Sonntag, 18. Juni 2017
Importweltmeister
Wochenlang war der Film Gesprächsstoff. Dann preschte die Bild-Zeitung vor und machte ihn einem breiten Publikum zugänglich. Dies ließ dem WDR keine andere Wahl, als am Mittwoch die umstrittene Doku „Auserwählt und ausgegrenzt – der Haß auf Juden in Europa“ doch zu senden – begleitet nicht nur von eingeblendeten Kommentaren, sondern gleich noch einer Gesprächsrunde bei Sandra Maischberger im Anschluß.
Eingeladen waren dort aber nicht etwa die Macher des Films, sondern Gäste, die zum Thema „Antisemitismus in Deutschland und Europa“ teilweise wenig beizutragen hatten. Zu Beginn stellte sich WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn der Kritik von Historiker Michael Wolffsohn, der im Vorfeld die Nichtveröffentlichung der Doku in die Nähe von Zensur gerückt hatte.
Ausgerechnet mit journalistischen Standards, die die Macher des Films angeblich nicht eingehalten hätten, begründete Schönenborn die Entscheidung des Senders. Mit so viel Chutzpe hatte wohl auch Wolffsohn nicht gerechnet und verwies auf die Ausstrahlung mehrerer antiisraelischer Dokus der Öffentlich-Rechtlichen, bei denen von journalistischen Standards nicht die Rede sein konnte.
Wolffsohn sprach von der besten Antisemitismus-Dokumentation, die bisher im deutschen Fernsehen zu sehen gewesen sei. Seine Begründung: Der Film zeige nicht nur den Judenhaß der alten und neuen Rechten, sondern auch, daß „weite Teile der Linken von diesem Bazillus infiziert sind“ sowie den islamischen Antisemitismus.
Schönenborn betonte hingegen mehrfach, die Ausstrahlung der Doku durch bild.de sei rechtswidrig gewesen. Man merkt: getroffene Hunde bellen! Ohne die Vorgehensweise der Bild-Zeitung wäre der Film wohl noch heute unter Verschluß.
Auf die Rechtfertigung der Macher, die Maischberger vortrug, man könne keinen Film über Antisemitismus machen, der nicht am Ende projüdisch sei, entgegnete Schöneborn: „Man sollte keinen Film über Antisemitismus machen, der nicht pro menschlich ist.“ Und das um kurz vor Mitternacht!
Wer hätte gedacht, daß dieses fast 20minütige Streitgespräch zwischen Wolffsohn und dem intellektuell dürftig argumentierenden WDR-Chef schon der Höhepunkt der Talkrunde war. Die driftete im weiteren Verlauf zusehends in eine Diskussion über den Nahostkonflikt ab. Das kritisierte die Journalistin Gemma Pörzgen zwar wiederholt, nur um aber selbst immer wieder die Diskussion in diese Richtung zu lenken.
Ansonsten monierte sie, daß in Schulen immer über den Holocaust gesprochen, nicht aber auch das palästinensische Narrativ wiedergegeben werde. Dem Film attestierte sie „intellektuelle Dürftigkeit“. Über die Macher der Doku hatte sie eine klare Meinung: „Die Journalisten hatten eine klare Agenda.“ Später fragte die garantiert agendafreie Pörzgen: „Wo ist in den Medien das Gedenken an 50 Jahre israelische Besatzung?“
Auch das ehemalige Mitglied des Zentralrats der Juden, Rolf Verleger, präsentierte sich als ein Talkgast, der bundesrepublikanische Klischees offenbar inhaliert hat. Am Ende verlangte er eine Distanzierung seiner Religionsgemeinschaft von der israelischen Politik. „So geht es nicht weiter bei uns Juden“. Antisemitismus habe er als Jude und Sohn von Holocaustüberlebenden in Deutschland noch nicht erfahren. Viel problematischer seien ohnehin die antimuslimischen Einstellungen von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung.
Eine weitere Erkenntnis verdanken wir der nächtlichen Runde: Der ehemalige Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) – mittlerweile 81 – sollte besser nicht mehr im Fernsehen auftreten. Wer schützt diesen Mann vor sich selbst, mag sich der Zuschauer an vielen Stellen gefragt haben. Etwa wenn Blüm den palästinensischen Terror mit der israelischen Politik gleichsetzte oder faktenbefreit die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila, in denen christliche Milizen 1982 palästinensische Zivilisten umbrachten, an der libanesischen Grenze verortete (sie befinden sich in der libanesischen Hauptstadt Beirut). Daß es Blüm am Ende für notwendig hielt, klarzustellen, er habe nichts mit Stürmer-Herausgeber Julius Streicher zu tun, sagt alles über seinen Auftritt.
Lichtblicke in der Debatte waren Wolffsohn und der israelisch-arabische Psychologe Ahmed Mansour. Mansour, der als Kind selbst mit dem Judenhaß seiner israelisch-arabischen Gemeinde aufwuchs, lernte erst durch den Kontakt mit jüdischen Kommilitonen während des Studiums in Tel Aviv, den Staat Israel in neuem Licht zu sehen. Er selbst sei kein Freund der israelischen Politik, aber auch manche Kritik an der israelischen Regierung könne bereits Antisemitismus sein.
Der Experte für muslimischen Judenhaß stellte auch klar: Der Antisemitismus, wie er etwa auf manchen pro-palästinensischen Demonstrationen in Berlin zur Schau getragen wurde, sei kein Produkt der Masseneinwanderung seit 2015. „Das sind Menschen mit türkischer oder arabischer Herkunft, die hier seit Generationen leben.“
Auf die Frage, wie man Antisemitismus erkennen könne, hatte wiederum Wolffsohn eine eingängige Merkregel parat: D-D-D. Dämonisierung der Juden, Delegitimierung der jüdischen Existenz und doppelte Standards, womit etwa die Kritik an der israelischen Besatzungspolitik gemeint ist, während über andere, viel schlimmere Phänomene, etwa in Afrika, geschwiegen werde.
Hätten die Zuschauer nur für diese drei Buchstaben eingeschaltet, hätten sie bereits das wichtigste an diesem Abend mitgenommen. Das Fazit bleibt: Der moslemische Judenhaß ist für die ARD kein drängendes Problem. Manche Journalisten in Deutschland werden den alltäglichen Haß, dem viele Juden hier Tag für Tag ausgesetzt sind, wohl erst verstehen, wenn diese massenweise, wie in Frankreich, die Koffer packen, um in Israel ihre neue Heimat zu finden. Weit sind wir davon nicht mehr entfernt. JF
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