Samstag, 3. Januar 2015
Das Gewahrsein
Ich saz ûf eime steine,
dô dahte ich bein mit beine,
dar ûf sazte ich mîn ellenbogen,
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange,
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer welte solte leben,
deheinen rât kunde ich mir gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der deheines niht verdurbe:
diu zwei sint êre und varnde guot,
der ietweders dem andern schaden tuot,
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolde ich gerne in einen schrîn:
jâ, leider desn mac niht gesîn,
daz guot und weltlich êre
und gotes hulde mêre
in einen schrîn mügen komen.
stîge und wege sint in genomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt ist ûf der strâze,
fride unde reht sint beidiu wunt.
diu driu enhabent geleites niht,
diu zwei enwerden ê gesunt.
Walther von der Vogelweide
Das Gewahrsein macht uns zum Herrn unserer Sinne. Nur Geisteskranke können es mit Grübelei verwechseln.
P.S.: Ein Krankheitssymptom unserer Epoche ist, dass dieses Gedicht als politisch bezeichnet wird, obwohl Walther jede Spur politischer Bezugnahme sorgfältig vermieden hat. Dass es vor einem politischen Szenario und in enger Tuchfühlung mit diesem Szenario entstand, steht auf einem anderen Blatt. Walther hat die Verunreinigung durch Aktualität jedenfalls vermieden, weil er wie alle Großen mit einem Fuß in der Ewigkeit stand und den Schuh der Aktualität vor 1230 abstreifte. Ernst Jünger hat immer wieder betont, dass sein Buch "Auf den Marmorklippen" nicht als politisches Pamphlet des Widerstands aufgefasst werden soll. Aber stoische Kontemplation gönnt man in Deutschland niemandem.
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