Die Messe ist gelesen. Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella hat nachgegeben und kommt dem Entlassungswunsch von Premierminister Mario Draghi nach. Seine Regierung bleibt geschäftsführend im Amt. Am Nachmittag sprach Mattarella mit dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Roberto Fico, und der Präsidentin des Senats, Elisabetta Casellati – formelle Treffen, die die Verfassung vorsieht vor der Auflösung der beiden Kammern des italienischen Parlaments.
Die Italiener werden damit schon Ende September zu den Urnen gerufen. Der Präsident hat den 25. September als Datum festgelegt. Zuerst hatte es Vorbehalte gegeben, da das jüdische Neujahrsfest auf den Tag fällt. Doch die jüdische Gemeinschaft Italiens hat heute klargestellt, dass der Festtag kein Hindernis für eine Wahl darstelle.
Draghi hatte am Morgen die Abgeordnetenkammer aufgesucht. Die Sitzung dauerte nur fünf Minuten. Nach einem langen Applaus der linken Parteien bedankte sich Draghi ironisch, dass auch Zentralbanker ein Herz hätten. Danach erklärte er, zum Präsidenten gehen zu wollen, um seinen Rücktritt einzureichen. Die Sitzung sollte um 12 Uhr fortgesetzt werden. Doch Draghi kam nicht mehr zurück. Der Präsident der Kammer verlas nur noch ein Kommuniqué des nunmehr entlassenen Ministerpräsidenten.
Das Aus für Draghi bietet mittlerweile den Nährboden für Dolchstoßlegenden. Der linke Partito Democratico (PD) und dessen Vorsitzender Enrico Letta sprechen neuerlich von den „Mördern“, zu denen jetzt auch Lega und Forza Italia (FI) zählten. Von Verantwortungslosigkeit, gar einem der schlimmsten Tage der Republik ist die Rede. Insbesondere die linken Tageszeitungen eröffneten ihre Titelseiten mit Schmäh-Kommentaren gegen die Verräter. Die Behauptung machte die Runde, der „meistgeschätzte Italiener der Welt“ sei von der elenden Parteipolitik gestürzt worden.
Diese Deutung linker Parteien und linker Medien gewinnt stündlich an Gewicht. Sie sickert auch in deutsche Medien durch. Als pars pro toto mag der Kommentar des ARD-Korrespondenten Jörg Seisselberg auf Twitter dienen. „Italien jagt Draghi vom Hof. Nein, nennen wir die Verantwortlichen beim Namen! Contes Fünf Sterne Bewegung, Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia sorgen dafür, dass Draghi gehen muss.“
Doch das ist vielmehr emotionale bis parteipolitische Schuldsuche als die Realität. Denn die Verantwortung für Draghis Ende trägt liegt vor allem bei ihm selbst. Freilich: Auslöser der Regierungskrise war die Parteikrise des M5S. Ex-Premier Giuseppe Conte hat mit seiner unnachgiebigen Haltung und einem linkspopulistischen Kurs mit Blick auf anstehende Wahlen Unruhe in die Koalition gebracht, seine Partei Draghi das Vertrauen entzogen. Doch Conte und M5S allein hätten Draghi nie stürzen können.
Der Ex-EZB-Chef hat von Anfang eigene Regeln eingeführt: er wolle nur mit der Allparteienkoalition regieren, zu der jede größere Partei mit Ausnahme der Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni gehörten. Kein Verfassungseintrag schreibt solche Regeln vor. Draghi hatte nur Premier sein wollen, wenn gegen diesen Grundsatz nicht verstoßen würde. Doch Draghi, der immer wieder garantierte, er wolle den Weg der Mitte gehen, verstieß selbst gegen den Vorsatz.
Das begann aus Sicht von Lega und FI bereits am Dienstag. PD-Chef Enrico Letta besuchte Draghi einen Tag vor den entscheidenden Senatsabstimmungen. Die beiden rechten Parteien erhielten eine solche Gesprächsgelegenheit nicht – sondern erst auf Nachfrage. Bei Salvini wie Berlusconi musste der Gedanke reifen, dass sie hintergangen werden konnten. In dieser Situation entstand wohl die Strategie, Draghi Garantien abzuringen, damit dieser sie nicht zur reinen Verfügungsmasse degradierte. Vermutlich sprachen sich „Capitano“ und „Cavaliere“ ab, im Ernstfall bei der Vertrauensfrage nicht mitzumachen. Dass Berlusconis Rache später tatsächlich klappen sollte, war vor allem der Arroganz des Premierministers zu verdanken.
Draghis Erklärung am Mittwoch brachte das Fass zum Überlaufen. Völlig ohne Not düpierte er die Lega im Senat. Die Parteien rechts der Mitte sollten an die Kandare gelegt werden. Das konnten Lega und FI nicht zulassen, wollten sie nicht in der politischen Versenkung verschwinden. Der Vorschlag eines „Neuen Paktes“ angesichts der veränderten Situation wurde vom Premier nicht einmal zur Kenntnis genommen. Draghi wusste schon, wieso: ohne M5S hätte Mitte-Rechts die Koalition dominiert. Und wichtige Ministerien wie das Innenministerium und das Gesundheitsministerium hätten neu besetzt werden müssen.
