Stationen

Freitag, 1. Juli 2022

Broder geigt Köppel die Meinung

"Ich habe kein Verständnis für Putinisten, die behaupten, die Russen seien nur einem Nato-Angriff zuvorgekommen. Sie kommen auch in der „Weltwoche“ zu Wort – weswegen ich soeben mit diesem Text meine Mitarbeit bei dieser Zeitschrift
Zu den Kollateralschäden des russischen Überfalls auf die Ukraine zählen auch die vielen Zuschriften, die in meiner E-Mail-Inbox ankommen, deren Absender sich darüber beklagen, beschweren und empören, dass ich nicht „die Wahrheit“ über den Krieg in und um die Ukraine schreiben würde.
Kaum einer bestreitet, dass Russland den „ersten Schuss“ abgegeben hat, so gut wie alle legen ausführlich dar, warum Russland gar nicht anders konnte, als seine Armee in die Ukraine zu schicken. Es habe da „eine Vorgeschichte“ gegeben, die man kennen und berücksichtigen müsse, um Russlands Handeln verstehen zu können.
Das ist ein absolut valides Argument. Alles hat „eine Vorgeschichte“. Der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg, der deutsche Nationalsozialismus, der italienische Faschismus, der Kommunismus, auch der mit einem menschlichen Antlitz, der Prager Frühling, der Bau und der Fall der Berliner Mauer, der deutsche Sieg in der Schlacht bei Tannenberg, die deutsche Niederlage bei der Schlacht von Stalingrad, die Einführung der „Ehe für alle“ ebenso wie die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland.
Geschichte ist ein Irrgarten, aber eben auch ein „Kontinuum“, und zu allem, was heute passiert, gibt es ein Gestern und ein Vorgestern.
Schaut man weit genug zurück, wird man feststellen, dass der Auszug – oder die Vertreibung – der Juden aus Ägypten zumindest eine der Ursachen für den israelisch-palästinensischen Konflikt war. Und hätte Abraham, der Stammvater der Juden, nicht eine Affäre mit seiner ägyptischen Magd Hagar angefangen, die ihm einen Sohn namens Ismael gebar, den die Araber als ihren Stammvater verehren, wäre den Juden viel Ungemach im Laufe ihrer Geschichte erspart geblieben.
Ja, es gibt immer eine Vorgeschichte, meistens sogar mehrere, die miteinander konkurrieren. Auch im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Fest steht allerdings, dass Russland derzeit in der Ukraine wütet und nicht umgekehrt.
Bevor ich auf die Zuschriften zurückkomme, die ich am Anfang erwähnt habe, will ich an einem harmlos scheinenden Beispiel zeigen, wie Stimmung erzeugt wird. Ein abgebrochener Theologe, der in das Fach Philosophie gewechselt ist, weist auf seiner Seite immer wieder darauf hin, die Ukraine sei ein korrupter Staat, eine korrupte Gesellschaft, mit einem korrupten Präsidenten, der mithilfe der Amerikaner an die Macht gekommen sei und jetzt das mache, was die Amis von ihm verlangen.
In seiner letzten populärphilosophischen Stellungnahme zur Lage in der Ukraine schreibt er unter Berufung auf den „Korruptionsindex“ von Transparency International, die Ukraine sei „das korrupteste Land Europas“, das wäre inzwischen sogar den „Staatsfunkern“ von der Tagesschau aufgefallen, die sich ihrerseits auf einen Bericht des dänischen Außenministeriums berufen, wonach die Regierung in Kiew „einen Mangel an Willen zur Korruptionsbekämpfung“ erkennen lasse.
So funktioniert Flaschenpost. Oder Globuli, die umso stärker wirken, je öfter sie verdünnt wurden.
Die Botschaft, die aus jeder Zeile des Textes strömt, lautet: Ein dermaßen korruptes Land wie die Ukraine verdient es nicht, verteidigt zu werden. Es ist eine unausgesprochene, aber unüberhörbare Rechtfertigung der russischen Intervention. Obwohl nicht einmal die Russen behauptet hatten, sie wollten die Ukraine entkorrumpieren, der Nachbar sollte nur „entnazifiziert“ und „demilitarisiert“ werden.
Ob und inwieweit die Korruptionsvorwürfe stimmen, weiß ich nicht. Aber darauf kommt es nicht an.
