Mit der Fußballweltmeisterschaft in Katar erreicht die Politisierung des Fußballs, der doch eigentlich die schönste Nebensache der Welt sein soll, ein bisher nie dagewesenes Extrem. Dafür gibt es natürlich objektive Gründe, vor allem die absurde Entscheidung der FIFA, die Weltmeisterschaft überhaupt an Katar zu vergeben. Selbst unser Wirtschaftsminister Habeck meinte, das sei nur durch Korruption zu erklären. Peinlich genug war dann auch die nachträgliche Verlegung in die Vorweihnachtszeit, weil sich offenbar niemand der Offiziellen vorstellen konnte, dass es im Sommer in Katar ziemlich heiß ist. Schließlich kamen kritische Vorberichte über Katar hinzu, vor allem die erschütternden Nachrichten über die Tausende von Arbeitern, die bei der Arbeit an den neu errichteten Stadien gestorben sind. Aber allmählich drängte sich noch ein zweites Protestthema in den Vordergrund: die „Homophobie“ der Machthaber von Katar. Damit haben aber Politische Korrektheit und Wokeness den Fußball erreicht. Schon vor der Weltmeisterschaft gab es dafür erste Anzeichen. So haben sich Fußballspieler nolens volens mit Bekenntnisgesten wie dem Kniefall des George-Floyd-Kults präsentiert. Stadien wurden in Regenbogenfarben erleuchtet, und im Anstoßkreis brachte man geschickt das Peace-Zeichen unter. So vermittelten die Medien bei Gelegenheit des Fußballspiels der guten Deutschen gegen die „homophoben“ Ungarn den Eindruck, eine hysterisch erregte Gesellschaft habe sich unter der Regenbogenflagge vereint. Für viele Fußballfans war das eine erste Lektion in Sachen betreutes Fernsehen. Dieser Bekenntniszwang ist ein reinigendes Ritual. Das „Virtue Signaling“, das öffentliche Zurschaustellen der eigenen Tugendhaftigkeit, funktioniert nämlich wie eine Waschanlage der Gesinnung. Dass sich dabei die ehemaligen Weltmeister des Bösen heute als die Weltmeister des Guten zeigen wollen, ist eine Spitzenleistung kollektiver Heuchelei. Da die deutsche Nationalmannschaft ihre Teilnahme an der Weltmeisterschaft in Katar ja nicht abgesagt hat, musste etwas stattdessen geschehen. So hat die Lufthansa unsere Spieler mit großflächiger Diversity-Werbung auf dem Flugzeug nach Oman gebracht. Für die zuhause Gebliebenen gibt es im Wesentlichen drei Formen des „Virtue signaling“: nicht berichten, nicht zeigen und nicht zusehen. So hatte die linksliberale österreichische Wochenzeitung „Falter“ einen Boykott der Berichterstattung über die WM angekündigt – wobei man sich allerdings fragen muss, ob es überhaupt einen Fan gibt, der sich ausgerechnet im „Falter“ über die WM informieren will. Politische korrekte Fans rollten in den deutschen Stadien Transparente mit dem Boykottgelöbnis aus. Einige Fußballkneipen wollten die Spiele nicht übertragen. Vom Fernsehen scheinbar zufällig ausgewählte Bürger gelobten, bei der WM nicht zuzuschauen. Und nach einer Umfrage des „Spiegel“ wollten 70% der Deutschen die Spiele nicht live verfolgen. Fast könnte man vermuten, dass demnächst die Fernsehboykott-Verweigerer als die neuen „Querdenkern“ behandelt werden. Doch gemach. Am Ende werden nur diejenigen die Spiele in Katar „boykottieren“, die sich ohnehin nicht für Fußball interessieren. Und die von den „woken“ Appellen eingeschüchterten Fans werden den Spielen zusehen „als ob nicht“. Man möchte ihnen zurufen: Wer den Fußball politisiert, der hasst ihn. Genießt die Spiele. Denn Fußball ist rechtfertigungsunbedürftig und begründungsunbedürftig. Hunderttausende strömen regelmäßig in die Stadien der Fußballbundesliga, und wenn die Nationalmannschaft spielt, schaut fast die halbe Nation zu. Was das bedeutet, ist klar: Die Leute wollen spielen und Spiele sehen. Denn das Spiel ist das große Stimulans des Lebens. Spiele faszinieren, weil sie uns ins Paradies des Wesentlichen entführen. Und das Wesentliche ist nicht das Nützliche! Der Spielplatz ist eine gehegte Lebenswelt, in der alles mit rechten Dingen zugeht. Die Spielregel garantiert eine gute Ordnung, in der man immer genau weiß, was zu tun ist. Und deshalb ist die Spielwelt „besser“ als die Wirklichkeit. Faszinierend sind Spiele, weil man total fokussiert ist und völlig in ihnen aufgehen kann. Sie bieten das absolute Erlebnis des erfüllten Augenblicks und setzen die großen Gefühle frei, die wir im Alltag gar nicht mehr unterbringen können. Spiel heißt in erster Linie Ordnung und Regel. Diese Ordnung des Spiels ist nicht sozial, sondern künstlich. Und seine Regeln sind sakrosankt, das heißt keiner der Spieler käme jemals auf die Idee, sie in Zweifel zu ziehen. Diese Welt des Spiels ist so stark begrenzt, dass man sie eigentlich nur von innen wahrnehmen kann. Wie der Mythos verschafft uns das Spiel einen geschlossenen Horizont. Es ist zeitlich und räumlich klar begrenzt. Der Soziologe Niklas Luhmann sagt dazu ganz einfach: „Spiele sind Episoden.