Draghi wollte daher volle Autorität und eine Regierung nur zu seinen Konzessionen – eine ironische Wende, hatte man doch lange Zeit Salvini den Vorwurf gemacht, er wolle „Vollmachten“ haben. Doch der italienische Premier ist vom Vertrauen des Parlaments abhängig. Nicht umgekehrt. Es ist ein Stück Manipulationskunst, so zu tun, als sei ein selbstständig agierendes Parlament, das sich gegen die Exekutive wendet, eine Gefahr für die Demokratie. Man sollte auf diesen Trick nicht reinfallen. Conte, Salvini und Berlusconi haben es dabei noch auf eine elegante Art getan: sie haben nicht direkt mit „Nein“ gestimmt, sondern waren abwesend oder haben nicht abgestimmt. Nicht jeder italienische Premier hatte das Glück, sein Gesicht zu wahren und zu kündigen, statt brutal gestürzt zu werden.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Draghi mit voller Absicht versuchte, Lega und FI in den wenigen Monaten vor der Wahl zu demütigen und sie für das eigene Lager unwählbar zu machen, indem er eine deutlich PD-freundlichere Politik ankündigte. Er hat sich verkalkuliert. Draghi hatte sich nach dem gewaltigen, aber nicht minder inszenierten Lob für ihn daheim wie in aller Welt wohl zu sicher gefühlt. In einer Situation, in der Mario Draghi sogar Wolodymyr Selenskyj in der Beliebtheitsskala des Westens zu überholen drohte, mussten alle seine Gegner auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Die Lega und die FI stellten sich dennoch gegen ihn. Jetzt sind die „Putinfreunde“ in mehrfacher Hinsicht ein gefundenes Fressen.
Viel zu wenig wird über die falsche Oper gesprochen, die Draghi mit seinen Rücktrittsdrohungen und Entlassungsgesuchen spielte. Denn Draghi hat keine Abstimmung verloren. Nicht am Donnerstag, nicht am Mittwoch. Verfassungsrechtlich gibt es keine Gründe für seinen Rücktritt. Die Regierung hat die Mehrheit der Stimmen erhalten – deswegen hatte Präsident Sergio Mattarella auch Draghi am Donnerstag nicht entlassen. Zu keinem Zeitpunkt wäre Draghi aus verfassungsrechtlichen Gründen gezwungen gewesen, das Handtuch zu werfen.
Auch hier gilt: Draghi verkauft seine eigenen Regeln als Zwänge. Er hätte schlicht die Regierung nach dem Ausscheiden der M5S umbilden können – just das, was Lega und FI vorschlugen. In diesem Zusammenhang sollte auch nicht vergessen werden, dass das erste Aufbegehren der Sterne erst von Draghi selbst eskaliert wurde, weil er bereits eine mögliche Enthaltung mit einem Rücktritt begegnen wollte. Parlament und Republik mussten nach der Nase des Römers zu tanzen.
Diese persönliche Eitelkeit Draghis wird von einigen Politikern und Journalisten mittlerweile zu einem nationalen Gut erhoben. Dass dahinter ein zutiefst anti-demokratischer und anti-konstitutioneller Reflex steht, scheint kaum jemand mehr zu realisieren – oder realisieren zu wollen. Neuerlich: Wahlen könnten die Demokratie gefährden. Der letzte vom italienischen Volk legitimierte Ministerpräsident war – das mag für einige eine bittere Wahrheit sein – Silvio Berlusconi. Seit dessen Entlassung 2011 und dem Amtsantritt Mario Montis leidet das Land unter Spaltungen und Fragmentierungen, die ein Durchregieren kaum noch möglich machen – und die EU zu einer vierten Gewalt im Staat gemacht haben.
Aus dieser Erfahrung heraus belehren Journalisten jenseits wie diesseits der Alpen, dass technische Regierungen und überparteiliche Verantwortungsträger eine deutlich bessere Möglichkeit seien. Dass seit nunmehr über einem Jahrzehnt Brüssel de facto ein Veto einlegen will, wenn es darum geht, wer der drittgrößten Volkswirtschaft der EU vorsteht, ist kein Skandal. Die Italiener können es eben nicht. Auch Außenstehende könnten auf den Gedanken kommen, dass hier ein Exempel statuiert wird.
Bei Mario Draghi drängt sich der Eindruck auf, dass „Whatever it takes“ dieses Mal nicht genug war – weil Draghi sich gar nicht darum gerissen hat, alles in eine Waagschale zu werfen. Er wurde nicht gestürzt oder aus dem Amt gejagt – er ist aus dem Amt geflohen. Er hat es M5S, FI und Lega bemerkenswert leicht gemacht. Vielleicht, weil Draghi gemerkt hat, dass nicht nur die Politik einer ganzen Generation auf nationaler wie europäischer Ebene an ihr Ende kommt. Dass am Tag von Draghis Entlassung die EZB die Zinsen erhöht, ist ein Indiz dafür, dass die Stunde geschlagen hat. Eine Ära geht zu Ende. Nicht nur in der italienischen Politik, die seit dem Eingriff der EZB 2011 währt. Marco Gallina
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