Stationen

Dienstag, 5. Juli 2022

Mit geblähten Segeln ins Verderben

 

Georg Witte antwortet in der FAZ mit einer originellen Argumentation:

Wir wissen mittlerweile, dass die ukrainische Armee, unterstützt von der nichtmilitärischen Bevölkerung in einem Ausmaß, wie das den Verfassern des in der „Zeit“ vom 30. Juni veröffentlichten Waffenstillstandsappells unbegreiflich ist, einen zahlenmäßig haushoch überlegenen Aggressor schlagen kann. Wir wissen es prozessual, in immer neuen Informationsetappen: Kiew, Mykolajiw, Versenkung der Moskwa, Charkiw, Schlangeninsel . . .
Immer von Neuem wurde die Lüge von der Aussichtslosigkeit des Widerstands widerlegt, und immer von Neuem braucht sie darum rhetorische Nachbesserungen. Darum jetzt also der Appell: Nach einem billigen Disclaimer über „Russlands Aggression in der Ukraine“ folgt die eigentliche Rede: Es ist „der Krieg“, der nicht fortdauern darf, es ist „der Krieg“, den „die Parteien“ gegeneinander führen und von dessen Ende man beide Seiten überzeugen muss: ein „festgefahrener Konflikt“. Man müsse „auf die Regierungen Russlands und der Ukraine einwirken, die Kampfhandlungen auszusetzen“. Im Klartext: An Eskalation, an afrikanischer Hungerkatastrophe, an Millionen von zu befürchtenden Toten ist „der Krieg“ schuld, den zwei Uneinsichtige miteinander führen. Wann immer im Appell vor den kata­strophischen Folgen gewarnt wird, sind das nicht mehr die Folgen der russischen Aggression, sondern die „des Kriegs“ zweier Gegner, die zur Verhandlungsbereitschaft „zurückfinden“ (!) müssen.
 
Es war in aller Klarheit von der ukrainischen Armeeführung prognostiziert worden: Nach ihrer ersten Niederlage (Kiew) wird die russische Armee, als Folge der Umorientierung auf den Donbass und mit dem Begleitorchester der Raketen und Bomben auf zivile Ziele, bis zum Sommer Geländegewinne machen. Ein ukrainischer Gegenschlag wird im Spätsommer und Herbst erfolgen können, weil dann hoffentlich genügend Waffen zur Verfügung stehen. Dass dann große Teile der durch die russische Terrormaschine besetzten Gebiete zurückerobert werden können, steht außer Frage. Wenn ein Mindestmaß an notwendigen Waffen mit der ungebrochenen Kampfesmoral der Verteidiger zusammenkommt, wird der Rückgewinn nicht zu verhindern sein.

Was kann man nun, aus Sicht des Putin-Regimes, tun, um ebendies nicht zuzulassen? Um ein Debakel wie das in Afghanistan zu verhindern? Man muss, bevor die Ukraine zum Zurückschlagen fähig wird, mit einem „Waffenstillstand“ das Erreichte sichern. Dafür braucht es diskursive Unterstützung in Europa. Die ideologischen Ränder, AfD, die Linke – kein Problem. Das Problem ist die linksliberale und aufgeklärte rechte Mitte. Hier muss angesetzt werden, hier muss öffentlicher Druck erzeugt werden. Und siehe da: Es finden sich deutsche Schriftstellerinnen, Philosophinnen, Politik- und Rechtswissenschaftler, Soziologen, Publizisten, die genau dieses Narrativ bedienen: Waffenstillstand „jetzt“! Auf das „jetzt“ kommt es an: Bevor es zu spät ist, bevor der Aggressor seine Position der Stärke verliert. Wenn man im Appell vor den unrealistischen Annahmen eines „vollständigen Siegs der Ukraine über Russland“ warnt, dann erleben die elementaren Koordinaten dieses Kriegs – Invasion und Widerstand – eine wundersame Metamorphose: Vom Widerstand ist nicht ein einziges Mal die Rede in einem Manifest deutscher Intellektueller. Aus einem Volk im Widerstand ist eine von zwei Kriegsparteien geworden, die man zur Räson bringen muss.
Das Horrende an der neuerlich belehrenden Einlassung ist ebendies: dass der Widerstand keine Stimme hat. Den Widerstand der Ukraine gar in Traditionen nationaler Befreiungskriege zu denken, kommt den Verfassern des Appells an keiner Stelle in den Sinn. Als Deutscher schäme ich mich dafür, dass ein Klub einflussreicher Intellektueller dem Widerstand einer zur Vernichtung ausgeschriebenen Nation die diskursive Existenz verweigert. Christoph Menke, Mitverfasser des Appells, hat zurückgewiesen, dass es Russland um die Vernichtung der Ukraine ginge. Menke kennt die Sendungen des russischen Staatsfernsehens wahrscheinlich nicht, aber von Timofei Sergejzews Genozidgebot sollte er wissen; die deutsche Übersetzung liegt vor. Auch Putins Geschichtslehren sollte er kennen, die expressis verbis der ukrainischen Nation das Existenzrecht absprechen. Und die Taten der Besatzer? Man muss blind sein, hier einen Vernichtungswillen abzusprechen.