“ Das Episodische hat einen Anfang und ein Ende und ist gerade deshalb interessant. Das Spiel ist deshalb auch enttäuschungsfest, weil es eben eine feste Frist und keine Folgen hat. Wenn man weiterspielen will, muss man das Spiel wiederholen. Das Spiel erinnert sich nicht. Und nach jedem Spiel heißt es: zurück auf Anfang! All das ist übrigens leicht zu improvisieren. Den Jungs genügen ein Ball und vier Pullover, um im Park die beiden Tore zu markieren, die sie für ihr Fußballspiel brauchen. Das Spiel ist zwar von der Alltagswelt aus leicht erreichbar, aber zugleich gegen diese Alltagswelt streng abgeschlossen. Sein Sinn liegt im Spielen selbst, und wer nicht spielt, kann ihn nicht begreifen. Während das Spiel aus der Perspektive der Alltagswelt sinnlos erscheint, zeigt es dem Spieler in der Innenperspektive eine sinnvolle Zwecklosigkeit. Wir können das so zusammenfassen: Das Spiel ist eine frei gewählte, unproduktive Handlung, die klar geregelt und klar von der Wirklichkeit abgegrenzt ist – und zwar mit ungewissem Ausgang und in der Regel ohne Folgen. Die Spiele leisten für uns heute also das, was früher die Mythen geleistet haben. Sie bieten uns nämlich eine wohltätige Begrenzung des Lebenshorizonts. Wer nicht mitspielt - und man kann beim Fußball auch als kompetenter Zuschauer „mitspielen“ -, sieht das Spiel nicht richtig. Das Spiel ist so, wie es ist. Spiele haben ein klares Ziel, und zwar in sich selbst. Sie werden durch Spielregeln leicht verständlich geordnet und belohnen jeden Spielzug mit einem unmittelbaren Feedback. Während Prozesse, bei denen man etwas lernt oder produziert, ja meistens sehr langwierig und oft frustrierend sind, gibt es auf die Handlungen des Spielers ein unmittelbares Feedback. Jeder Spielzug verändert entweder die Spielsituation, oder er produziert ein Ergebnis. Denn mit jedem Spielzug löse ich "passende" Reaktionen der anderen aus. Jeder Pass, den ich spiele, verändert für alle die Spielsituation – und wenn es ein Fehlpass ist, geben mir die wütenden Zurufe der Mitspieler ein zusätzliches unmittelbares Feedback. Spiele sind dabei aber fehlerfreundlich und produzieren positiven Stress – wohlgemerkt positiven Stress, denn wer spielt, tut es freiwillig. Jeder Vorschlag, die Spielregeln zu verändern, ruft bei echten Fans nur allergische Reaktionen hervor. Es ist deshalb richtig, wenn man Ordnung und Regel des Spiels mit dem Ritual vergleicht. Wie das Ritual erspart uns auch das Spiel Kommunikation. Ich kann auch in Barcelona ins Stadion gehen und verstehe genau so gut wie die Katalanen, worum es geht. Die Durchbrechung der Spielregel kann niemals Anerkennung finden. Die Urszene des Falschspiels bleibt natürlich für alle Zeit Diego Maradonas durch ein Handspiel erzieltes Tor im Weltmeisterschaftsspiel gegen England am 22.Juni 1986. Seine Erklärung, es sei die „Hand Gottes“ im Spiel gewesen, ist legendär. Man muss sich hier klarmachen, was tatsächlich geschieht. Der Falschspieler spielt nicht, sondern er handelt in der Wirklichkeit, das heißt er sorgt dafür, dass Argentinien in die nächste Runde der Weltmeisterschaft kommt. Aber nicht das Falschspiel hat hier Anerkennung gefunden, sondern die Fehl-Entscheidung des Schiedsrichters. Der Schiedsrichter gehört eigentlich nicht zum Spiel, aber man braucht ihn als Hüter der Regel. Er überwacht die Grenzen des Spiels, die zusätzlich durch das Publikum markiert werden, das den Spielplatz umringt. Dass der Schiedsrichter die Spielregel hütet, sieht man gerade dann, wenn er das Spiel unterbricht. Das ist ein gefährlicher Augenblick, in dem die Wirklichkeit ins Spiel eingebrochen ist, zum Beispiel durch ein grobes Foul mit schweren Verletzungsfolgen. Die Aufgabe des Schiedsrichters besteht also nicht nur darin, in strittigen Situationen zu entscheiden, sondern auch die Spieler, die falsch oder foul spielen, in die Grenzen des Spiels zurückzuverweisen. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, denn der Schiedsrichter steht nicht nur für Regelkonformität, sondern für Fair Play. Fairness ist die Philosophie des Spiels. Es geht dabei um mehr als das bloße Einhalten von Regeln. Man soll sie nicht nur nach ihrem Buchstaben, sondern nach ihrem Geist beachten. Durch den Fair-Play-Gedanken gewinnen die Spielregeln Verpflichtungscharakter. Aber das genügt dann auch. Fair Play erspart uns Konsens und Solidarität, ja sogar Gerechtigkeit. Es genügt der Respekt vor dem Gegner und die Fähigkeit, auch in der Niederlage Haltung zu bewahren. So ermisst sich die Größe eines Spielers daran, wie er mit Niederlagen fertig wird und die Entscheidungen des Schiedsrichters akzeptiert. Es gibt dafür ein leuchtendes Beispiel: die Haltung der deutschen Nationalmannschaft nach dem Wembley-Tor. Am 30. Juli 1966 fand das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und England statt. Geoff Hurst