"Die einschneidendste Veränderung, die der Zweite Weltkrieg der
Welt bescherte, war die Geburt einer neuen, moralisch absoluten Größe:
die der Nazis als des universellen Bösen. In einer Kosmogonie, die sie
mitentworfen hatten, stellten die Nazis den Satan dar und stifteten
damit für die Welt, die sie zerstören wollten, Sinn und Zusammenhalt.
Erstmals, seit die europäischen Staaten begonnen hatten, sich von der
Kirche loszusagen, fand die westliche Welt zu einem neuen gemeinsamen
transzendentalen Universal. Vielleicht lebte Gott nicht mehr, doch in
ihren dunklen Uniformen waren die Herren der Finsternis für alle gut zu
erkennen. Wie es das Zeitalter des Menschen verlangte, hatten sie
Menschengestalt; wie es das Zeitalter des Nationalismus gebot, waren sie
ethnisch definiert – nicht in dem Sinne, dass alle Deutschen willige
Vollstrecker gewesen wären, sondern in dem Sinne, dass die
Naziverbrechen ethnisch begründet waren und die Deutschen als Nation für
sie verantwortlich gemacht wurden. (...)
Es war, mit anderen Worten
nur eine Frage der Zeit, wann die Hauptopfer nationalsozialistischer
Gewalt zu den universellen Menschheitsopfern würden. Vom auserwählten
Volk des jüdischen Gottes waren die Juden zum auserwählten Volk der
Nazis geworden. Und dadurch, dass sie zum auserwählten Volk der Nazis
geworden waren, wurden sie nach dem Weltkrieg zum auserwählten Volk des
Westens. In der westlichen Öffentlichkeit avancierte der Holocaust zum
Maß aller Verbrechen und Antisemitismus zur einzig unverzeihlichen Form
von ethnischem Fanatismus."
Yuri Slezkine, "Das jüdische Jahrhundert", New Jersey 2004 (Deutsch 2006), S. 347. mehr hier
Wie wäre es mit einer 120 Grad Wendung?
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Für Bernd Ulrich, Stellvertretender Chefredakteur der Zeit, stellt der Einzug der AfD in den Bundestag prinzipiell ein größeres Verhängnis dar als die Anwesenheit der Islamisten
in Deutschland. Denn jene seien bloß eine „sicherheitspolitische
Gefahr“, diese aber eine „hegemoniale Bedrohung“, tönt er in seinem
jüngsten Leitartikel. Die „Bedrohungslage“ hätte sich am 24. September
verschärft.
Hinter solchem Wahnsinn steckt eine gewisse Logik: Die rot-rot-grüne
Hegemonie hat die geistig-moralischen Voraussetzungen für die
Implementierung der Islamisten-Szene in Deutschland geschaffen und sorgt
dafür, daß ihr Umfeld und Rekrutierungspotential sich ständig
ausweitet. Insofern läßt sich nachvollziehen, daß Ulrich sie milder
beurteilt als diejenigen, welche die fatale Hegemonie, für die er steht,
bekämpfen.
Verkürzung der deutschen Geschichte
Die Auseinandersetzung mit der AfD will er auf dem Feld der
Geschichtspolitik suchen – wegen „der Rückkehr des Nationalismus“, die
sich mit Alexander Gauland ankündige. Sein „Ausgangspunkt für einen
neuen Patriotismus“ lautet: „Deutschland ist das einzige Land auf der
Welt, dessen zentrale Geschichte von sich selbst weder von Heldentum
noch von Märtyrertum handelt, sondern von Schuld, Buße Läuterung (…).
Dies aber ist kein Defizit, sondern ein eigener Ton im Konzert der
Völker. In dieser Besonderheit liegt vielleicht sogar der tiefste Grund
für die Erfolgsgeschichte, die dieses Land nach 1945 schreiben durfte,
so unautoritär, divers, ökologisch und ökonomisch stark, wie es nun
geworden ist.“
Schuldstolz trifft auf Größenwahn! Im Ernst: Die Begründer der
bundesdeutschen „Erfolgsgeschichte“ waren keine un- oder antiautoritären
Diversity-Schwätzer, sondern harte, disziplinierte Arbeiter. Was
Ullrich anpreist, ist die Verkürzung der deutschen Geschichte zur
Vorgeschichte des Nationalsozialismus und ihre Elimination zur
„Nichtgeschichte“ (Karl Heinz Bohrer). Alle früheren Kanzler
einschließlich Willy Brandt haben sich gegen diesen Blödsinn verwahrt.
Helmut Schmidt, der spätere Zeit-Herausgeber, sagte 1979, nach Israel wolle er nicht als „wandelnde Aktion Sühnezeichen“ reisen.
