Im Dezember 2004 veröffentlichte der Syrer Abu Musab al-Suri ein
sechshundert Seiten starkes Handbuch des „globalen islamischen
Widerstands“ im Internet. Er galt zu diesem Zeitpunkt schon als
wichtiger Theoretiker des „Heiligen Krieges“.
Aber nicht nur das. Al-Suri selbst war an einem der ersten
islamistischen Anschläge in Europa beteiligt, dem Bombenattentat von
1985 auf ein Restaurant in Madrid, dem achtzehn Menschen zum Opfer
fielen. Er gehörte zu den Drahtziehern weiterer Angriffe, verbrachte
Jahre im Kampf in Afghanistan und stieg in den Führungszirkel von
al-Qaida auf.
Allerdings störte seine Kampfgefährten, daß al-Suri die Organisation
nur als eine notwendige Vorstufe des weltweiten Dschihadismus
betrachtete und daß es ihm weniger darum ging, wie man den Terrorismus
institutionalisieren könnte, eher darum, welche „Methode“ zum Ziel
führen werde, nämlich die Vernichtung des Hauptfeindes USA und dann
seiner wichtigsten Verbündeten, Israels und der europäischen Staaten.
Vor allem müsse es darum gehen, äußerte al-Suri, die „Normalisierung“
im Verhältnis zwischen eingewanderten Muslimen und Gastvölkern zu
verhindern. Solange nicht an einen offenen Aufstand in den westlichen
Ländern zu denken sei – der bleibe einer späteren Phase vorbehalten –,
solle man den Feind durch Einzelaktionen verunsichern und schwächen.
Jeder könne zum „Heiligen Krieger“ werden, indem er Ungläubige angreife,
insbesondere Juden und Menschen, die durch ihren Lebenswandel das
Mißfallen des Frommen erregten.
Der Anschlag in Manchester entspricht genau diesem Konzept. Der
Mörder, Kind libyscher Flüchtlinge, lange Jahre offenbar gut integriert,
hat das getan, was al-Suri vorgeschlagen hat: radikale Scheidung von
denjenigen, denen man Sicherheit, Heim, Bildung, Einkommen verdankt,
Aufbau einer Sonderidentität, in der das Selbstbild als „Opfer“ – des
Rassismus, der Islamophobie – gekoppelt wird mit einem ausgeprägten
Überlegenheitsbewußtsein – als Träger des wahren Glaubens und der großen
muslimischen Kultur –, Zellenbildung, Ausnutzen der ethnischen und
religiösen Fragmentierung des Landes, in dem man lebt, Einfordern von
Loyalität bei den „Gemäßigten“, Beschaffung der Mittel, um irgendeine
Art von tödlicher Attacke zu führen.
Die haben die britischen Sicherheitsorgane nicht verhindern können.
Ein Tatbestand, der schon deshalb schwer wiegt, weil das Land eines der
am stärksten überwachten in Europa ist und einen Geheimdienst hat, der
seine Arbeit tun kann. Trotzdem gelingt es den Behörden offenbar nicht,
den Terror einzudämmen. Die zweite Alarmstufe gehörte für die Briten
längst zum Alltag, die Erhöhung auf das höchste Niveau bis vergangenen
Montag war nur etwas auffälliger.
Die Verantwortlichen bekunden ihr Entsetzen über das Geschehen,
beschwören Einigkeit und fordern die Bürger auf, Ruhe zu bewahren. Aber
es wird immer stärker spürbar, daß diese Appelle an Wirkung verlieren.
Denn das, was geschieht, sind keine isolierten Taten verstörter
„Extremisten“, sondern Konsequenzen einer gesellschaftlichen
Entwicklung, die seit Jahrzehnten abläuft: ungezügelte Einwanderung,
wahlweise mit wirtschaftlichen oder humanitären Argumenten
gerechtfertigt, Indifferenz gegenüber dem immer „bunter“ werdenden Land,
mehr oder weniger hilflose Versuche der Assimilation, dann der
Anerkennung von diversity, Vielfältigkeit, als neuem Leitstern von „cool
Britannia“, zuletzt das Bemühen, die Zugbrücke hochzuziehen und
wenigstens alle Weiterungen aufzuhalten.
Aber selbst wenn das gelingt, sind die bereits bestehenden Probleme
alles andere als gelöst. Probleme, die in Großbritannien mit seinen
permanenten Rassen- und Glaubenskonflikten längst ein dramatisches
Ausmaß erreicht haben. Die Situation in den übrigen europäischen Ländern
unterscheidet sich kaum davon. Denn faktisch geht es immer um die
Wirkungen ein und derselben Fehlentscheidung. Gemeint ist die
fahrlässige Aufgabe eines schwer errungenen und hohen Gutes: der
Homogenität des Staatsvolkes. In jahrhundertelangen
Auseinandersetzungen, als Ergebnis von Revolutionen und
Erziehungsprogrammen, der Erinnerung an gemeinsam bestandene Niederlagen
und gemeinsam errungene Siege war erst entstanden, was eine „Nation“ im
Vollsinn ausmacht.
Diesem größeren Ganzen konnte man im günstigen Fall sogar eine
freiheitliche Verfassung geben, weil die vorpolitisch-politische Einheit
der Garant für den Zusammenhalt der vielen war. Das hat man in der
Nachkriegszeit vergessen, auch vergessen wollen, die Nation als
anachronistisch und als Last empfunden und für das Linsengericht des
neuen Weltbürgertums, der allgemeinen Verbrüderung im Namen von
Fortschritt, ökonomischem Vorteil und grenzenlosem Vergnügen
weggeschenkt.
Diejenigen, die vor den Folgen warnten, wurden nicht gehört. Sie hat
man verlacht, denunziert, verfemt. Dabei ist es bis heute geblieben.
Denn die Politische Klasse liebt keine schlechten Nachrichten, die den
Komfort des Machthabens stören. Und viele in ihren Reihen wissen sehr
genau, wer für die Misere verantwortlich ist.
Immer wieder hat man gegen den erklärten Willen derer, „die schon
länger hier leben“ (Angela Merkel), die Grenzen geöffnet, die Fremden
geholt, in bezug auf die Folgen beschwichtigt und getäuscht und zuletzt
die wahnwitzige Vorstellung in Umlauf gebracht, daß sich die Lage von
selbst stabilisieren werde, wenn man den Zerstörungsprozeß mit aller
Kraft und bis zur letzten Konsequenz vorantreibt. Die Etablierten sind
es, die ein elementares Interesse daran haben, daß wir alle brav „den
Blick nach vorn richten“ und niemand die Fragen stellt, die unbedingt
gestellt werden müssen, bevor überhaupt daran zu denken ist, etwas zu
ändern: Wie konnte es so weit kommen? Wer trägt die Verantwortung?
Welche Strafe hat er verdient? Karlheinz Weißmann
Form hat noch immer das Amorphe besiegt.
Die
Menschen des Westens haben nach 1945 immer mehr alle Form abgelegt.
Schlimmer noch als die anarchische Zügellosigkeit des Geschlechtstriebs
ist im Westen die Entkoppelung des Glaubenstriebs von den formgebenden
Zügeln der Religion. Der Glaubenstrieb bahnt sich seinen Weg, indem er
willkürlich an beliebigen fixen Ideen haftet. Wahn und Gewissheit werden
dadurch ununterscheidbar für den westlichen Durchschnittsmenschen,
während noch der fanatischste Muslim spürt, wo die Gewissheit des
Wissens endet und für ihn die Gewissheit des Glaubens beginnt.
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