Stationen

Freitag, 7. April 2017

Bassam Tibi kommt zu Wort

Der aus Syrien stammende Nah­ostspezialist Bassam Tibi (72) lebt seit 1962 vorwiegend in Deutschland und den USA und war als Professor für internationale Beziehungen und Berater mehrerer Regierungen tätig. Von 2005 bis 2016 war er, wie er selbst sagt, in Deutschland wegen seiner „unbequemen Gedanken“ einer „Tyrannei der herrschenden Meinung und Gesinnung“ zum Opfer gefallen. Erst zum Höhepunkt der Asylkrise ist es dem Autor des Buches „Europa ohne Identität“, der in den 1990er Jahren die Begriffe des „Euroislam“ und der „Leitkultur“ geprägt hatte, gelungen, als Mahner auf die öffentliche Bühne zurückzukehren. Das Interview führte Bodo Bost.

PAZ: Was bedeutet „Euroislam“?
Bassam Tibi: Der Begriff Euroislam ist ein politisches Konzept, nachdem die Kinder von in Europa geborenen und sozialisierten muslimischen Migranten mit Hilfe des Bildungssystems und der Medien europäische Wertevorstellungen in ihr Verständnis vom Islam übernehmen sollen. In einigen Ländern, wie Schweden und Holland, fand dieses Islamverständnis viel Interesse, leider nicht in Deutschland. In Deutschland gilt nach dem Gebot der verfassungsmäßigen Religionsfreiheit der Kopftuchislam nach den Vorgaben der Scharia. Nur ein einziger Islamlehrstuhl in Deutschland, nämlich der von Münster mit Professor Khorchide, ist mit einem islamischen Reformtheologen besetzt, und auch seine Absetzung wird von den konservativen Islamverbänden vehement gefordert. Dieser organisierte deutsche Islam wird von den Wahhabiten und der Muslimbruderschaft aus Saudi-Arabien und der türkischen DITIB, dem verlängerten Arm von Erdogans AKP, beherrscht. Wenn muslimische Migranten nicht integriert werden, bilden sich Parallelgesellschaften wie in den Banlieux in Frankreich, und diese sind die erste Vorstufe zu einem Bürgerkrieg.

PAZ: Kann man Zuwanderung begrenzen oder eindämmen?
Tibi: Zunächst einmal: Zuwanderung ist keine Naturkatastrophe. Ich mache einen Unterschied zwischen Einwanderung, die aus demographischen Gründen gebraucht wird, und der unkontrollierten Zuwanderung, mit der wir es jetzt in Europa zu tun haben. Wenn ein Staat darauf verzichtet, seine Grenzen zu kontrollieren, ist er wissenschaftlich gesehen ein „failed state“, ein gescheiterter Staat, wie Deutschland. Wenn zwischen September und Dezember 2015 Hunderttausende bis zu einer Million Zuwanderer nach Deutschland eingereist sind, ohne dass man weiß, woher diese Menschen kommen, und die Regierung das auch noch zugibt, dann muss man von einem gescheiterten Staat sprechen. Was stattfindet, ist keine Migration, sondern eine Völkerwanderung. Leider wird eine sachliche Debatte hierüber durch Gesinnungsterror verhindert. Merkels Deutschland hat im Zeitraum 2015/2016 Millionen Menschen im Rahmen einer Willkommenskultur ohne eine klare Bestimmung in sein Territorium unkontrolliert hineingelassen. Die Regierung hat kein Konzept für den Umgang mit diesen Menschen beziehungsweise wie sie in das bestehende Gemeinwesen eingegliedert werden können. Die USA, Kanada und Australien sind klassische Einwanderungsländer, wo es solche Konzepte gibt, Deutschland ist dagegen das größte Zuwanderungsland der Welt geworden, weil es statistisch gesehen mehr Migranten als selbst die USA aufnimmt. Alleine die Stadt Hamburg nimmt pro Jahr die Hälfte der Zahl an Zuwanderern (35000) auf, wie die USA in einem Jahr als gewollte Einwanderer (70000) aufnimmt, aber die USA sind mehr als viermal so groß wie Deutschland. Allerdings ist in den USA die illegale Zuwanderung über Mexiko, die statistisch nicht erfasst werden kann, sehr viel größer.

PAZ: Haben wir als reiche Europäer nicht auch eine moralische Pflicht, Menschen aus ärmeren Ländern zu helfen?
Tibi: Gesellschaftlich ist es neben der Differenzierung zwischen Ein- und Zuwanderung erforderlich, auch zwischen humanitärer Politik und Einwanderungspolitik zu unterscheiden. Es ist unbestreitbar, dass politisch Verfolgte ein Recht auf Asyl haben – dieses Recht ist aber ein individuelles und kein Gruppenrecht. Eine politische Verfolgung verleiht dem Antragsteller zudem keinen Dauerstatus, ist also keine Einwanderung. Denn das Asylrecht berechtigt nur zu einem zeitlich begrenzten Aufenthalt. Zuwanderung ist chaotisch. Einwanderung erfolgt dagegen erstens nach Bedarf der Aufnahmegesellschaft und zweitens mit dem Ziel, die eingewanderte Person auf Dauer zum individuellen Mitglied des Gemeinwesens zu machen. Ein Bürger-Status als Citoyen muss durch Arbeit erworben werden und kann nicht geschenkt werden, so wie Gesinnungsethiker dies tun, wenn sie Flüchtlinge, die nicht einmal die Landessprache sprechen, zu „neuen Bürgern“ hochstufen.