schoss in der Verlängerung das spielentscheidende 3:2. Ein Tor, das offenbar kein Tor war, von dem Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst aber so gewertet wurde – und von den deutschen Spielern klaglos akzeptiert wurde. Hier zeigt sich auch, dass man als Zuschauer ein Spiel auch genießen kann, obwohl die eigene Mannschaft verliert. Jedes Fußballspiel dauert bekanntlich 90 Minuten plus Nachspielzeit. Das bedeutet aber auch, dass die Freude am Spiel nicht mit dem Sieg zusammenfällt. Das Spiel selbst muss interessant, das heißt spannend sein. Wir genießen also gerade auch die Vorlust vor der Entscheidung. Und danach kann man darüber reden. Ein Spiel, über das man ewig spricht, kann also auch eine Niederlage sein. Für mich und wohl alle Fußballfans meines Alters bleibt unvergesslich das 3:4 nach Verlängerung im Halbfinale gegen Italien während der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko. Am Austragungsort in Mexiko-Stadt hängt seither eine Erinnerungstafel mit der Aufschrift: „Das Aztekenstadion erweist den Nationalmannschaften von Italien und Deutschland die Ehre - Protagonisten des ‚Jahrhundertspiels’ vom 17. Juni 1970.“ Der Fußball gehört zu den heute ganz seltenen Bereichen, in denen unsere Kultur überhaupt noch einen harten Wettbewerb anerkennt. In der Schule dominiert längst die Gruppenarbeit, und niemand soll „zurückgelassen“ werden. Am Arbeitsplatz wird zumindest offiziell „Teamfähigkeit“ honoriert, und alle Lasten sollen „sozial gerecht“ verteilt werden. Da wirkt es schon wie ein Tabubruch, wenn jemand mit dem Anspruch auftritt, der Beste zu sein und die anderen zu überragen. Genau das aber erlaubt uns noch der Wettkampfsport. Indem er Sieger und Verlierer produziert, schafft er einen Schauplatz, auf dem wir als "überlegen" und "besser" anerkannt werden können. Im Wettkampfsport gibt es aber nicht nur regelmäßig Sieger und Verlierer, sondern auch eine Verpflichtung zum Siegenwollen. Das lässt sich sehr leicht überprüfen. Wenn man mit jemandem spielt, der nicht gewinnen will, macht es nämlich keinen Spaß. Mit jemandem, der nicht siegen will, kann man nicht spielen, er ist ein Spielverderber, ja er weiß im Grunde nicht, was spielen heißt. In der Antike war der Sieg die antike Gestalt des Glücks. Aber in unserer modernen Kultur der Gleichheit wirkt der Sieg meistens wie eine Peinlichkeit. Deshalb gibt es offizielle Sprachregelungen, die davon ablenken sollen, dass es im sportlichen Spiel eben um Sieg, Überlegenheit und Rangordnung geht, zum Beispiel die Redensart "Dabei sein ist alles". Das ist natürlich Unsinn, und jeder weiß im Grunde auch, dass sich niemand für den Zweitplatzierten interessiert. Wer kennt schon noch den Zweitplatzierten der letzten Europameisterschaft. Dass die Fußballfans Bayer Leverkusen, eine gut ausgestattete Werksmannschaft, die aber doch nie den Titel gewinnt, als „Viezekusen“ verspotten, spricht Bände. Nur der Sieg zählt. Alle aufregenden Spiele sind Nullsummenspiele. Als sprachliche Beruhigungspille war wohl auch die Definition des Fußballspiels als "schönste Nebensache der Welt" gemeint. Doch in dieser Formel steckt auch ein Stück Wahrheit. Der Kampf um Anerkennung heftet sich an Kleinigkeiten. Gerade die von den Kulturkritikern immer wieder beklagte "Sinnlosigkeit" des Sports macht deutlich, dass es um reine Anerkennung geht. Wenn Schalke 04 gegen Borussia Dortmund antritt, geht es um "alles" und um "nichts". Es geht um das Nichts von drei Punkten und um das Alles der Anerkennung. Der Fußballplatz ist die moderne Arena, in der der Kampf um Anerkennung inszeniert wird. Die Spieler wollen den Gegner dominieren, sie wollen die Besten sein. Und wenn sie verlieren, gibt es keine Entschuldigung. Du triffst den Ball - oder nicht. Da hilft kein Moralisieren, Psychologisieren oder der Hinweis auf eine traurige Kindheit. Sport findet in Echtzeit statt. Es gibt kein Nachdenken, die Anstrengung ist so klar erkennbar wie ihr Effekt, und es gibt ein klares Ergebnis: Eine Mannschaft ist besser als die andere. Dauerhafte Dominanz ist im Sport allerdings - man möchte sagen: zum Glück! - etwas sehr Seltenes. Die Mannschaft, die siegt, beherrscht den Gegner hier und jetzt, aber morgen kann es schon anders sein. Dass der, der verliert, prinzipiell auch der Sieger hätte sein können, ist für jedes Spiel die unverzichtbare Voraussetzung. In einer Welt, die "soziale Kompetenz" über alles stellt, die uns also ständig ermuntert, gesellig, freundlich, kooperativ und "teamfähig" zu sein, überlebt das einzigartige Talent nur noch im Sport. Nur hier herrscht noch der neidlose Respekt vor der überragenden Leistung. Entsprechend gibt es im Fußball deutlich sichtbare Grenzen des Schönredens. Wie schon gesagt, ist die Moral des Sports durch das Ideal der Fairness geprägt. Im Gegensatz zu anderen, universalistischen