Hier nun drei Vermutungen, warum der nationale Widerstand nicht benannt wird. Ihn beim Namen zu nennen, würde erstens bedeuten, dass man einen psychologischen Faktor wie die Kampfmoral berücksichtigen müsste. Man müsste über den Unterschied zwischen der Widerstandsmoral der Ukrainer und dem Barbarismus der russischen Zerbombungsmoral schreiben. Man müsste darüber schreiben, dass, wie immer in Befreiungskriegen, die Überlegenheit der Widerstandsmoral der ausschlaggebende Faktor ist. Man müsste darüber schreiben, dass das Putin-Regime, wenn es sein Kanonenfutter aus dem Fernen Osten, Zentralasien und dem Kaukasus verbraucht hat, noch mehr Probleme mit der Kampfmoral bekommt. Man müsste über den Krieg in Begriffen der operativen Erfahrung, von unten, in der Perspektive der sich Wehrenden, in der Ökonomie der Ressourcen, schreiben.
Lew Tolstoi hat in geschichtsphilosophischen Kommentaren, mit denen er seinen Roman „Krieg und Frieden“ gespickt hat, den Unterschied zwischen der Perspektive der Akteure und jener der Beobachter aus dritter Position drastisch kommentiert. Ich will damit nicht behaupten, dass wir uns qua bloßer Empathie mit den Angegriffenen aus unserer objektiven Beobachterposition entlassen könnten. Wir sind außen, und wir müssen uns der Verantwortlichkeiten dieser Beobachterposition bewusst sein. Aber diese Position wird zur Parteinahme für den Stärkeren, wenn man sich als Schiedsrichter in einem Konflikt der Parteien begreift, die sich ihre Schuld an der Katastrophe gleichsam teilen.
Einen zweiten Grund vermute ich darin, dass ein Bekenntnis zum nationalen Widerstand ein Elementartabu des Diskurses der hiesigen politischen Eliten verletzt: die Unantastbarkeit des Status Russlands als Imperium. Das, was mittlerweile unter russischen kritischen Intellektuellen konsensuelle Einsicht geworden ist, ein Implodieren des russischen Imperialstatus als einzige Chance nicht nur für Frieden in Europa, sondern auch für ein Fortbestehen der russischen Nation, ist eine zu heiße Kartoffel für relevante Segmente des bundesdeutschen Diskurses. Darum das notorische Schweigen des Appells über die imperialen Ziele Putins, die einstigen Gebiete des Reichs „zurückzuholen und zu befestigen“. Darum das Schweigen darüber, dass Verhandlungen Teil der Agenda Putins sind und nicht Instrumente zu deren Eindämmung. Das abstruse In-Abrede-Stellen eines „vollständigen Siegs der Ukraine über Russland“ bekommt in diesem Licht eine neue Färbung. Es ist eine Warnung, die die Positionen vertauscht: Die bedrohte Macht ist Russland.

