Stationen

Montag, 7. Oktober 2024

Arschkriecherland

Den erbärmlichen Linkskonformismus Deutschlands, in dem es sich seit spätestens 2014 befindet, hatte ich nicht für möglich gehalten, aber die Feigheit, einfältige Borniertheit, Verlogenheit, hündische Weisungsbefolgung gegenüber Befugten ohne Kompetenz und Autorität und der niederträchtige Opportunismus, all dies hat mich nicht überrascht. Im Gegenteil, ich war darauf gefasst und vorbereitet. Deutschland ist ein Land  gesichtsloser, geschichtsverachtender, beschränkter, überheblicher Waschlappen, die man an der Gurgel hat, wenn sie einem nicht die Füße küssen. Was weiter unten folgt, ist ein Bericht von Dietrich Brüggemann, einem der Initiatoren der Aktion "Alles dichtmachen", dazu, wie es ihm danach und bis heute erging und geht. In einem Land, in dem Zivilcourage und Zivilgesellschaft groß geschrieben werden, in welchem Generationen von Schülern zu kritischem Denken angehalten wurden, das tatsächlich aber - nach wie vor - ein Arschkriecherland ist, in welchem man Mut nur in der Meute zeigt und nur dann, wenn es gegen eine Minderheit geht, die man jetzt mal aus Herzenslust hassen darf; in welchem Establishment und Politik dazu das Signal geben, Medien und Hilfstruppen dann ihren Abscheu gegen "Blinddärme der Gesellschaft" äußern, kultivieren und pflegen.

Der Umgang mit Corona bleibt die letzte und größte Schande der Merkelrepublik.

Hier berichtet der Regisseur und Autor, welche Konsequenzen das bis heute für ihn hat – und nennt dabei auch Namen. Stand: 31.05.2024


Seit ich denken kann, wurde mir gesagt, man solle „mutig sein“, gern auch „unbequem“. Literaten und Künstler, die ihre Stimme gegen die Staatsmacht erhoben, waren stets leuchtende Vorbilder. Da ich das Glück hatte, in einem Land aufzuwachsen, in dem man weitgehend tun und lassen konnte, was man wollte, sah ich mich in dieser Hinsicht nie besonders gefordert. Eine gewisse Distanz zur politischen und gesellschaftlichen Macht war mir gleichwohl selbstverständlich, und damit fühlte ich mich nicht allein. Alle um mich herum fanden Vorratsdatenspeicherung falsch, Gentechnik ungut und so weiter. Mutig war das nicht, aber im Zweifelsfall, na klar, wären wir mutig gewesen.

Seit 2020 ist aber einiges passiert, das mich neu ins Nachdenken bringt: Sollte man mutig sein? Vom künstlerischen Standpunkt aus würde ich weiterhin sagen: Ja, unbedingt. Rein strategisch: Vielleicht eher nicht.

Im Frühjahr 2020 ging eine Erzählung von einem neuartigen Virus um die Welt. Niemand war immun, deswegen sollten wir alle zu Hause bleiben und ganze Gesellschaften lahmlegen. Ich fand das fragwürdig. Es gab genügend Fachleute, die sich anders äußerten, und die ungeheuren Schäden, die solche Maßnahmen anrichten würden, waren für mich offensichtlich. Also tat ich, was ich immer tat: Ich blieb skeptisch. Ich musste allerdings bald feststellen, dass ich diesmal mit meiner Haltung allein war. Ein Jahr lang sah ich mir an, wie die Corona-Maßnahmen sich immer mehr verselbständigten. Dann kam ich mit einer Gruppe von Schauspielern in Kontakt, die die Situation genauso erschreckend fanden wie ich, und so entstand die Aktion #allesdichtmachen. Nach einem Jahr voller fruchtloser Argumente waren Argumente offensichtlich egal, also machten wir stattdessen Witze. Die Empörung kannte daraufhin keine Grenzen. Wir hatten ein paar Videos ins Netz gestellt, niemand musste sie anschauen, aber was jetzt passierte, wäre in vormodernen Zeiten eine Steinigung durch einen wütenden Mob gewesen.

Hat mir das beruflich geschadet?

Die Antwort besteht aus vielen Einzelteilen. Betrachten wir sie der Reihe nach.

