ausbruch des 2. WK' beschäftigen. Das sind Diskussionen, die nicht zu Unrecht von niemanden verstanden werden."

Nachdem ich dem braven Manne zunächst durchaus unwirsch geantwortet hatte, will ich coram publico etwas klarstellen. Wie der Kopfleiste dieses Diariums zu entnehmen, handelt es sich bei den Acta diurna um ein privates Tagebuch, auch wenn einige Plattköpfe zur Linken in ihrem Hang zum kollektiven Meinen und Zusammenrotten sich dergleichen nicht vorzustellen vermögen. Es ist ein Monolog, den ich vor mich hinmurmele oder bisweilen auch -fluche, ungefähr wie ein altes Weib in einem Winkel der Kirche ihre Gebete murmelt, um ein treffliches Bild von Don Nicolás aufzugreifen. Mit einer Parteimeinung hat das alles nichts zu tun, hätte es nicht einmal dann, wenn sich eine hundertprozentige Deckungsgleichheit zwischen einer Parteilinie und den hier angestellten Überlegungen ergäbe.

Ich empfehle allen AfD-Mitgliedern, das Thema Drittes Reich grundsätzlich zu meiden, man darf es allenfalls mit der Sensibilität eines Hirnchirurgen traktieren, aber nicht, weil etwa alle Fragen geklärt wären und die rechtschaffene Mutter Erde sich hinter den geltenden Grenzen des historisch Sagbaren auftäte, welche, im Gegensatz zu den Landesgrenzen, interessanterweise mit Klauen und Zähnchen verteidigt werden – Zäune halten zwar keine Menschen auf, aber Geschichtstabus angeblich Rechtspopulisten –, sondern aus dem Grunde, dass bei uns die Geschichte die Staatsreligion ersetzt hat und deshalb die Regeln der Inquisition herrschen. Der Begriff "revisionistischer Historiker" gilt ja nur in Gottesstaaten als anrüchig; in einer freien Gesellschaft ist Revision erste Historikerpflicht. Die Geschichtswissenschaft beantwortet keine Schuldfragen, das tun Juriszen oder Moraltheologen. Es gibt strenggenommen auch keine Geschichtswissenschaft, Geschichtsschreibung ist ein Zweig der Literatur; wer etwas anderes sagt, hat Interessen. Bereits mit der Aufdeckung von Kausalitäten stößt der Historiker an seine Grenzen, denn nur Gott kennt alle Zusammenhänge. Fehlt nur ein einziger, ist das Bild unvollständig. Deshalb gibt es zwar historische Fakten (und Märchen; ein Historiker schreibt sie vom anderen ab), aber keine historische Wahrheiten. Derjenige Historiker, der die meisten Ursachen für ein Ereignis anbietet, kommt der Wahrheit am nächsten, aber er erreicht sie nie. (In der historischen Rückschau verwandelt sich ja auf geheimnisvolle Weise in Kausalität, was für die Zeitgenossen nur eine von zahllosen Optionen war.)

Die deutsche Geschichtswissenschaft – denken Sie sich den Terminus in Anführungsstrichen – ist keineswegs frei, sondern ein Minenfeld, ein überaus langweiliges obendrein, weil die Minen gut sichtbar ausliegen. Sie wird missbraucht zu Herrschaftszwecken, unter den Historikern tummeln sich zahlreiche Priester, und die Historikertage sind eher Messen. Der "lange Weg nach Westen" (H.A. Winkler) etwa ist die bundesrepublikanische Version der Vorsehung. Vielleicht sollte man Historiker ausschließlich unter literarischen Aspekten lesen und die Lektüre derer meiden, die nicht schreiben können. Jedenfalls soll man gerade diejenigen, die uns erklären, sie wüssten, wie es gewesen ist, am besten noch: wie es kommen musste, mit einem Lächeln lesen, in der schönen Gewissheit, dass die Winkler und Wehler so vergessen werden wie die Treitschke und Gervinus. Am Ende bleibt nur Thukydides übrig.

In meinem kleinen Eckladen denke ich und veröffentliche ich, was ich will. Der Beitrag von Schultze-Rhonhof ist ein Teil eines Puzzles, das höchst unvollständig ist und allzeit bleiben wird, aber immerhin ein passendes Teil. Das ist alles. MK

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.