Prinzipien der Ethik, wie sie etwa in den Grundrechten und Menschenrechten verankert sind, ist das Fairness-Ideal für alle Beteiligten sofort verständlich. Dass zum Beispiel die Würde des Menschen unantastbar ist, klingt gut. Aber der Bürger fragt sich eben doch, was das konkret bedeuten soll. Dagegen ist es für den Spieler völlig klar, dass auch der andere siegen können muss. Selbst der größte Fan muss wollen, dass offenbleibt, wer gewinnt. So sehr man jubelt, wenn die eigene Mannschaft gewinnt, so sehr hängt die Spielfreude doch daran, dass das Spiel möglichst lange ergebnisoffen bleibt. Deshalb kann sich der Fan auch nicht mit Doping oder der Manipulation von Spielen abfinden. Die Moral des Wettkampfs ist also viel plausibler und prägender als der kategorische Imperativ. So naiv es klingen mag: Im Sport muss es mit rechten Dingen zugehen. Sport ist die heile Welt der Leistung, die im Wettkampf Ehrlichkeit, Echtheit und Unmittelbarkeit verspricht. Ohne Umschweife kommt der Sportler zur Sache. Es geht um das Wesentliche - sonst nichts. Und das Wesentliche ist eben, den anderen zu besiegen, um dann als der Bessere anerkannt zu werden. So bietet gerade der hoch kommerzialisierte moderne Spitzensport eine Popkultur der Authentizität. Während es in der modernen Gesellschaft immer schwieriger wird, einen Zusammenhang zwischen Leistung und Prominenz zu erkennen, ist es für den Fan das Wunderbare am Fußball, dass er sicher sein darf: Man wird kein weltberühmter Spieler, wenn man nichts kann. Deshalb gönnen wir Ronaldo das Millionengehalt. Der in Frankreich lehrende, russische Philosoph Alexandre Kojève hatte schon in den 50er Jahren vorgeschlagen, was heute als Champions League Wirklichkeit ist: eine multinationale Fußball-Liga. Sie werden sich vielleicht fragen: Wie kommt ausgerechnet ein Philosoph auf diese Idee? Nun, schon vor über hundert Jahren verbreitete sich bei den großen Denkern der Eindruck, dass die westliche Zivilisation in eine Endphase eingetreten ist. Ein bloß noch biologisches Auf und Ab ersetzt die Geschichte und der Lebensstil versteinert. Wir leben in einer Welt fortwährender Veränderungen, in der aber nichts wirklich anders wird. Kojève schreibt: "Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinn. Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte bedeutet ja ganz einfach das Aufhören des Handelns im eigentlichen Sinn des Wortes. Das heißt praktisch: das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen. Und auch das Verschwinden der Philosophie; denn da der Mensch sich nicht mehr wesentlich selbst ändert, gibt es keinen Grund mehr, die Grundsätze zu verändern, die die Basis der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bilden. Aber alles übrige kann sich unbegrenzt erhalten: die Kunst, die Liebe, das Spiel." So Kojève. Seither versucht man, unserer Alltagswelt die verlorenen Lebensspannungen rein formal wieder zu injizieren. Und damit sind wir bei der Champions League, wie sie Kojève so genial vorausgeahnt hat. Die besten Mannschaften aus allen Ländern spielen in dieser Liga – und das ist die große Stimulanz des Lebens. Das alltägliche Leben lebt nicht richtig– bis zum Mittwoch, wenn Real Madrid auf Bayern München trifft. Fußball eignet sich besonders gut, um Lebensenergie aus rein formalen Unterschieden zu gewinnen. Wenn nichts mehr zählt, zählt immer noch der Unterschied zwischen Dortmund und Schalke. Und die Grenze zwischen Dortmund und Schalke kann quer durch eine Familie verlaufen. Deshalb sagen die Fans zurecht, dass Lokalderbys ihre „eigenen Gesetze“ haben, das heißt das Ergebnis ist hier immer besonders schwer vorauszusagen. Zwischen Lokalrivalen entsteht eine besondere Energie. Und jeder Fan spürt, dass es hier um die gemeinschaftliche Produktion künstlicher Unterschiede geht, die das Leben am Leben erhalten. Wie der Sex ist der Sport ein Schauplatz der aktiven Körper und der verklärten Jugendlichkeit. Jugend erscheint dabei als unerschöpfliche Ressource. Schließlich wird Gesundheit hinzuassoziiert, sei es als Fitness oder, abgerüstet, als Wellness. Dass Sport zu treiben, gesund ist, hört man heute aus allen Mündern. Aber diese scheinbare Selbstverständlichkeit führt uns auf eine falsche Spur. Es ist lächerlich, wenn man versucht, die Leidenschaft des Spiels und den Sport als Passion irgendwie mit Hygiene und Gesundheit in Verbindung zu bringen. Im Fußball geht es nicht darum, die Menschen zu kultivieren und zu verfeinern. Derartiges mag ja ein Nebeneffekt sein, aber für den leidenschaftlichen Spieler und den echten Fan geht es einzig und allein um Kampf und Rivalität. Die Freude daran schließt es geradezu aus, dass das Spiel einen über sich selbst hinausweisenden Zweck haben könnten. In Berthold Brechts Stadt Mahagonny kam nach dem Fressen und dem Liebesakt schon das Boxen. Und das war sicher auch der repräsentative Sport jener Zeit, eben der späten zwanziger Jahre. Heute steht eine andere Sportart im Mittelpunkt, nämlich der Fußball. Man kann das daran ablesen, dass die Sportschau der ARD und das Sportstudio des ZDF während der Spielsaison fast nur noch Fußball zeigen. Fußball ist eine Art Weltverständigung, die keine Sprache braucht. Das ist enorm entlastend, denn ich kann hier problemlos mit Menschen umgehen, deren Kultur mir fremd ist und deren soziale Herkunft meiner eigenen diametral entgegengesetzt ist. Bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien spielte am 15.6. 