PAZ: Zurzeit versucht die EU nach dem Muster des Türkei-Flüchtlingsdeals einen solchen auch mit Libyen zu machen. Was halten Sie davon?
Tibi: Neben der inzwischen einigermaßen geregelten Balkanroute ist die Mittelmeerroute von Libyen aus heute der zentralste Weg für Millionen Armutsflüchtlinge aus Afrika nach Europa. Diese Mittelmeerroute kann man nur in den Griff bekommen, wenn die staatliche Ordnung in Libyen wiederhergestellt ist. Aber kein EU-Politiker hat darauf eine Antwort. Libyen ist nur noch ein nomineller Staat und es gibt dort keine staatlich funktionierende Ordnung mehr. Es gibt nicht einmal ein libysches Volk, wie es etwa ein syrisches oder ägyptisches gibt. Zirka 125 schwer bewaffnete islamistische oder afrikanische Milizen kontrollieren das Land und die Fluchtrouten. Die Milizen lassen sich von außen nicht entwaffnen, das heißt USA oder EU können den intern bedingten Staatszerfall nicht beseitigen. Statt ihre Grenzen zu schützen, betreibt die EU mit Frontex-Schiffen nicht nur Seerettung im Mittelmeer, sondern dient dem Transport der Geretteten nach Europa. Die EU-Frontex-Schiffe sind so zu einem „kostenlosen Taxi-Unternehmen“ geworden, das den Schleusern Beihilfe zu ihrer Arbeit leistet. Europa hat nicht nur kein Konzept zum Umgang mit dieser illegalen Migration von Armutsflüchtlingen, die EU bietet auch der organisierten Kriminalität von Islamisten und afrikanischen Kriminellen, in deren Rahmen das Schmuggelgeschäft mit den Flüchtlingen lukrativ betrieben wird, ihre Beihilfe an.

PAZ: Halten Sie eine Obergrenze für Zuwanderer für sinnvoll?
Tibi: Innerhalb der Union gibt es den Konflikt um die Zahl der Zuwanderung zwischen Bundeskanzlerin Merkel und CSU-Chef Seehofer. Seehofer möchte eine Begrenzung der Zuwanderung auf 200000 und Angela Merkel behauptet, dass im Grundgesetz keine Zahlen stehen. Dieser Konflikt ist lächerlich, in keiner Verfassung stehen Zahlen oder Prozente, aber kein Staat auf der Erde kann unbegrenzt Fremde aufnehmen. Die Grenze ist die Integrierbarkeit der Zuwanderer, niemand wird behaupten, auch von Merkel hört man „Wir schaffen das“ nicht mehr, dass Deutschland diese Massen, die es aufgenommen hat und verwaltet, sinnvoll integrieren kann. Das Schlimme ist nicht, Millionen Menschen unvorbereitet aufzunehmen, sondern ihnen außer Unterbringung, Alimentierung und Sprachkursen nichts anzubieten. Eine Integration in eine Bürgeridentität findet nicht statt.

PAZ: Wie ist die Lage in Ihrer Heimat Syrien ?
Tibi: Als ich Syrien 1962 verlassen habe, hatte das Land dreieinhalb Millionen Einwohner, heute sind es über 30 Millionen, zwölf Million davon sind auf der Flucht, die meisten im eigenen Lande. Ich bin selbst Syrer und Humanist. Weltweit gab es im letzten Jahr 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Verpflichtung, Menschen zu helfen, hat Grenzen. Politik und Moral sind auseinanderzuhalten. Ich war im letzten Jahr in Ägypten und habe dort mit Bettlern gesprochen. Diese wussten von der Einladungskultur Deutschlands. Diese Menschen sind nicht verfolgt und sie verhungern nicht, aber dennoch will die Hälfte von ihnen weg, am liebsten nach Deutschland. Auch im Senegal habe ich gearbeitet, dort will auch die Hälfte der Menschen nach Europa gehen. Diese Armutsflüchtlinge aufzunehmen hat mit Humanität nichts zu tun. Islamisten, die in ihren eigenen islamischen Ländern verfolgt werden, sollte kein Asylrecht in Deutschland gewährt werden. Sie sind ein Risiko nicht nur für ihre Herkunftsländer, sondern auch für uns. Man muss klar sagen, dass Sicherheitspolitik der humanitären Politik gleichrangig sein muss, wenn der Rechtsstaat keine Selbstverleugnung betreiben will. Europa würde bei der Aufnahme von 65 Million Flüchtlingen aus Nahost und Afrika nicht mehr als zivilisatorische Entität existieren. Diese Tatsache muss man frei aussprechen dürfen.