Politisches Denken versandet in Hypermoral
Das verdruckste Selbstbild der Nationalgeschichte, das der Zeit-Mann
feiert, läßt die historischen Kraft- und politischen Entwicklungslinien
außer acht, die in die Gegenwart hinein- und in der Zukunft
weiterwirken. Das politische Denken versandet in einer Hypermoral, die
zu irrsinnigen Konsequenzen führt wie die, daß man die Grenzen seines
Landes weder schützen kann noch darf. Man setzt das Land aufs Spiel und
macht sich verhaßt bei den Nachbarn, die man ins Verhängnis zieht. Und
überläßt die Ersparnisse der eigenen Bürger dem Belieben eines
ehemaligen Goldmann-Sachs-Bankers.
Angela Merkel allerdings ist die erste Kanzlerin ganz nach diesem
Bilde. Sie sagte am 11. November 2009 in Paris, als Frankreich seinen
Sieg im Ersten Weltkrieg beging: „Wir werden nie vergessen, wie sehr in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Franzosen durch Deutsche zu
leiden hatten. Der schonungslose Umgang mit der eigenen Geschichte ist –
davon bin ich überzeugt – die einzige Grundlage, um aus der Geschichte
zu lernen und die Zukunft gestalten zu können.“
Merkels Umgang war nicht „schonungslos“, sondern geschichtsfälschend
und unterwürfig. Der Anteil der französischen Revanchepolitik am
Ausbruch des Ersten Weltkriegs war eher höher als der einer kopflosen
deutschen Reichsleitung. Vom Versailler Vertrag, der die Grundlage für
die folgenden Katastrophen legte, ganz zu schweigen.
Gegenseitiger Respekt
Für „das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in
zwei Weltkriegen“, hätte Alexander Gauland sich allerdings solidere
Gewährsmänner suchen sollen. Vor allem hätte er den Ersten deutlich vom
Zweiten Weltkrieg abheben müssen. Angemessener als „Stolz“ wäre der
„Respekt“ gewesen. Beim Abschluß des Locarno-Vertrags 1925 rief der
französische Außenminister Aristide Briande seinem deutschen
Amtskollegen Gustav Stresemann (mit dem er gemeinsam den
Friedensnobelpreis erhielt) zu, Deutsche und Franzosen müßten sich auf
den Schlachtfeldern nichts mehr beweisen, beide Völker hätten gezeigt,
daß sie kämpfen könnten. Der Respekt war gegenseitig.
Zur Tragik des deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg hat der
französische Staatspräsident François Mitterrand beim Staatsakt am 8.
Mai 1995 in Berlin das Nötige gesagt: „Ich bin nicht gekommen, um die
Niederlage herauszustellen, weil ich wußte, welche Stärken das deutsche
Volk hat, welche Tugenden, welcher Mut, und wenig bedeutet mir seine
Uniform und auch die Vorstellung in den Köpfen dieser Soldaten, die in
so großer Zahl gestorben sind. Sie waren mutig. Sie nahmen den Verlust
ihres Lebens hin. Für eine schlechte Sache, aber ihre Taten hatten damit
nichts zu tun. Sie liebten ihr Vaterland. Das muß man sich klar machen.
Europa bauen wir auf, wir lieben unsere Vaterländer.“
Keine hektischen Wendemanöver
Wer das nicht nachvollziehen kann, liebt gar nichts, weder das eigene
Land noch Europa, höchstens den Vorteil, andere ungestraft diffamieren
zu können und sein Auskommen in der Bewältigungsindustrie.
Die Aussage Gaulands, „diese zwölf Jahre“ würden „unsere Identität
heute nicht mehr (betreffen)“, wird schon dadurch, daß er sie für nötig
hielt, zum Widerspruch in sich. Der Berliner AfD-Vorsitzende Georg
Pazderski hat in der Debatte im Abgeordnetenhaus am Gedenktag für die NS-Opfer ganz klare und persönliche Worte gefunden:
Sein Vater war ein polnischer Zwangsarbeiter, der 17jährig aus Warschau
nach Deutschland verschleppt worden war. Das Beispiel zeigt, daß die
NS-Zeit sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene „ein
ganz wesentlicher Teil“ (Padzerski) unseres Geschichtsverständnisses
bleibt. Im Ausland ist das ohnehin der Fall, und es wäre unklug von
einer Partei, das zu ignorieren.
Aber sie ist nicht das Zentrum, nicht die geschichtliche Summe und
erst recht nicht das alles verschlingende Schwarze Loch, in das eine
ersatzreligiöse Geschichtspolitik sie zu verwandeln versucht. Um diese
Schwarze Magie zu beenden, sind keine hektischen Wendemanöver um 180
Grad, aber deutliche und gut begründete Korrekturen gefragt. Sonst
büßen, läutern und vererbschulden wir uns in Kürze zu Tode. Thorsten Hinz
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