2014 die Elfenbeinküste gegen Japan. Und am 21.6. spielte Argentinien gegen Iran. Es gab dann keine politischen Konflikte und keine sozialen Probleme mehr, sondern es galt nur noch der Satz, mit dem Franz Beckenbauer seine Spieler bei der Weltmeisterschaft 1990 auf den Platz schickte: „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“ Und am nächsten Spieltag wird es wohl nichts geben, worüber ich mich mit meinem Zufallsnachbarn im Berliner Olympiastadion sinnvoll unterhalten könnte – außer über Fußball. Man kann am Strand in Spanien mit ein paar Handzeichen signalisieren, dass man mitspielen möchte – und das genügt in der Regel. Natürlich kann man hier den Einwand formulieren, dass sich die Spieler doch gegenseitig etwas zurufen, oder dass der Trainer etwas ins Spiel hineinruft. Das geschieht aber eben typisch dann, wenn das Spiel nicht richtig funktioniert. Im übrigen sind die Folgen dieses Rufens sehr rätsel- und zweifelhaft. Wenn das Spiel läuft, gibt es keine Kommunikation, sondern nur Beobachtung und Wahrnehmung. Anstelle von bewusster Planung und Kontrolle entscheidet im Fußball die Geistesgegenwart. Vielleicht wird ein Spiel, wie die Spieler gerne sagen, "im Kopf entschieden". Aber eben nicht durch "Denken". Deshalb kann auch jeder Fan glauben, mehr von Fußball zu verstehen als der Bundestrainer. Strenggenommen, kann man nämlich nicht "sagen", was ein Fußballspiel ist. Und das gilt auch für meinen Vortrag! Wenn jemand danach fragt, kann man nur antworten: Geh hin und sieh! Deshalb nutzt es auch nichts, wenn sich ein Europäer die Baseball-Regeln erklären lässt. Geh hin und sieh! Es geht um die Grenzen der Körperbeherrschung und die Feinabstimmung des Körpers. Fußball zu verstehen heißt eigentlich, die Spielbewegung virtuell mitzuvollziehen. Letztlich muss man selbst einmal gespielt haben, um mitreden zu können. Der Zuschauer spielt in gewisser Weise mit und kann jede Bewegung der Spieler nachempfinden, obwohl er sie natürlich nicht nachmachen könnte. Aber im Idealfall nimmt sich der Zuschauer selbst als perfekt beherrschter Körper in Koordination mit anderen wahr. Das ist das Genießen des Fans. Thorstein Veblen war Soziologe und Sportfeind. Immer wieder hat er auf die wesentliche Sinnlosigkeit und systematische Verschwendung als Charakteristika des Sports hingewiesen. Spielen ist unproduktiv, reine Verschwendung und beginnt immer wieder bei Null. Ganz ähnlich wie das Klatschen und das Flirten ist auch das Spielen ein Leerlaufmechanismus. Deshalb ist es den puritanischen Spielverderbern ja auch ein Dorn im Auge. Jedes reine Spiel geht auf, das heißt es produziert keinen Mehrwert, und es bleibt kein Rest. Doch statt eines Mehr-Werts bietet das Spiel eine Mehr-Lust. Und hier liegt die Antwort auf die Frage: Warum muss man immer wieder zusehen, wie Bayern München gegen Borussia Dortmund spielt? Das lässt sich zwar denen, die nicht zusehen, nicht erklären. Aber wer zusieht, bemerkt gleich: Fußball ist buchstäblich Zeitvertreib, das heißt Weltausgrenzung. Spielen ist Sein ohne Zeit. Im Wettkampf gibt es keine Sorgen, sondern nur geistesgegenwärtige Körper. Und im Spiel gibt es auch keine Kunden und Bürger, sondern nur Spieler und Fans. Die Spieler sind passioniert und die Fans sind loyal. Aus allen nicht-sportlichen Perspektiven betrachtet ist der Spitzensport also sinnlos – aber er produziert dann eben seine eigene Sinnsphäre. Vor allem die Fußball-Bundesliga ist ein sich selbst regulierender Markt des Sinns. Jeden Samstag ins Stadion zu gehen oder doch zumindest um 18Uhr30 die Sportschau zu sehen, ist gewiss ein Ritual. Fans pilgern zum Heimspiel oder ziehen als Kreuzritter des Fußballgotts ins fremde Stadion. Wie die Popmusik ist das Fußballspiel ein Glaube ohne Worte. Dafür gibt es einen eindrucksvollen Beleg. Die ARD hatte vor einigen Jahren den fabelhaften Mut, einen Werbespot für die eigene Sportschau zu schalten, in dem das Spiel als religiöses Ritual inszeniert wurde. Zu Orgelklängen der Kirchenmusik sah man Spielszenen, in denen die Spieler sich bekreuzigten, Stoßgebete zum Himmel schickten, ihre Freude und Verzweiflung in religiösen Gesten zum Ausdruck brachten. Die Entrüstung der Kirchenvertreter