Sollte „Korruption“ beziehungsweise „keine Korruption“ eine Vorbedingung für die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung und sichere Grenzen sein, müsste als Erstes das Land Mecklenburg-Vorpommern aufgelöst werden, dessen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig sich von Gasprom mit 20 Millionen Euro schmieren ließ, um eine Umwelt- und Klimaschutzstiftung zu gründen, mit deren Hilfe die Sanktionen gegen den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 unterlaufen werden sollten.
Gleiches müsste für den Freistaat Bayern gelten, wo es Korruption nur deswegen nicht gibt, weil sie ein Teil der bayerischen Folklore ist und als „Amigo-Wirtschaft“ firmiert. Auch richtige Staaten wie Bulgarien und Rumänien, Malta und Zypern sollten sanktioniert werden, weil sie Geldwäsche und Steuerbetrug ermöglichen.
Angesichts des Massakers, das derzeit in der Ukraine stattfindet, ist es infam, die Korruption in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Wie würden wir es finden, wenn irgendein Philosoph im Zusammenhang mit der „Endlösung“ darauf hinweisen würde, dass unter den ermordeten Juden auch einige Steuersünder dabei waren?
Zurück zum Anfang, zu den E-Mails, die ich bekomme. Ich lege sie in einem Extra-Ordner ab, um sie irgendwann, wenn ich alt bin und nicht weiß, was ich in meiner freien Zeit machen soll, zu einem Konvolut des Schreckens zu verarbeiten. Was ich jetzt schon feststellen kann: Es sind erstaunlich viele Putin-Trolle unterwegs, die so klingen, als hätten sie Peter Sloterdijk, Richard David Precht, Alice Schwarzer und Ulrike Guerot gelesen, wobei ich sicher bin, dass sie es nicht getan haben.
Es muss eine Art von atmosphärischer Übertragung oder Gleichschaltung von unten geben, wobei ich es für möglich halte, dass es irgendwo einen Briefsteller gibt, aus dem man sich je nach Lage und Laune bedienen kann.
Leser Christian F., der sich offenbar mit meiner Biografie beschäftigt hat, fragt an, ob meine „emotionalen Ausfälle“ etwas mit einer „gefühlten nationalen Zugehörigkeit zu Wolhynien“ zu tun haben könnten; oder eher mit der Idee, die „Schtedels wieder aufleben zu lassen im demnächst polnisch-dominierten W(R)estukraine-Raum?“ Es habe ja schon früher „Gedanken“ gegeben, „den ‚jiddischen‘ Charakter rund um Lemberg wieder aufleben zu lassen“.
Nachdem er diesen spektakulär-spekulativen Punkt abgehakt hat, kommt Christian F. wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. „Dieser Krieg ist !NICHT! Deutschlands Krieg, er geht uns als formal neutralen Staat nur insofern an, den Kriegsflüchtlingen zu helfen und eventuell eine Lösung des Konflikts zu erhoffen. Und solange da die NATO-Mitgliedschaft nicht vom Tisch ist (wie zb die frühere Zugehörigkeitsoption Cuba‘s zum Wahrschauer Pakt), solange wird es von den benachbarten ‚Grossmächten‘ (beiden) immer eine unangenehme Reaktion geben.“
Hermann S. schlägt einen großen Bogen von der russischen Intervention bis zum Holocaust und sagt, wo ihn der Schuh drückt, den er sich nicht anziehen will.
„Als Nachkriegs-Deutscher habe ich mir diesen Schuh des Mit-Schuldigen am Holokaust niemals angezogen. Wer Verbrechen nicht begangen hat…, ist nicht schuldig. Der Holokaust, von unseren sog. Politikern immer wieder aufgewärmt, lässt mich eher vermuten, dass hier ein Dauerbrenner zur ‚Asche auf das Haupt aller Nachkriegs-Deutschen‘ konstruiert wird. Den Sinn dahinter will ich lieber nicht eruieren… Nicht falsch verstehen, ich leugne nicht den Holokaust, wohl aber den unreflektierten Umgang damit. Sicher wäre es auch interessant, die Sühne- und sonstigen Gesamtleistungen von D. ab 1948 bis heute an Israel und die jüdischen Menschen per toto aufzulisten.“