Einige Tage nach der Aktion erschienen zwei Texte im „Tagesspiegel“, in denen gemutmaßt wurde, die Aktion sei von einer „kleinen Gruppe von Aktivisten mit undurchsichtiger Agenda“ geplant worden, es gebe „Verbindungen ins Querdenker-Milieu“, aber vor allem war ich persönlich der Bösewicht, ich wolle „die Grenze zwischen Wahr und Falsch verwischen“ und so weiter. Der „Tagesspiegel“ hatte mich nicht zur Sache befragt und sich auch andere Fehler geleistet, musste die Texte immer wieder korrigieren und stand am Ende peinlich entblößt da. Ich fand die Artikel ärgerlich, aber auch lächerlich und nahm nicht an, dass irgendjemand so etwas ernst nehmen würde.

Zwei Wochen nach der Aktion rief ich Gunnar Cynybulk an, den Inhaber des Kanon-Verlags, bei dem mein Roman „Materialermüdung“ ursprünglich erscheinen sollte. Ich hatte Cynybulk als klugen und bedächtigen Menschen kennengelernt, und als ich zum Hörer griff, ging ich davon aus, dass er sagen würde, man solle diesen Sturm im Wasserglas jetzt bitte zu den Akten legen und lieber den Roman fertigschreiben. Das Gespräch verlief jedoch anders. Cynybulk druckste herum, er hätte mich ohnehin bald angerufen, er habe intensiv nachgedacht und auch in Abstimmung mit den Gesellschaftern beschlossen, meinen Roman nicht zu veröffentlichen.

Mir fiel die Kinnlade herunter. War nicht die Loyalität von Verlegern zu Autoren, die im Kreuzfeuer stehen, eine klassische Tugend in der Literaturwelt? Offenbar nicht. „Kanon möchte“, schrieb er mir danach, „eine Literatur ermöglichen, die nicht destruktiv ist, und Künstler:innen fördern, die ihre Meinungsfreiheit nicht missverstehen“. Außerdem bat er mich nachdrücklich darum, Stillschweigen über diesen Vorgang zu bewahren – und dann forderte er noch den bereits gezahlten Vorschuss zurück. „Die politisch motivierten Verlautbarungen“, schrieb er danach an meine Literaturagentin, die glücklicherweise zu mir hielt, „entwerten und beschädigen das Kunstwerk. Es wäre spannend zu sehen, inwieweit Gerichte dieser Lesart folgen.“ Außerdem sei ein Verzicht auf den Vorschuss in Höhe von 5000 Euro „für einen Verlag in seiner Gründungsphase undenkbar“.

So dringend wollte er dann doch nicht herausfinden, ob Gerichte dieser Lesart folgen, zumindest hat er mich nicht auf Rückzahlung verklagt. Ich habe Gunnar Cynybulk im Vorfeld dieses Textes gefragt, ob er die damalige Entscheidung weiterhin richtig findet, bekam jedoch keine Antwort.

Im Jahr 2017 hatte ich mit der Musikerin Desiree Klaeukens die Band Theodor Shitstorm gegründet. Unser zweites Album sollte bei dem Hamburger Label Grand Hotel van Cleef erscheinen, für das ich seit 2010 zahlreiche Videos gedreht hatte und dem ich mich freundschaftlich verbunden fühlte. Auch hier war jetzt helle Aufregung. Labelchef und Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch ignorierte mein Angebot, persönlich zu reden, stattdessen ließ er uns in einem Zoom-Call einige Wochen später von seinem Kollegen Rainer G. Ott die Entscheidung überbringen, dass man sich von uns trennen werde. Es war, wie er selbst sagte, das erste Mal in der Labelgeschichte, dass man eine Band hinauswarf. Es folgten ein paar Mails sowie ein Telefongespräch, das bald in Anschreien überging. Schließlich schrieb er mir, das Ganze sei ein „Schlag ins Gesicht“ (von mir an ihn, nicht etwa umgekehrt) „und für mich die größte Enttäuschung der Labelgeschichte“. Die Folgen waren für die Band unerfreulich, aber wir haben selbst ein Label gegründet, und das Album ist nun endlich im Februar 2024 erschienen. Ich habe Grand Hotel van Cleef um Stellungnahme gebeten, ob sie die damalige Entscheidung immer noch richtig finden, aber keine Antwort bekommen.