zeigte, dass der Werbespot ins Schwarze getroffen hatte. Fußball ist eine Ersatzreligion. Im Wettkampfsport gibt es ein Wechselverhältnis von Standard und Neuigkeit, von Routine und Sensation. Und damit die Neuigkeiten und Sensationen nicht verwirren, gibt es die Tabellen, Plätze und Torverhältnisse. Man hat "das Spiel" gesehen, und erfährt dann von den Medien, dass Kimmich 49 Ballkontakte hatte und 14% seiner Pässe beim Gegner landeten. Das ist durchaus eine Wohltat, ein Dienst am Kunden. Denn die Statistik sorgt dafür, dass sich die Welt von Sport, Spiel und Spannung inmitten der Sensationen und Neuigkeiten immer wieder ordnet. Als Fußballfan ist man Bürger zweier Welten, denn man lebt nicht nur in der empirischen Realität des Alltags, sondern auch in der virtuellen Realität des Spiels. Sehr interessant ist hier den Hinweis des Soziologen Niklas Luhmann, dass die moderne Statistik genau wie das Spiel eine Realitätsverdoppelung bietet. Sie setzt nämlich neben die empirische Realität der Einzelfälle „die fiktionale Realität der statistischen Aggregate“. Da liegt es auf der Hand, Spiele mit Statistiken zu begleiten. Der Fußballfan findet die Statistiken im Sportteil seiner Zeitung. Und dem Fernsehzuschauer werden sie bei Weltmeisterschaften oft sogar schon während des Spiels eingeblendet: Götze – Shots: 4 – On Target: 1 – Goals: 1. Zugleich aber erweist sich das Spiel in seinem Verhältnis zum Zufall oft als der Gegenspieler der Statistik. 70% Ballbesitz – was besagt das für das Ergebnis? Im Endspiel um die Champions League am 26. Mai 1999 führte Bayern München nach hoch überlegenem Spiel gegen Manchester United nach 90 Minuten durch ein Tor von Mario Basler mit 1:0. Erst in der ersten Minute der Nachspielzeit konnte Sheringham ausgleichen, und in der dritten Minute der Nachspielzeit gelang Solskjaer sogar noch der Siegtreffer! Soll man nun sagen: Unverdient gewonnen? Nein, nur das Unerwartete ist geschehen. Bei vielen Wettkampfarten spielen Glück und Zufall eine Rolle – und das erhöht sogar noch ihren Reiz. Es würde ja überhaupt keinen Spaß machen, Fußball zu spielen oder gar einem Fußballspiel zuzuschauen, wenn immer nur der Bessere, der Favorit gewinnen würde. Doch Gott sei Dank gibt es Glückstore, Abschlusspech, widrige Windverhältnisse und entscheidende Unebenheiten im Rasen. Dann kann der Schwächere über sich hinauswachsen. Fußball fasziniert, weil das Spiel hohe Komplexität aus einfachsten Spielregeln aufbaut. Damit ist Unvorhersehbarkeit garantiert. Das produziert nicht nur Spannung, sondern auch einen unaufhörlichen Erklärungsbedarf, der dann am Stammtisch oder von den Experten im Fernsehen befriedigt wird. Die Medien benutzen das nun wiederum als Einfallstor für Talk und Entertainment. Während das Spiel selbst also ohne Sprache funktioniert, liefert es gleichzeitig den Anlass für endlose Kommunikationen. Und genau deshalb haben auch die Fußball-Laien eine Chance, das Spiel zu genießen. Vom „Sommermärchen“ der Fußballweltmeisterschaft 1990 ließ sich ganz Deutschland verzaubern. Aber auch jedes Bundesligaspiel bietet diesen Zauber der Aufregung im Container. Wir erregen uns in den Grenzen der Spielzeit. Hier erweist sich das große Fußballspiel als ein Spektakel, aber zugleich auch als ein Ereignis und ein Ritual. Als Spektakel befriedigt es die Schaulust und Neugier, als Ereignis beschwört es die Aura des Einmaligen und als Ritual suggeriert es Sinnstiftung. Und in der Tat kann man sagen, dass die ARD-Selbstwerbung für die Sportschau etwas Entscheidendes getroffen hat: Das Fußballfestspiel ersetzt die Religion. Bei Fußballweltmeisterschaften wie jetzt in Katar schauen auch Millionen von Menschen zu, die sich für die Spiele selbst eigentlich gar nicht interessieren. Warum eigentlich? Beim großen Sportfest geht es auch um die Mystik des Ereignisses. Es schadet deshalb nichts, wenn einige Besucher und Zuschauer des Spiels gar nicht verstehen, worum es sachlich geht. Mystik ist nämlich Mitteilung ohne Information: Man kann hier nur verstehen, was man erlebt hat. Für den Teilnehmer des Ereignisses war es dann "ein Erlebnis". Alles, was hier geschieht, ist voraussetzungslos und folgenlos. Deshalb ist das Feuerwerk der Inbegriff des Events. Es kommt aus dem Nichts, erstrahlt und verpufft. Ein Fest ist immer die gelungene Entlastung vom Alltag, der kultivierte Ausnahmezustand der Seele. Und das kommt eben zur Faszination des Spiels selbst noch hinzu. Die Festgemeinschaft feiert sich selbst - nämlich mit La Ola im Stadion. Denn für die Zuschauer – und nicht etwa für die Spieler! - gilt tatsächlich: Dabeisein ist alles! Die Bedingung dafür, dass Spiele uns faszinieren können, liegt in der strikten zeitlichen und räumlichen Begrenzung. Unter dieser Bedingung wird es möglich, bestimmten Verhaltensweisen, die sonst tabuisiert sind, einmal