Stationen

Dienstag, 10. November 2020

Nicht der Welt abhanden gekommen, aber der Zeit

Seit 1987 hat der Wiener Karolinger-Verlag schubweise die Aphorismen des kolumbianischen Aristokraten, Privatgelehrten und "Zeitfremdlings" (Botho Strauß) Nicolás Gómez Dávila auf deutsch herausgebracht. Dávila, 1913 in Bogotá geboren, entstammte einer Großgrundbesitzerfamilie, wuchs in Paris auf und kehrte 1936 nach Kolumbien zurück, um das Land mit Ausnahme einer Europa-Reise nie wieder zu verlassen. Politische Ämter, die ihm zwei Staatspräsidenten antrugen – einmal als Regierungsberater, einmal als Botschafter –, lehnte er ab. Den größten Teil seines Lebens verbrachte dieser "Einsiedler am Rand der bewohnten Erde" (Martin Mosebach) stattdessen in der nach seinen Wünschen zusammengestellten, zuletzt 35000 Bände in allen großen europäischen Sprachen umfassenden Bibliothek, wo er sich der Lektüre sowie der Niederschrift seiner Werke widmete – Dávila las und sprach neben Spanisch Französisch, Englisch, Deutsch, Latein und Altgriechisch.

Don Nicolás veröffentlichte seine Sentenzen und kurzen Texte zunächst als Privatdrucke für den Freundeskreis und tat zeitlebens – er ging 1994 zu den Vielen – nichts für deren Verbreitung. Einem geheimen Weltgesetz zufolge bleibt echte Qualität jedoch niemals verborgen. 1977 erschien in zwei Bänden sein Hauptwerk "Escolios a un texto implicito" ("Scholien zu einem inbegriffenen Text"), 1986 durch "Nuevos Escolios a un texto explicito" ("Neue Scholien") und 1992 durch "Sucesivos Escolios a un texto explicito" ("Fortgesetzte Scholien") weitergeschrieben, und inzwischen werden die Aphorismen des katholischen Reaktionärs und elitären Schöngeistes in viele Sprachen übersetzt (es gibt sogar sogar muslimische Intellektuelle, die ihn bewundern).

Scholien sind kommentierende Rand- oder Interlinearbemerkungen des Bibliothekars am klassischen Text. Wenn Gómez Dávila seinen Haupttext als diesen Glossen inbegriffen bezeichnet, heißt das, dass es dem Leser vorbehalten bleibt, ihn bei der Lektüre in seinem Innern mitentstehen zu lassen. Was nach südamerikanischer Bibliothekars-Selbstmystifzierung klingt, beschreibt tatsächlich ein konzises Denken, welches den Aphorismus als Stilmittel verwendet, um seinen Gegenstand konzentrisch einzukreisen. Und jene Scholien, die das fiktive Werk umzüngeln, sind schlicht und einfach Weltliteratur.

Nun hat der Karolinger-Verlag eine Gesamtausgabe der "Escolios" herausgebracht, 10.370 Aphorismen – jeder ist in Akkordanz mit der spanischen Gesamtausgabe ("Obras completas", Bogota 2005) durchnummeriert – auf 900 Seiten. Eine Schatz- und Wunderkammer, ein Asyl, ein geistiges Sauerstoffzelt, ein Arsenal, eine Mönchsklause, ein Kristallpalast, eine Waffenkammer. Egal, wie oft man sich durch diese Texte gelesen, wieviele Sentenzen man sich in den Vorgängerausgaben angestrichen hat, es tauchen immer wieder neue Preziosen auf: 


Eine mysteriöse senile Bluterkrankung macht gealterte Zivilsationen dafür anfällig, an irgendeiner Kratzwunde zu sterben.

Der Moderne glaubt nur an die Verstandesschärfe derer, die etwas in Verruf bringen.

Die intelligente Diskussion muß sich darauf beschränken, Meinungsverschiedenheiten zu erläutern.


Das eigene Denken langweilt am Ende genauso wie das eigene Gesicht.


Die Nächstenliebe wurde als beste Ausrede patentiert, um vom Glauben abzufallen.


Wenn die öffentliche Meinung ihn im Stich lässt, bleibt dem Demokraten nur noch ein Wimmern.

Die Menschen sind weniger gleich, als sie sagen, und mehr, als sie denken.

Lesbaren Unsinn zu schreiben ist das Privileg der großen Intelligenzen.

Die Messe kann in Palästen oder in Hütten zelebriert werden, aber nicht in Villenvierteln.

Der Determinist verliert die Geduld mit seinen Gegnern, als ob diese zurecht sich frei nennen dürften.
Deterministen sind sehr leicht irritierbar.

