Geneigter Leser, die auf der anderen Seite des Grabens, um sie mal so zu
nennen, wissen natürlich so gut, wie es die Briten im Ersten Weltkrieg
wussten, dass man dem Gegner eine langwierige Materialschlacht
aufzwingen muss, wenn man selber weniger Qualität, aber deutlich mehr
Menschen und Material auffahren kann (Hut ab vor der britischen
Kampfkraft gleichwohl). Ich befinde mich zwar, wie gesagt wird, im unermüdlichen Einsatz
für die Verbreitung von Aufklärung, Liberalität und Esprit in meinem
intellektuell ja seit ca. 1933 von mehrheitlich erstaunlich
uninspirierten und unfreien Geistern repräsentierten armen Vaterland –
aber tatsächlich gestaltet sich diese Mission durchaus ermüdlich. Ich
bin in eine Art publizistischer Materialschlacht geraten, und zwar auf
der quantitativ unterlegenen Seite – auf der anderen würde ich nie
mitmachen –, und begreife allmählich, worauf ich mich eingelassen habe.
Der Hydra wachsen täglich neue, kaum voneinander unterscheidbare und nur
dank ihrer schieren Zahl überhaupt so etwas wie Drohpräsenz
ausstrahlende Köpfe nach.
Nun hat sich auch das postheroische
Haupt des Gustav Seibt aus einem der hydräischen Hälse gestülpt und
giftig zu fauchen begonnen. Seibt ist insofern schlachterprobt, als er
schon Ernst Nolte, der damals das deutsche Feuilleton praktisch im
Alleingang zu zerquetschen sich anschickte, couragiert als ca. 217.
Publizist die Stirn bot. Jetzt wendet sich der sublimste Geist der Süddeutschen Zeitung kühn gegen Rolf Peter Sieferles nachgelassenes Buch "Finis Germania" und dessen staatsfeindliche Empfehlung durch einen Spiegel-Kollegen, gerade noch ehe es zu spät (für ihn, Seibt) ist bzw. hätte sein können.
Beiseite
und in diesem Land wohl eher in den Wind gesprochen: Es ist kein
Problem, sich gegen welches Buch und welche Theorie auch immer zu
erklären, aber was ein Kerl ist, der schneidet sich eher beide
Schwurfinger ab, als sich an einer Hexenjagd gegen einen Autor zu
beteiligen, was auch immer der geschrieben haben mag. Schluss. Aus.
Ende.
Was die aktuelle Wortmeldungen Seibts für den
Gesellschaftspathologen interessant macht, ist die geradezu
kopernikanische Wende seiner Einstellung zu dem postum nunmehr
einer leider nicht ganz beispiellosen, sondern mit gewohnter Infamie
ablaufenden Denunziationskampagne ausgesetzten Universalhistoriker
Sieferle. Also reiben Sie sich, geneigter und geplagter Leser, sofern
Sie kein routinierter Pathologe sind, irgendeine Mentholpaste unter die
Nase, und auf geht’s!
Am 9. Oktober 2016 schrieb Seibt in der Süddeutschen Zeitung:
"Der
1949 geborene, seit 2000 in St. Gallen lehrende Rolf Peter Sieferle war
ein Autor, dessen Register von terminologisch verdichteter Theorie bis
zu kulturphysiognomischer Polemik reichte. Sieferles weitgehend
selbstgeschaffenes Fachgebiet war die Naturgeschichte der menschlichen
Gesellschaften, deren Funktionieren er aus ihrem Energiestoffwechsel
ableiten konnte, und zwar bis in die Verästelungen von Verfassung
und Lebensstil.
In atemberaubenden Übersichten von der Urzeit bis zur
Digitalisierung lieferte er die Theorie, also die gedankenreiche
Anschauung des Ausnahmezustands, in den sich die Menschheit seit der
Industrialisierung begeben hat (...)
Sieferle war ein
unerschrockener, immer rationaler Denker, der sich auch dann nicht aus
der Ruhe bringen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog.
Konservativ war allenfalls sein Bewusstsein für natürliche Grenzen.
2010
verfasste er für den 'Wissenschaftlichen Beirat Globale
Umweltveränderungen' der Bundesregierung eine auch im Netz abrufbare
Abhandlung 'Lehren aus der Vergangenheit'. Sie liefert auf nur 30 Seiten
eine theoretisch hochverdichtete Gesamtsicht zur Menschheitsgeschichte
von der neolithischen Revolution bis zur Energiewende. Sollte es im
Bundesumweltministerium Beamte geben, die diesen Text verstehen, könnte
man sich in jene Zeiten zurückversetzt fühlen, als Gelehrte wie die
Humboldts den preußischen Staat berieten." (Hier.)
Am
8. Dezember beendete Seibt einen weiteren Nekrolog auf Sieferle mit den
Worten: "Die treuen Leser dieses großen Autors warten nun auf sein
letztes Werk." (Hier.)