freien Lauf zu lassen. Man betritt einen Zauberkreis, in dem spezielle Regeln herrschen. Und sobald man den Kreis wieder verlässt, ist auch die normale Welt wieder da. Kein Fan hat ja Zweifel daran, dass außerhalb des Stadions eine andere Welt existiert. Aber im Stadion entfaltet sich eine eigene Welt, und sie ist überschaubar. Das Spiel ist das Paradies des Wesentlichen. Alles das, was uns die wirkliche Wirklichkeit vorenthält, wird in diesem Zauberkreis geboten. Jedes große Fußballspiel erinnert uns an den ursprünglichen Zusammenhang von Kult, Kunst und Spiel. Jubeln, Prunken und Feiern sind ein Ausdruck der Zustimmungskultur. Spielen stellt unsere Zustimmung zur Welt und damit den Gegenpol zur kritischen Bewusstseinskultur dar. Und davon profitieren vor allem auch die Massenmedien, die mit großem Erfolg versuchen, die gesamte Weltbevölkerung in das Spektakel einzubeziehen. Auch im Gaza-Streifen schaut man mit Hilfe von Notstromaggregaten Fußball! Was den Fernseh-Machern hierzulande wohl vorschwebt, ist eine Synthese von Fußballspiel und Love Parade. Damit werden sie einem neuen Fan-Typus gerecht, dem es weniger um Fachsimpelei als vielmehr um Spaß und gute Laune geht. Wer heute beim Länderspiel schwarz-rot-goldne Fähnchen schwenkt, kommuniziert nicht "Deutschland über alles", sondern "Let's have a party." Und das widerspricht dem Geist des Fußballs keineswegs. Denn wie die Party ist das Ritual der Fans ungesund, unkultiviert und zwecklos. Und genau das waren Berthold Brechts Kriterien für die Legitimität des Sports. Ich will abschließend noch etwas grundlegendere Überlegungen zur Bedeutung der Spiele anstellen. Denn Fußball ist ja nur ein Spiel unter anderen – wenn auch wohl das weltweit faszinierendste. Die Leute wollen spielen und Spiele sehen. Denn das Spiel ist das große Stimulans des Lebens und Spielen der reinste Ausdruck von Lebensfreude. Das Spiel macht die Sorgen vergessen und es versetzt uns in eine Unschuldswelt. Es funktioniert also wie ein kleines Fest. Jedes Spiel bietet ein Fest für das Ich, einen Ausnahmezustand der Seele. Das Spiel ist affirmativ – aber nicht gegenüber der bestehenden Gesellschaft, sondern gegenüber dem Leben. Spielen ist Ja-sagen. Der Spielwelt gegenüber ist keine Skepsis möglich, sondern nur rückhaltlose Zustimmung. Wer spielt, genießt eine vollkommene Ordnung, zu der man nicht mehr braucht, als einen Ball und eine Regel. Der Ball schenkt uns den Zufall, die Spielregel schenkt uns die Notwendigkeit. Und so können wir im Spiel das Notwendige lieben und uns am Zufall ergötzen. Spielen ist reale Freiheit. Ich denke, es gehört zu den unbestreitbaren Lebenserfahrungen, dass Menschen, die keinen Sinn für Spiele haben, die Liebenswürdigkeit fehlt. Schon vor einem halben Jahrhundert hat der erste bedeutende Medientheoretiker, der Kanadier Marshall McLuhan, sogar gesagt: Eine Gesellschaft ohne Spiele versinkt in die „Zombie-Trance“ eines leeren, automatischen Funktionierens. Und wenn wir aus diesen Funktionen auftauchen wollen, müssen wir spielen. Nur die Spielfreude zeigt den Weg zum ganzen Menschen. Diese These geht bekanntlich auf Friedrich Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen zurück und sie scheint mir aktueller denn je: Der Mensch ist nur ganz Mensch, wenn er spielt. Nun könnte man eigentlich erwarten, dass die ungeheure Bedeutsamkeit des Spielens für das Leben der Menschen von den Wissenschaftlern analysiert wird. Das Gegenteil ist aber der Fall. Kaum ein anderes Phänomen des menschlichen Lebens ist so allgegenwärtig und wird von den Denkern doch so stiefmütterlich behandelt. Die Wissenschaft nimmt Spiele nicht ernst oder sie produziert einen Alarmismus der „Suchtgefahr“. Die Kulturkritik jammert über die spätrömische Dekadenz von „Brot und Spiele“. Vielleicht findet die Wissenschaft deshalb keinen Zugang zur Welt des Spiels, weil sich jedes Spiel klar vom Ernst des Lebens abgrenzt. Es scheint dabei nur um Freizeitbeschäftigung und Unterhaltung zu gehen. Nun ist es zwar richtig und trivial, dass man in der Freizeit spielt und dass Spiele unterhaltend sind. Doch das führt uns nicht zum Kern der Sache. Um die Faszinationskraft der Spiele zu verstehen, muss man sich über das Schicksal unserer großen Gefühle und Leidenschaften klar werden. Unsere Gefühle und Leidenschaften sind unendlich viel älter als die Zivilisation. Stellen wir uns also einmal die Frage: Wo sind unsere Gefühle zu Hause? Wo ist unsere evolutionäre Heimat? Die Antwort auf diese Frage geben nicht die Historiker und Sozialwissenschaftler, sondern unsere Spiele. Jedes Spiel weckt die reinen, starken Gefühle, die wir in der modernen Gesellschaft nicht mehr ausleben können. Deshalb ist unsere Haltung zum Spiel zweideutig. Einerseits verbinden wir das Glück der Kinder mit dem Spielen, andererseits halten wir spielende