Es macht immer wieder Spaß, den Verrenkungen zuzusehen, mit denen unbelastete Nachkriegsdeutsche versuchen, dem Würgegriff ihrer Geschichte zu entkommen. Allein, es will nicht gelingen. Und so suchen sie nach Trost in der Frage nach den „Gesamtleistungen“, die von Deutschland an Israel und die jüdischen Menschen gegangen sind.
Ich weiß nicht, wie viele Milliarden Mark oder Euro es „per toto“ waren, einige Bezieher von Wiedergutmachungsrenten leben ja noch, aber ich bin mir sicher, dass es nur ein Bruchteil der Werte war, welche die deutschen Besatzer geraubt und vernichtet haben. Von der „Entschädigung“ für vorzeitig beendete Leben nicht zu reden.
Es gibt so gut wie nichts in der Welt, das der normale Deutsche, der weder ein Antisemit noch ein Nazi ist, nicht sofort auf sich und sein Leben beziehen würde, sogar das Abschmelzen der Polkappen in der Arktis empfindet er als bedrohlich, denn: „Wir haben keinen Planeten B!“ Genau genommen nicht einmal einen Plan A für den Fall, dass bei Aldi die Schoko-Röllchen von Biscotto mal nicht lieferbar sind.
Hans-Ulrich E., Jahrgang 1957, schreibt, er habe „ein paar Fragen an den Juden Herrn Broder“. Nämlich:
„Würden Sie erst dann beruhigt sein, wenn alle Deutschen wegen der Schuld des WK2 ihr Leben lang zu Kreuze kriechen mit einem großen Banner auf dem steht: ‚Entschuldigung, wir sind schuld.‘? Wieviel Generationen sollen sich noch geißeln wegen der schlimmen Verbrechen der Naziherrschaft?“
Dabei habe ich so etwas nie gefordert, nicht einmal daran gedacht. Dass die Deutschen wegen ihrer Schuld am WK 2 ihr Leben lang zu Kreuze kriechen, ist eine sadomasochistische Fantasie, die nur in den Köpfen der Deutschen, auch der nach dem Krieg geborenen, weiter lebt.
Und der Ukraine-Krieg ist ein Bagger, der beim Ausheben der Baugrube ein paar Tote findet, die man längst vergessen hat. Es könnten die Vorbesitzer der Parzelle sein, verschleppte Zwangsarbeiter oder auch Partisanen, mit denen die Nazis „kurzen Prozess“ gemacht haben. Man weiß es nicht, und es spielt auch keine Rolle.
Das Einzige, worauf es ankommt, ist das Déjà-vu-Erlebnis, das die Bilder aus der Ukraine provozieren.
Die Erinnerung ist nicht, wie in allen Sonntagsreden verkündet wird, „das Geheimnis der Erlösung“, sie ist ein Fluch, der vererbt wird. Menschen „erinnern“ sich auch an Erlebnisse, die sie nicht gehabt haben.
Egal, ob die Russen in der Ukraine einen Völkermord, einen Massenmord oder „nur“ Kriegsverbrechen begehen, sie machen etwas, das die „Erinnerung“ an die Untaten der Nazis aktiviert. Haben unsere Jungs auch so etwas gemacht? Der Opa, der Vater, der Onkel, der Stiefbruder, der an die Ostfront abkommandiert wurde?
Das wäre eine unvollständige, aber mögliche Erklärung für den proaktiven Geständniszwang – man habe mit dem Holocaust nichts zu tun, man wolle nicht das ganze Leben lang zu Kreuze kriechen, dieser Krieg sei nicht unser Krieg, wir sollten uns raushalten.
Der unvermeidliche Hinweis auf die allgegenwärtige Korruption in der Ukraine dient demselben Bedürfnis wie die Verbreitung antisemitischer Klischees – dass die Juden geldgierig, gemein und dauergeil sind. Gut, man hätte sie nicht gleich umbringen müssen, aber irgendwie waren sie für ihr Schicksal auch mitverantwortlich, oder? Und die Ukrainer? Wenn die nur nicht so korrupt wären…
Wofür ich keine Erklärung habe, ist das Verhalten der Hardcore-Putinisten, die allen Ernstes behaupten, die Russen seien einem Nato-Angriff zuvorgekommen, die russische Armee würde keine zivilen Ziele angreifen und sich überhaupt die allergrößte Mühe geben, Blutvergießen zu vermeiden.
Auch in der „Weltwoche“ kommen Putinversteher zu Wort, die Russlands verlorene Ehre wiederherstellen wollen. Deswegen beende ich mit diesem Text meine Mitarbeit bei dieser Zeitschrift. Schade, aber es geht nicht anders. Klarheit vor Einheit!"  Henryk-Broder