Vor drei Tagen erklärt derselbe Seibt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk zu Sieferles allerletztem Werk "Finis Germania":
"Nein,
ich würde es nicht als Sachbuch weiterempfehlen. Es ist ein Text, der
symptomatisch von einem gewissen Interesse ist für eine bestimmte
Denkform, aber in einer Liste, die ein allgemeines Publikum erreichen
soll, das sich Belehrung und Erkenntnis und möglicherweise auch
intellektuelle Unterhaltung verspricht, hat ein solches Buch nichts zu
suchen."
"Es sind zugespitzte kürzere oder längere Essays aus dem
Nachlass dieses als Wissenschaftler nicht völlig unbedeutenden Autors,
die er wohl so gar nicht publizieren wollte. Also das war eine
Entscheidung seiner Erben und der mit ihm verbundenen Verleger, das an
die Öffentlichkeit zu bringen. Es gibt nicht mal ein Nachwort (das Buch
hat ein Nachwort von Sieferles Freund Prof. Raimund Th. Kolb – M.K.), es
gibt nicht mal eine biografische Erläuterung, es gibt gar nichts dazu.
Das heißt, das Buch wird nicht einmal irgendwie eingeordnet, und schon
das macht es hoch problematisch."
"Sieferle war zunächst einmal
ein ernsthafter Wissenschaftler (...) Umso erschreckender und
bedrückender ist eigentlich dieser Absturz jetzt in seiner letzten Phase
in auch wüstes Schimpfen und Primitivität. Also er verliert dann auch
den Glanz seiner Differenzierungsfähigkeit, wenn er zum Beispiel auch in
diesem kleinen Büchlein sich dann kulturkritisch lustig macht über die
massendemokratische Gesellschaft, wo eben jedermann konsumieren darf und
alles in die Richtung Verprollung geht, aber eben so eine anspruchsvoll
verbrauchende Verprollung und so weiter. All das kann man ja irgendwie
wahrnehmen und wiedererkennen, aber das Problem bei Sieferle ist in
dieser letzten Zeit der gnadenlose Zynismus.
Er hat auch gar keinen Gegenvorschlag."
"Aber
das hat natürlich nichts zu suchen auf einer Liste empfohlener Bücher
jetzt für den Gabentisch – ich nehm mir mal was mit, was ich im Flugzeug
mit Interesse lese –, also da hat so ein Buch eigentlich nichts zu
suchen."
Einem Menschen, der sich den Freitod gegeben hat,
vorzuwerfen, er unterbreite in seiner quasi testamentarischen Schrift
keine Vorschläge, zeugt schon von einem besonders zarten Gemüt. Und ob
sich künftig eine Kommission unter der Leitung z.B. von Herrn Seibt
zusammenfindet, um Bücher, vor allem die fürs Flugzeug, mit
"einordnenden" Nachworten zu versehen? Im praktisch nicht existierenden
Nachwort zu "Finis Germania" schreibt Raimund Kolb: "Vom Wunsch einer
posthumen Publizierung des Textes" dürfe man "zweifelsfrei ausgehen".
Sieferles schriftliche Hinterlassenschaft auf dem Rechner "befand sich
in einer akribischen Ordnung, gereinigt von allem, was nicht einer
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte". Seibt unternimmt
jetzt, wie andere vor ihm, den Versuch, Sieferles letztes Opus, das so
luzide ist wie seine anderen Arbeiten, wenngleich durchaus atemloser,
aphoristischer und apodiktischer, für nicht zur Veröffentlichung
vorgesehen zu erklären. Willkommen in der Welt der Canaillen!
Die
Überschrift des Interviews lautet "Ein erschreckender Absturz", und sie
passt, sofern wir das Attribut in "possierlich" oder "ergötzlich"
ändern, zu dieser Selbstdemaskierung eines Opportunisten und
publizistischen Feiglings. "Mit mächtigen Kraulbewegungen", wie ein
Bekannter notierte, "schwimmt Seibt ans rettende Ufer" – obwohl in
seinem Fall Waten genügt hätte –, vor allem aber zurück auf die
Einladungslisten der Kulturschickeria. "That one may smile, and smile,
and be a villain" (Hamlet).
War es schon drollig, dass der Spiegel-Chefredakteur
K. Brinkbäumer das Land wissen ließ, welches Buch ein Angestellter
seines Hauses zu empfehlen nach seiner, Brinkbäumers, Meinung (natürlich
nicht wirklich nach seiner, der hatte nie eine) zu unterlassen hat,
pflichtet dem nun ein Autor bei, also einer, der sich schon seiner
Standesehre wegen eigentlich hinstellen müsste und sagen: Nun ist aber
gut, wir leben in einem freien Land, und ein Juror kann jedes Buch
empfehlen, das er will, sofern es nicht explizit verboten ist, weil
darin zum Beispiel zum Analsex mit unbegleiteten minderjährigen
Geflüchteten oder zur Ermordung der AfD-Spitze aufgerufen wird. (Sagte
ich Standesehre? Geben Sie mir Pardon für meine Neigung, gelegentlich geschmacklose Witze zu reißen...)