Mein Roman war unterdessen bei einem Lektor des Verlags Hoffmann und Campe gelandet, und der schrieb mir, das Buch sei „nichts weniger als das absolut umwerfende Porträt der deutschen Republik im Jahre 2021, ein großer, unglaublich unterhaltsamer Roman, gespickt mitunter mit den besten Dialogen, die ich in meiner zwanzigjährigen Karriere als Lektor gelesen habe“. So etwas liest man natürlich gern, aber die Freude währte nicht lang, denn gleich darunter schrieb er, dass man es bei Hoffmann und Campe „sich aber nicht zutraut, Ihren Roman so aufzustellen, wie er aufgestellt werden müsste aufgrund der Verwerfungen im vergangenen Frühjahr“. Das fand ich wiederum bedauerlich, denn die erwähnte Loyalität zum kontroversen Autor gehört bei Hoffmann und Campe nun wirklich zum Tafelsilber, das geht zurück bis zu Heinrich Heine, der seinen Verleger besingt, er wolle mit Campen „in Rheinwein und Austern schlampampen“, und auch in jüngerer Zeit hatte man hier zum Beispiel kein Problem mit Monika Maron, nachdem sie bei Fischer nicht mehr erwünscht war. Ich habe an Hoffmann und Campe geschrieben und gefragt, wie man heute zu dieser Entscheidung steht, aber bisher kam keine Antwort.

„Stern TV“ war die einzige Talkshow, die nach #allesdichtmachen mit uns und nicht nur über uns reden wollte. Ich nahm die Einladung an, musste mich aber im Vorfeld einer merkwürdigen Inszenierung erwehren: Man hatte in einem Schneideraum unsere 53 Videos auf den Monitoren arrangiert, dort sollte ich mich davorsetzen und so tun, als sei ich gerade mitten in der Postproduktion, und das wollte man dann zwischen Statements von betroffen-empörten Schauspielkollegen schneiden. In der Sendung gelang es mir, bei der Sache zu bleiben und sogar mit meiner designierten Gegnerin, der Instagram-Ärztin „Doc Caro“ Holzner, zu fraternisieren.

Weitere Talkshows gab es nicht, Interviews in Leitmedien nur eines in der „Welt am Sonntag“, dafür zahlreiche Texte, die meistens die Erfindungen des „Tagesspiegel“ übernahmen. Besonders rustikal betätigte sich ein Autor namens Andreas Hartmann, der in der „taz“ unter dem Titel „Werk, Autor, Sumpf“ feststellte, ich sei „richtig abgetaucht in den Sumpf“ und werde „aus diesem so schnell wahrscheinlich auch nicht mehr herauskommen“. Ich habe bei der Chefredaktion der „taz“ angefragt, ob man derartige Hetzartikel nach zwei Jahren Drüberschlafen immer noch gut findet, aber bisher wurde nicht geantwortet.

Die meisten anderen Medienbeiträge ignorierte ich, nur als im Radio-Eins-Podcast von Serdar Somuncu und Florian Schroeder behauptet wurde, ich sei „längst in einem Milieu unterwegs, das nicht nur am Rand des Querdenkertums oder am Rand des Verschwörungsmystikers steht, sondern mittendrin“, schrieb ich einen Brief samt Gesprächsangebot. Serdar Somuncu schrieb zurück und lud mich in seine Sendung „Die Blaue Stunde“ ein. Das telefonische Vorgespräch war offen und fair. Eine Stunde vor der Aufzeichnung rief mich dann Florian Schroeder mit unterdrückter Nummer an und erläuterte mir in einem zwanzigminütigen Monolog mit schneidender Stimme, dass Kritik an den Corona-Maßnahmen ganz automatisch Verschwörungstheorie sei.

Die Sendung verlief dann wiederum anders als das Vorgespräch, geriet nämlich zu einer Art Verhör mit ständigem Unterbrechen und inquisitorischer Fragerei.

Knapp zwei Jahre später hatte Serdar Somuncu dann seine Meinung geändert und bezeichnete die Maßnahmen der Regierung als „verirrte Katastrophenpolitik“. Daraufhin schrieb ich ihm, ob wir unsere Sendung vom Frühjahr 2021 vielleicht nochmal aufrollen sollten. Er antwortete mir, er habe mir Fragen gestellt, ich hätte sie beantwortet und er sehe keinen weiteren Gesprächsbedarf. Ich schrieb außerdem der Wortredaktion von Radio Eins, wie man es findet, wenn Andersdenkende auf einem öffentlich-rechtlichen Sender, der ja vielleicht für Ausgewogenheit und Meinungsvielfalt stehen sollte, derart behandelt werden, aber es kam keine Antwort.