Erwachsene leicht für kindisch oder gar suchtgefährdet. Man wird zum ernst zu nehmenden Erwachsenen scheinbar genau in dem Maße, in dem man sich von der Welt der Spiele entfernt. Wer spielt, tut etwas Überflüssiges, das heißt er verhält sich nicht ökonomisch und rational. Die Rechtfertigung, die unsere Gesellschaft dem Erwachsenen, der Lust am Spiel hat, allenfalls anbietet, lautet: Spielen dient der Erholung vom Stress des Alltags. Das ist natürlich richtig. Doch dieses Argument gibt dem Spielen nicht das gute Gewissen zurück und es kann auch nicht erklären, warum wir von Spielen fasziniert sind. Ausgerechnet der asketische Philosoph Immanuel Kant hat es in seiner Kritik der Urteilskraft die beste Erklärung gefunden: Das Spiel ist vergnüglich, weil es die „Munterkeit des Gemüts“ befördert. Ja, Kant geht so weit, zu sagen, dass man im Spiel das Gefühl der Gesundheit genießt. Das Spiel ist deshalb wahrhaft universal. Man findet es in jeder Epoche und jeder Kultur. Es versetzt uns in einen Ausnahmezustand der Ekstase von Spaß und Spannung, der von jedem Punkt des Alltags aus erreichbar ist. In Friedrich Schillers 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen findet sich die berühmteste Stelle aller Theorien des Spiels. Schiller schreibt dort: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ So Schiller. Wenn ich spiele, bin ich ganz! Ich denke, wir sind gut beraten, wenn wir noch einen Augenblick bei Schiller bleiben. In seinem 27. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen gibt er eine sehr gute Antwort auf die Frage, wo wir denn eigentlich sind, wenn wir spielen. Er spricht von einem „dritten, fröhlichen Reiche des Spiels“, das zwischen dem physischen und dem moralischen Reich liegt. Dieses Reich des Spiels unterliegt also weder dem Zwang der Naturgesetze noch dem Zwang der Sittengesetze. Wir müssen uns jetzt fragen: Wo sind wir, wenn wir spielen? Wo liegt eigentlich der Spielplatz? Der Spielplatz ist eine gehegte Lebenswelt, und damit bietet er zweierlei, nämlich zum einen die Beruhigung der eigenen Lebenswelt und zum andern ein Genießen ohne Weltverantwortung. Der Vergleich mit dem Paradies liegt auf der Hand. Im Paradies wie in der Welt der Spiele gibt es keine Beziehungen, die zu komplex sind. Jeder Spielplatz ist eine überschaubare Welt. Es gibt nichts Bedrohliches, und die Erfahrungen entsprechen letztlich den Erwartungen. So eingehegt, kann man Gefühle kultivieren, die im Alltag keinen Platz mehr finden. Der Prozess der Zivilisation unterdrückt die großen Gefühle. Und gerade deshalb werden Spiele immer wichtiger. Sie funktionieren als soziale Asyle des Enthusiasmus. Gerade in unserer modernen Wohlstandsgesellschaft wächst das Bedürfnis nach spielerischer Erregung, die uns die Routinen des Alltags wieder erträglich macht. Das Spiel ist das Medium der heimatlosen großen Gefühle. Und hier wird wieder deutlich, wie wichtig die scharfe Abgrenzung des Spielfeldes von der Alltagswelt ist. Das Spiel findet in einem Container statt. Wie in einem Container ist man auf dem Spielplatz unbelangbar und kann ohne Weltverantwortung genießen. Nur in einem solchen Rahmen lassen sich heute noch die großen Gefühle kultivieren. Denn die Leidenschaften und der Enthusiasmus passen nicht mehr in unsere Welt. Im Spiel aber lassen wir uns überraschen und aufregen. Diese Gefühle können wir genießen, weil wir den Container jederzeit verlassen können. Im Grunde haben das auch schon die Romantiker gewusst. Ich denke hier vor allem an die schöne Formel des Romantikers Wilhelm Heinrich Wackenroder, der vom „Verdichten der im wirklichen Leben verloren umherirrenden Gefühle" gesprochen hat. Das kann man jeden Samstag im Stadion erleben. Mit Leidenschaften ist man in der modernen Gesellschaft prinzipiell fehl am Platz. Gerade deshalb aber brauchen wir Ersatzschauplätze, an denen große Gefühle inszeniert und ausgelebt werden können – und zwar eben unter der Bedingung, dass sie durch einen Container eingefasst sind. Wenn der Schlusspfiff ertönt und das Spiel endet, ist auch Schluss mit den großen Gefühlen. Ich muss aufhören zu jubeln und zu fluchen. Das normale Leben läuft wieder auf niederer Temperatur. Aus dem Spiel entspringt nicht nur die Kultur, sondern es ist auch die Lösung des größten Problems unserer Spätkultur, nämlich der Langeweile. Was wir heute Entertainment nennen, ist aus dem Spiel entstanden. Wer sich langweilt, dem mangelt es an Irritation. Das ist offenbar der Preis, den wir alle für die Sicherheit und Bequemlichkeit des modernen Lebens zu zahlen haben. Und hier kommt nun das Spiel ins Spiel. Aus der Sackgasse, in die uns das Bedürfnis nach Komfort gesteuert hat, kann uns nur die Stimulation des Neuen befreien. Man könnte das Glück nennen. Norbert Bolz
Und Deutschland?
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