 

 

 

Er hat Charakter, weise ist er nicht. Aber Charakter hat er. Denn, obwohl er auf Grund eines anonymen, verleumderischen Denunzianten durch Audi unter bedohlichen, völlig unrechtfertigbaren Druck geraten ist, hat er - wie vor ihm Stefan Sulke - seinem prononciert jüdisch-christlichen, antimachiavellistischen, antibismarckschen, linkstreuen, moralischen Kompass gehorchend mit Köppel gebrochen. Nun, es wird auf "getrennt marschieren, vereint schlagen" hinauslaufen...

Es hat mir imponiert, wie Broder 2014 auf Putins Übergriffigkeit reagierte, die Grausamkeiten in Donezk dokumentierte und rief, niemand solle später sagen, er habe nichts davon gewusst. Aber jetzt hat er keinen Grund, sich darüber zu freuen, dass die Wölfe mit ihm heulen. Putin und Selenskyj werden, wie schon Rudolf von Habsburg und Ottokar II., auf der untersten Stufe in der Valle dei Principi ihren Aufstieg auf den Läuterungsberg beginnen müssen, um bis oben zur 7. Terrasse zu gelangen, wo sie endlich ins Fegefeuer gelangen dürfen, bevor sie ins irdische Paradies auf dem Hochplateau Zulass bekommen, von wo aus sie dann durch einen metaphysischen Fahrstuhl einen Platz im himmlischen Paradies vielleicht erreichen. Der einzige Journalist, der vielleicht direkt im Paradies landet, ist Köppel. Aber wer kann das schon sagen. Wie der Teil des Chors der Wölfe, die nicht ohnehin in der Hölle landen, wird auch Broder ein paar Etagen durchklettern müssen, wo ihm jeweils durch einen der Angeloi ein P von der Stirn gecancelt wird.

Ich bewundere Köppels Geduld. Die Geduld, mit der er tagtäglich Differenzierungen trifft, die sich in den Ohren fast aller deutschsprachiger Journalisten wie Haarspaltereien anhören, obwohl es sich eigentlich um völlig elementare, geradezu plumpe Selbstverständlichkeiten handelt, die der kopflos gewordenen Allgemeinheit lästig geworden sind. Früher einmal wog ein kluger Kopf Zehntausende auf, heute wiegt er auf Grund der enorm gewachsenen Reichweite der neuen Kon-Zentralisten Millionen auf.

Ich weiß nicht, wo Köppel diese wundervolle Geduld hernimmt. Ich bin genauso fromm wie er und auch in theologischer Hinsicht überschneiden sich meine Ansichten in hohem Maße mit den seinen, aber das ständige Wiederholen der Binsenweisheiten, die man bei den Gesprächspartnern nicht voraussetzen kann, hätte mich längst erschöpft. Mehr noch als Köppels enorme Bildung und Gewissenhaftigkeit, seinen klaren, scharfsinnigen Blick und seine anschauliche, an gelungenen Wortschöpfungen reiche Sprache bewundere ich an ihm seine didaktische Geduld. Köppel ist - wie man in Hohenlohe zu sagen pflegt - Gottes glatter Knopf.


 

 

Immer mehr Journalisten schreiben Albtraum mit "p". Ich verliere die Geduld schon, wenn ich so etwas sehe. Und dann noch im Focus, der mir in den 90ern Anlass zu der freudigen Annahme war, Deutschland befinde sich endlich auf dem Weg der Heilung.

 

Die verhängnisvollste Eigenschaft der deutschen Mentalität besteht darin, auf Druck immer wieder zunächst mit hündischer Überanpassung und später mit anmaßendem Übereifer zu reagieren. Bloß weil die Deutschen bis 89 einander als Kettenhund der USA und als Kettenhund der UdSSR gegenüberstanden, muss jetzt nicht ganz Europa als Kettenhund der USA wegen eines vergleichsweise geringfügigen Zusammenstoßes den Russen gegenüberstehen und wie der Seppl auf amerikanischer Faust Selenskyjs Kaspereien mitmachen, die nur dazu dienen, Amerikas Feinde UND Amerikas Freunde zu schwächen. Deutsche Wirtschaft plus Russische Militärmacht (& russische Bodenschätze), das wäre heute in Bismarcks Sinn!


Der erste Schritt wäre, Deutschlands Neutralität als Nahziel festzusetzen, dann Druck auf die USA zu machen und gleichzeitig mit Macron und Draghi darauf zu dringen, dass ganz Europa neutral wird. Die NATO dient dazu, die USA in Europa, die Russen draußen und Deutschland unten zu halten. Seit Jahrhunderten treiben die Angelsachsen ihren Keil zwischen Deutschland und Russland. Allein diese Tatsache beweist, dass wir darauf dringen müssen, mit den Russen ein eurasisches Einvernehmen zu finden, statt einer Weltmacht, die sich in 7000 Km Entfernung ins Fäusten lacht und die sich moralisch restlos durch ihre Kriegsverbrechen und schmierigen, von Assange und Snowden aufgedeckten Manipulationen delegitimiert hat, die Treue zu halten. Waffenstillstand jetzt!

 

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