Was
mag Seibt widerfahren sein, dass aus dem "unerschrockenen Denker"
Sieferle ein "erschreckender", aus dem "großen Autor" ein "nicht völlig
unbedeutender", also quasi ein Ranggenosse Seibts werden konnte? Haben
ihm die Häscher der Reichsschrifttumskammer die Instrumente gezeigt? Hat
ihn ein Büttel der Agitationskommission im dunklen Flur der SZ
erschreckt? Man muss diesen Leuten, die ja selber nie in einer Dikatur
gelebt haben und deshalb wahrscheinlich auch kein Empfinden dafür
besitzen, immer wieder unter die Nase reiben, dass sie gerade dabei
sind, eine zu errichten, Steinchen auf Steinchen, Denunziatiönchen für
Denunziatiönchen, Verbötlein für Verbötlein, und zwar mit exakt
denselben Worten, mit denen zum Beispiel in Honeckers Drecksstaat
feindlich-negative Personen traktiert wurden: "Er hat keinen
Gegenvorschlag." Wo bleibt das Positive, Genosse? Es gibt eben für
manchen keinen Gegenvorschlag zum Sterben, weil er inmitten gewisser
Kreaturen nicht länger leben mag.
Ich will hier nicht nochmals
über Inhalt und Thesen von "Finis Germania" referieren; jeder Leser
dieses Diariums weiß, dass ich ähnlich denke und zu vergleichbaren
Folgerungen komme wie Sieferle, allerdings, da ich Kinder habe,
weiterleben muss, also zwischen politischer Betätigung, innerer
Emigration und Exilvorbereitung changiere. Mit diesem Eintrag werde ich
es zum Fall Sieferle bewenden lassen; ich erwarte von den Besuchern
meines schöngeistigen Eckladens, dass sie sich selber ein Bild machen –
das unverhofft, wenn auch hochverdient zum Bestseller aufgestiege Buch
wird gerade nachgedruckt und ist in Kürze wieder lieferbar hier
– und auch meinen Einschätzungen zutiefst misstrauen, ja mich auf den
rechten Weg zurückzuführen suchen, wenn ich in den Irrgärten meiner
Spekulationen und polemischen Übertreibungen auf der Suche nach
Letztgültigkeiten herumirre wie Jack Torrance. (Wobei: Am Ende ist er
vielleicht sogar ein gutes Vorbild, der Jack...) MK am 15. 6. 2017
"Alle sprechen darüber, und das ist das Schlimme daran": Der nächste Sklave distanziert sich von "Finis Germania" (hier). Wieviel abgefeimte Saturiertheit steckt allein hinter dem Vorschlag, der Spiegel-Juror
hätte, wenn er über das Buch diskutieren wollte, es doch in seiner
Zeitung tun können. Dass Teile des Buchs womöglich nicht von Sieferle
stammten, kann nur jemand behaupten, der es nicht gelesen hat oder
nichts von Stil versteht (was ich bei Münkler nicht glaube) oder eben
eine Proskynese vor wem auch immer zu vollziehen für geboten hält. Ein
anderes Mitglied der Jury hat mir erzählt, dass die Kumulation von
Punkten explizit als Möglichkeit bestand und sicherlich auch andere
Juroren immer wieder so verfahren sind. (Was die peinlichen Einlassungen
zum angeblich falschen Latein des Titels angeht, verweise ich auf die
lebhafte Diskussion in diesem Diarium am 12. und 13. Juni.)
***
Wenn Sie als Kontrast und zur Abwechslung mal einem Mann zuhören wollen: hier.
"For the Postmodernists ist the world a Hobbessian battleground of
identity groups, they do not communicate with each other because they
can’t. All there is a struggle for power." (Münkler würde das vermutlich
sogar unterschreiben, er würde es aber nie sagen).
***
Die
ganze geifernde Wut gegen das Sieferle-Buch – oh wie gern häte man ihn
lebend am Pranger! – zeigt letztlich nur eins: Man will diesem
schrumpfenden Volk nicht einmal die Klage über den Verlust seiner
Kultur, seiner Heimat und seiner Identität zugestehen.
Weil:
Kultur, Heimat und Identität sind bloß "Konstrukte". Zumindest sofern
sie mit dem Attribut "deutsch" verunziert sind. Dass der Wahabismus, das
Türkentum oder gleich der ganze Islam bloß ein Konstrukte sind, hören
wir nie. Manche Kontrukte können nämlich echt wild werden, wenn man sie
so nennt. MK am 16. 6. 2017
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.