Mein Roman erschien dann im August 2023 bei einem kleinen Frankfurter Verlag, und die Veröffentlichung war in ihrer Ereignislosigkeit zutiefst beeindruckend. Eine bestens im Feuilleton vernetzte PR-Agentin fand das Buch zwar umwerfend und ging auf große Werbetour, aber das brachte rein gar nichts. Ein befreundeter Journalist hätte es gern für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ rezensiert, durfte aber laut eigener Aussage nicht, und bei meinem Verlag bekam ich eine SMS zu sehen, in der jemand schrieb: „Bei der Vogue wie überall: N.’s Chef (Name geändert und abgekürzt, Anm. d. Red.) will nicht, dass sie Brüggemann macht. Seine Tweets seien ‚gefährdend‘“.

Lorenz Maroldt, Chefredakteur des „Tagesspiegels“, war mit der Berichterstattung zu #allesdichtmachen nicht glücklich. Das führte zu einem Gastbeitrag, in dem ich meine Sicht der Dinge darlegen durfte. Dieser erschien online, wanderte auf der Website aber schnell nach hinten. Wir blieben in losem Kontakt, und als wir uns im Frühjahr 2022 mal wieder trafen, kam das Gespräch auf Harald Martensteins Abgang als Kolumnist, und ich sagte: Wie wär’s, wenn ich für euch eine Kolumne schreibe? Klar, erwiderte Maroldt, machen wir. Ich fragte, ob er das einfach so entscheiden könne, er sagte ja, also freute ich mich, und wir besiegelten den Beschluss mit Handschlag vor Zeugen. Als ich aber zwei Wochen später darauf zurückkommen wollte, flüchtete er sich in zahlreiche Bedenken und wollte nicht mehr an seine Zusage erinnert werden. Was die Gründe waren, ist mir unklar, ich vermutete redaktionsinternen Protest, aber immerhin durfte ich so in Erfahrung bringen, wieviel der Handschlag von Lorenz Maroldt wert ist.

Es ist aber nicht so, dass es nur Gegenwind gegeben hätte. Im Sommer 2021 rief mich ein Drehbuchdozent der Babelsberger Filmuniversität an und sagte, es sei eine halbe Professur ausgeschrieben, ich solle mich bewerben, man bräuchte mehr eigenwillige Leute. Also schrieb ich eine Bewerbung. Zwei Tage vor der öffentlichen Anhörung im Mai 2022 bekam ich eine anonyme Mail, in der ich gewarnt wurde, unter den Studierenden kursiere ein offener Brief gegen mich. Der Brief war angehängt, und darin stand, ich würde Corona „verharmlosen“, „wissenschaftliche Erkenntnisse“ leugnen und mich „herablassend und respektlos zur Gender-Debatte und zu feministischen Standpunkten“ äußern. Unterschrieben hatten einige hundert Hochschulangehörige, darunter alle drei amtierenden Vizepräsidenten. Einer davon ist der Produzent Martin Hagemann, den ich bisher sehr geschätzt hatte. Wenn man mir mit einem offenen Brief gegen Martin Hagemann gekommen wäre, dann hätte ich zum Telefon gegriffen und ihn angerufen. Ich habe ihm geschrieben und gefragt, wie er mittlerweile dazu steht, aber bisher kam keine Antwort.

Die Anhörung selbst verlief harmlos und friedfertig, dann wurde das Berufungsverfahren zwei Jahre lang verschleppt und schließlich Anfang Mai 2024 wegen Überschreitung der Höchstdauer abgebrochen. Auf Anfrage teilte die Filmuniversität mir mit, ich sei im Votum der Berufungskommission auf Platz 1 der Liste gewesen, die Abbruchentscheidung habe aber nichts mit mir oder meinem gesellschaftspolitischen Engagement zu tun. Zudem drohte man mir, man werde, falls ich in den Medien einen solchen Zusammenhang nahelegen sollte, „gegen eine etwaige Falschaussage vorgehen“. Auf meine Anfrage, warum das Verfahren denn eigentlich so lang gedauert hat, kam keine Antwort.