PAZ: Sie gelten auch als der Schöpfer des Begriffes der „Leitkultur“, was verstehen Sie darunter?
Tibi: Als ein Mensch nichteuropäischer Herkunft sehe ich europäische Identität deshalb positiv, weil sie einen inklusiven Rahmen bietet, der eine Verbindung zwischen den ethnischen Einheimischen und den Neuankömmlingen in einer Wertegemeinschaft ermöglicht. Ich nenne diesen Rahmen Europäische Leitkultur; eine Option, die nicht nur Islamisten, sondern auch Linksgrüne vehement ablehnen. Nicht nur Flüchtlinge und Islamismus bedeuten eine Gefahr. Eine große Gefahr für Europa stammt aus dem Inneren dieses Kontinents selbst, nämlich aus dem postmodernen, kulturrelativistischen Nihilismus, der jeden Wertebezug als Rahmen für Identität verleugnet. Dieser Verlust an Identität betrifft vor allem Laizität und säkulare Demokratie. Viele Zuwanderer bringen eine Weltanschauung mit, die beides verleugnet. Wenn Deutschland seine eigene Identität und ein vorhandenes Gemeinwesen verleugnet, dann ist die Folge zwangsläufig eine Unfähigkeit zur Integration. Zuwanderer, die sich ausgegrenzt fühlen, werden eine Identitätsalternative suchen und diese wird oft der Scharia-Kopftuch-Islam sein.

PAZ: Wieso kommt es zu dieser seltsamen Allianz von Linkgrünen und Islamisten?
Tibi: Die nihilistischen Linksgrünen sind ein Bündnis mit den Diaspora-Islamisten eingegangen, die zwar Zuflucht in Europa suchen und finden, zugleich aber den Kontinent islamisieren wollen. Es mag seltsam erscheinen, wie linksgrüne Kulturnihilisten mit Islamisten, die ja eigentlich religiöse Absolutisten sind, ein Bündnis eingehen können. Zum Bestand der europäischen Identität und seiner kulturübergreifenden Leitkultur gehören säkulare Demokratie, Laizität und Bürgerschaft als wesentliche Säulen des Gemeinwesens. Wenn man diese Idee von Europa abweist, bleibt nichts übrig. Die Linksgrünen missbrauchen die Flüchtlinge als Ersatzproletariat, um mit ihnen Politik zu machen. Die heutige linksgrüne Ablehnung Europas ist nicht neu; die Abweisung der westlichen Zivilisation als ein Herrschaftszentrum mit all den Übeln von Kolonialismus und Faschismus reicht weit zurück, das weiß ich als ein alter Linker der 1960er Jahre. Max Horkheimer, mein Lehrer in Frankfurt, der als Jude die NS-Zeit in den USA überlebt hatte, hat uns trotz aller Übel, die von Europa ausgingen, klar die positiven Seiten der europäisch-westlichen Werte aufgezeigt, die universell galten und von den alten Linken vertreten wurden, zu denen auch ich gehörte. Heutige Linksgrüne sind hingegen auch wertemäßig antieuropäisch und antiwestlich eingestellt. Westliche Werte werden synonym mit weißer Hautfarbe gleichgesetzt, sodass deren Verteidigung als „Rassismus“ gilt. Die aus der islamischen Zuwanderung notwendig entstehenden „unversöhnlichen Parallelgesellschaften“ sind für die Linken ein Segen, den sie als Multikulturalismus bezeichnen. Der linksgrüne Diskurs dominiert die öffentliche Meinung in Europa. Wer nicht mitmacht, wird in die rechtspopulistische Schmuddelecke gestellt. Als muslimischer Migrant fällt es mir schwer, diesen europäischen Selbsthass nachzuvollziehen. Max Horkheimer forderte uns damals auf, die westlich-europäische freie Welt als „Insel der Freiheit in einem Ozean der Gewaltherrschaft“ zu verteidigen, und zwar nicht nur gegen den Faschismus Hitler’scher Prägung, sondern auch gegen den linken Totalitarismus Stalin’scher und Lenin’scher Provenienz. Ich bin dem Vermächtnis Max Horkheimers treu geblieben. Zu diesen bekannten Feinden Europas kommt heute aber noch ein dritter Feind hinzu: der Islamismus. Wer, wie ich, vor dem totalitären Islamismus warnt, wird von Linksgrünen mit den Vorwürfen „Rassismus“ und „Islamophobie“ eingedeckt. Ich weiß nicht, ob Europa die linksgrüne Selbstverleugnung überleben wird, ich hoffe aber, dass ich die Islamisierung Europas nicht mehr erlebe.  PAZ

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