Und drittens: Was steckt hinter dem logischen Kurzschluss, Verhandlungen und Waffenlieferungen nicht als Komplementärverhältnis zu sehen (nur eine bewaffnete Ukraine ist befähigt zu Verhandlungen), sondern als Exklusionsverhältnis? Es impliziert politische Prämissen, die, würden sie ausgesprochen, in ihrem Schillern zwischen Naivität und Zynismus blank lägen. Die wichtigste ist die, das Putin-Regime zu einem Akteur zu adeln, der sich auf Elementarbedingungen diplomatischen Vertrauens verpflichten ließe. Eine weitere Prämisse ist das Verkennen, dass es nach einem Waffenstillstand nicht zu weniger, sondern zu mehr Opfern käme. Hunderttausende Menschen mehr werden sterben, gefoltert, deportiert, „filtriert“, vergewaltigt, wenn das russische Regime die Gewalt über die besetzten Gebiete behält.
In der Fabel Jean de La Fontaines über Wolf und Lamm am Fluss wird dieses reale Muster einer Eskalation, einer Eskalation plus Verhandlung inklusive, pointiert in Szene gesetzt. (In der Version von Iwan Krylow ist diese Fabel auch in Russland bestens bekannt.) Das Lamm, das seinen Durst wohlbedacht unterhalb der Uferstelle des Wolfes stillt, um das Wasser für denselben nicht zu trüben, das aber dennoch von diesem angegriffen wird, versucht es mit dem Verhandeln. Als Belohnung wird es vom Wolf verschleppt und gefressen, denn: die ganze Sippschaft des Lamms, samt Hirt und Hund, „ihr hetzt und verfolgt mich alle“. Prägnanter kann man die plumpe Brutalität der Kriegslegitimation Putins kaum charakterisieren. Der Schwächere muss nicht einfach auf seinen Platz verwiesen werden, sondern er muss ausgerottet werden. Und wenn er nachgibt – erst recht.
Der russische Bär wird etwas langsamer sein als der Fabelwolf: vielleicht ein Jahr bis Charkiw? Zwei bis Odessa? Drei bis Kiew? Die durch den Waffenstillstand stabilisierte Kontrolle über die bereits eroberten Gebiete wird der Garant für die logistischen und personellen Vorbereitungen der Folgeeroberungen sein.
 
Georg Witte lehrte Slawische Literaturen an der FU Berlin, anschließend an der Higher School of Economics in Sankt Petersburg, wo er nach der russischen Invasion in die Ukraine kündigte.

 

Dem ist folgendes entgegenzusetzen:

1. wartete Putin nicht einmal die Wahlen in Frankreich ab, obwohl ein Wahlsieg Le Pens vorteilhaft für ihn gewesen wäre. Diese Tatsache ist ein Zeichen dafür, dass es Putin völlig gleichgültig ist, was man in Europa mehrheitlich denkt und welchen Einfluss europäische Intellektuelle auf die bürgerliche Mitte haben könnten.

2. Der Schweizer NATO-Mitarbeiter, Strategie-Analyst und Verschwörungstheoretiker Oberst Jacques Baud sagte zum Charakter des Krieges in der Ukraine in der Sendung "Sud Radio" am 29.06.2022: «Selon un conseiller de Zelensky les forces ukrainiennes perdent 1000 hommes par jour; c’est-à-dire entre 200 et 500 tués – et le reste sont prisonniers ou déserteurs, ou blessés, bien sûr. Ca fait donc une brigade tous les trois jours qui disparaît en Ukraine. Et actuellement, depuis maintenant plusieurs semaines, l’armée ukrainienne régulière est pratiquement encerclée ou détruite, et ce sont des réservistes ou des gens des troupes territoriales qui sont amenés au Donbass, qui sont très mal entraînés, qui sont entraînés juste pendant quelques jours avant d’être envoyés au combat. C’est exactement ce qui se passait avec la Volkssturm des Allemands en 1945.
Ce qui se passe, c’est que ça crée des tensions en Ukraine de l’ouest ‒ ou du nord, c’est selon; parce que les mères et les enfants manifestent.
Ce qu’il y a de sûr, c‘est qu’on sait ‒ ce n’est pas moi qui invente, d‘ailleurs tout ça a été dit par les Ukrainiens eux-mêmes – que Boris Johnson avait influencé ou pratiquement mis la pression sur Zelensky pour qu’il retire la proposition [de négociations] qu’il avait faite aux Russes. Donc il y a clairement une volonté en Occident – et d’ailleurs on a vu ça en février – je vous rappelle que le 25 février, le lendemain [de l’invasion russe] Zelensky a fait des propositions pour négocier; le 27, l’Union Européenne est venue, a dit : non, non, ne négociez pas, on vous donne des armes; la même chose s’est passée fin mars, le 23 ou 24 mars: Zelinsky a fait ses propositions, deux jours plus tard l’Union Européenne y est allée avec son deuxième paquet d’armes en disant : non, ne négociez pas, on vous arme. (…)
C’est un peu ce qu’a dit le Président mexicain d’une manière assez tragique : Oui, en fait, ce que font les Américains, c’est: on vous fournit les armes, vous fournissez les cadavres. »
 

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