Die fehlende Medienresonanz zu „Materialermüdung“ betrübte mich natürlich, also schickte ich ein Exemplar an die Radio-Eins-Moderatorin Bettina Rust, die mir seit Jahren freundlich zugetan war. Sie las es und mochte es sehr. Auf die Frage, ob wir mal eine Sendung machen, antwortete sie aber ausweichend und teilte mir schließlich mit, die Programmchefin Dorothee Hackenberg wünsche nicht, dass ich eingeladen werde. Und das war der Moment, in dem ich dann doch ungehalten wurde. Man darf also beim RBB nur dann in Erscheinung treten, wenn man keine politischen Meinungen geäußert hat, die der Chefin nicht passen? Ich habe Frau Hackenberg und auch die Intendanz um Stellungnahme gebeten und warte seitdem gespannt auf Antwort, denn als öffentlich-rechtlicher Sender verstößt der RBB hier eklatant gegen seinen Auftrag, aber anscheinend ist man hier mit einem PR-Desaster nicht zufrieden, sondern will möglichst viele weitere.

Und dann wäre da noch der allerneueste Eintrag in der Liste: Ich hatte unter Pseudonym ein kleines Buch bei einem Kinderbuch-Literaturagenten eingereicht. Er fand es toll, bot mir Vertretung an und schickte einen Vertrag. Als ich daraufhin bekannt gab, wer ich wirklich bin (ich hielt das auch nach drei Jahren für unproblematisch) war er ganz entsetzt und wollte nichts mehr davon wissen.

Es gab allerhand kleinere Vorfälle, die aufzuzählen hier den Rahmen sprengen würde. Aber es finden sich wiederkehrende Motive: Man hat es sich nicht leicht gemacht, man hat viel nachgedacht, man hat auch nie allein entschieden, sondern in Abstimmung mit irgendeinem Kollektiv, und man hat nie das Naheliegendste hingekriegt, nämlich zum Telefon zu greifen und mit mir zu reden. Dabei ist „miteinander reden“ doch eigentlich eine Tugend, die in ähnlich hohem Ruf steht wie „mutig sein“.

Die vorläufige Bilanz des Mutigseins lautet also: Spar dir den Ärger. Auf einem Gebiet sehen die Dinge jedoch anders aus, und zwar in meinem Hauptberuf als Filmemacher. Die öffentlich-rechtlichen Spielfilmredaktionen, mit denen ich zu tun habe, sind nämlich offenbar die einzigen Stellen im Land, bei denen man nicht gleich rausgeworfen wird, wenn man die Regierung kritisiert. Ich drehe einen „Tatort“ mit Ulrich Tukur und entwickle einen weiteren für das Stuttgarter Team. Es ist also am Ende erfreulich, dass man bei einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung seine Stimme erheben und dann trotz großer Hysterie weiterhin kulturschaffender Teil der Gesellschaft sein kann.

Für diejenigen, die den Ausgrenzungs- und Steinigungsreflexen nachgegeben haben, ist es gleichwohl peinlich, aber diese Peinlichkeit ist ein Anzeichen dafür, dass etwas schiefläuft, und deswegen nenne ich hier auch bewusst Namen. Bezeichnend finde ich außerdem das Schweigen, das auf all meine Anfragen folgte. Wenn man damals so intensiv nachgedacht hat, dann sollte man doch zumindest bestätigen können, dass man die getroffene Entscheidung weiterhin richtig findet. Doch dazu scheint niemand in der Lage zu sein. Was hindert einen dann andererseits, zuzugeben: Es war vielleicht falsch?

Ich würde gern schließen, dass wir „als Gesellschaft“ wieder zu einer besseren „Debattenkultur“ finden sollten, aber solche Appelle erscheinen mir angesichts der hier versammelten Erlebnisse illusorisch. Die Zeit wird Corona irgendwann ins rechte Licht rücken, aber bei der nächsten Gelegenheit wird dieselbe Choreographie mit anderen Akteuren wieder genauso ablaufen. Meine Aufgabe sehe ich daher nicht in folgenlosen Appellen, sondern im Erzählen, denn am Ende geben all diese Ereignisse dankbare Stoffe für Filme und Romane her. Mir schwante schon im April 2021, dass ich mein Leben irgendwann in den Teil vor und den nach #allesdichtmachen unterteilen würde, und in dieser Hinsicht freue ich mich auf den zweiten Teil und all die Filme und Bücher, die man über diese Zeit machen kann.    Dietrich Brüggemann 

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