Das wirkliche Verbrechen des Kolonialismus war, die großen asiatischen Völker in Vororte des Westens verwandelt zu haben.

Zivilisiert sein heißt, das kritisieren zu können, woran wir glauben, ohne aufzuhören, daran zu glauben.

Man kann ungestraft einen großen Mann verachten, vorausgesetzt man bewundert keinen mittelmäßigen.

Auch Mentalitäten sind Reiche, die zusammenbrechen.

Es ist nicht mehr der gesunde Menschenverstand, der manchmal den gemeinen Mann vor der Invasion dümmlicher Ideen schützt, sondern die durch das Explosionsgeknatter der Dummheiten hervorgerufene Schwerhörigkeit.

Lassen wir es nicht zu, daß sich jene des Wortes "Empirismus" bemächtigen, die drei Viertel des auf der Hand Liegenden leugnen.

Das einzige politische Regime, das nicht spontan zum Despotismus neigt, ist das feudale.

Philosophische Thesen sterben nicht als widerlegte Unsinnigkeiten, sondern wie ein melancholischer Hafen, der im Landesinneren versandet ist.

Wenn es der modernen Industrie noch nicht gelungen ist, Körper herzustellen, gelang ihr hingegen schon die Herstellung von Seelen.

Selbst jener, der am üppigsten damit prahlt, ein Gründer zu sein, würde es vorziehen, Erbe zu sein.

Die Zuerkennung von Preisen an mittelmäßige Schriftsteller ist lächerlich, an große Schriftsteller unverschämt.

Im Jugendlichen, der anklagt, keimt der erwachsene Umfaller.

Niemals dürfen wir mit denen diskutieren, die nur Echo einer anderen Stimme sind.

Der Bourgeois ist von Natur aus ein Linker, und ein Rechter bloß aus Angst.

Liberal nennt sich ein Individuum, das öffentlich die Meinung nicht zu äußern wagt, die es privat über die Demokratie hegt.

Begierden, Habsucht, Leidenschaften bedrohen die Existenz des Menschen nicht, solange sie sich nicht als Menschenrechte proklamieren, solange sie keine Fermente der Göttlichkeit sind.

"Von Gottes Gnaden" zu sein, schränkte die Macht des Monarchen ein; der "Volksvertreter" ist der Repräsentant des absoluten Absolutismus.

Letzten Endes ist es einzig sinnvoll, politische Vorlieben aus ästhetischen Gründen zu hegen.

Was es gestattet, die anderen zu ertragen, ist die Möglichkeit, sie in eine Erzählung zu verwandeln.

Der Kapitalismus ist die monströse Deformierung des Privateigentums durch die liberale Demokratie.

Der Linke nennt einen bloßen Streit um Besitz Kritik am Kapitalismus.

Wer zu bevorzugen versteht, grenzt nicht aus.
Er ordnet.

Der Dieb, der sich vor dem Stehlen bekreuzigt, empört den Puritaner.
Ich erkenne in ihm einen Bruder.

Die Seele blüht nur in der biologischen Phase, die dem Zustand entspricht, in dem sie geboren wurde.
Wer geboren wird, um jung zu sein, wirkt grotesk, wenn er altert. Diejenigen, die geboren wurden, um alt zu sein, sind während ihrer bitteren Jugend grotesk.

Nur ein offenkundiges Talent bewirkt, daß man dem Reaktionär seine Ideen verzeiht, während die Ideen des Linken bewirken, daß man sein fehlendes Talent entschuldigt.


Es fällt schwer, mit dem Zitieren aufzuhören. Ich schließe mit einer Sentenz, die ich schon oft zitiert habe und die täglich wahrer wird:

Reden wir nicht schlecht über den Nationalismus.
Ohne die nationalistische Virulenz würde über Europa und die Welt schon ein technisches, rationales, uniformes Imperium herrschen.
Rechnen wir dem Nationalismus mindestens zwei Jahrhunderte geistiger Spontaneität, freien Ausdrucks der Volksseele, reicher historischer Mannigfaltigkeit zum Verdienst an.
Der Nationalismus war die letzte Zuckung des Individuums angesichts des grauen Todes, der seiner harrt. (so MK am Tag vor dem Schicksalstag der Deutschen im Jahre 2020)


Davila Scholien 2020 Endversion U1


Das Buch kann bestellt werden bei amazon oder direkt beim Verlag oder unter +43 664 816 31 76 und +43 676 906 36 03.

(Für Buchhändler/Wiederverkäufer: im Verzeichnis lieferbarer Bücher VLB oder unter buchhandel.de, bei libri, bei KNV oder unter brocom.de bzw. karolinger@brocom.de)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.