Stationen

Montag, 14. Oktober 2024

Salia Würzburg

Der Student Richard Rosenburg.

Er ist ein Ästhet, den die Natur beglückt. Am 29. November 1914 beschreibt der 18-jährige Würzburger Jura- und Philosophiestudent Richard Rosenburg einen Wintermorgen in Russland: „Das Gold der Sonne, das Blau des Himmels, das mit Silberreif überzogene Dunkelgrün des Nadelwaldes und die makellose Weiße des Feldes verschmelzen zu einer seltenschönen Symphonie der Farben.“ 

Er ist ein Menschenfreund, den fremdes Leid anrührt. Am 24. Oktober 1914 erschüttert ihn der Anblick eines völlig zerstörten französischen Dorfes: „An den Ecken einige armselige Frauen, uns mit stumpfen Augen teilnahmslos anstarrend. Dort schleicht ein gebückter Alter mit schleppenden Schritten ins nächste Haus. Noch tiefer scheint sich sein Rücken zu krümmen und mit müder Bewegung fährt er mit der Hand übers Auge.“

Doch eigentlich will er ein erbarmungsloser Krieger sein. „Ich freue mich darauf, fürs Vaterland ein paar Feinde zusammenzuschießen“, notiert er am 18. Oktober. Wer also ist Richard Rosenburg? 

Der 18-Jährige stammt aus Frankfurt; im Sommersemester 1914 hat er in Würzburg das Jura- und Philosophiestudium aufgenommen. Außer Juravorlesungen belegt er solche über Ethik, Philosophie und Literatur. Er wird Mitglied der schlagenden Studentenverbindung Salia; auf dem Paukboden übt er die Auseinandersetzung mit dem Degen, bei Wanderungen und feuchtfröhlichen Kneipen im Sandhof und im Theatercafé wächst er in die Gemeinschaft hinein, auch wenn er aus Überzeugung keinen Alkohol trinkt. 

Die Salia* ist eine jüdische Studentenverbindung und wegen des zunehmenden Antisemitismus in den Reihen der Studenten 1884 entstanden, zunächst als „paritätische“ Verbindung, die auch Christen aufnimmt. Deren Zahl blieb jedoch so gering, dass die Salia, ebenso wie andere paritätische Korporationen Würzburgs, von der Umgebung als jüdisch wahrgenommen wird. 

Der Sommer 1914 ist warm und trocken; Rosenburg genießt die Zeit in der Verbindung. Stolz trägt Richard die blaue Mütze und das blau-weiß-schwarze Band der Salia. Er hört eine Vorlesung über deutsche Philosophie seit Kant; es geht um dessen Maxime: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Für Richard eröffnet sich eine neue Welt, er hört Dinge, die am Gymnasium in Frankfurt nicht gelehrt wurden. 

Das Leben erscheint dem 18-jährigen Erstsemester jedoch leer, selbstzufrieden, ohne großes Ziel und ohne elementare Herausforderung. „Unsere Seele war tot“, schreibt er später, „denn sie hatte nichts, für das sie leben konnte.“ Wissen, Liebe, Karriere – soll das alles ein? 

„Dann kam der Krieg“, fährt er fort, „kam furchtbar wie ein Gewittersturm und fegte hinweg alles was schlecht und klein an uns war. Er machte uns stark und groß, schmiedete uns zu Männern.“ Das will der 18-Jährige sein: ein Mann. Er meldet sich wie viele seiner Verbindungsbrüder als Kriegsfreiwilliger. Die ersten Erfahrungen scheinen seine Hoffnung zu bestätigen. Nach kurzer Ausbildung kommt Rosenburg nach Frankreich. Am 27. Oktober steht er im Dorf Fournes-en-Weppes in den Vogesen zum ersten Mal ganz vorne nahe am Feind. Kugeln pfeifen über ihn hinweg, Erde fliegt ihm auf den Kopf. 

Da fühlt er sich wie ein richtiger Mann. „Seltsam, man hat so gar kein Angstgefühl“, notiert er in seinem Tagebuch. „Im Gegenteil, übermütige Lustigkeit quillt in mir.“ Drei Wochen später hebt Rosenburg im benachbarten Fromelles einen Graben aus, von hinten werden Kaffee und Essen herangeschafft. „Eben möchte ich fast mit keinem König tauschen“, schreibt der 18-Jährige, „und die Strapazen bekommen mir sehr gut. Schon weil ich das Bewusstsein habe, dass Opfer erforderlich sind und ich sie gerne bringe.“ 

Als Rosenburg diese Gedanken zu Papier bringt, hoffen die Deutschen noch auf einen schnellen Sieg; dass sie von den Feinden in einen ehrenhaften und unausweichlichen Kampf gezwungen wurden, ist allgemeine Einschätzung. Vaterland, Kaiser, Ehre – das sind Ideen, die einem Leben Größe verleihen können. 

An seine Verbindung schreibt Richard einen Feldpostbrief, in dem er schon ganz der abgebrühte Soldat ist, der er werden will. „Unsere Rasttage werden durch Granatfeuer versüßt“, steht da. „Solange mich keines trifft, interessieren mich die Geschosse wenig“. 

Dennoch Ist Rosenburg ehrlich zu sich selbst, seine Kriegsbegeisterung ist nicht unbedingt. Am Abend des 7. November sitzt er völlig ausgehungert im Graben bei Fromelles und plötzlich sinkt die „Begeisterung für König, Freiheit, Vaterland arg auf den Nullpunkt“. Denn in diesem Moment ist ihm „alles wurscht und alles zu viel“. So steht es im Tagebuch; nach Würzburg würde er einen solchen Satz jedoch nie schreiben.

Einen kurzen Moment lang wird der 18-Jährige wieder zum Pennäler, der mit den drei Brüdern und der verwitweten Mutter das Leben genießt, als er sehnsüchtig an ein Sonntagsfrühstück im Elternhaus zurückdenkt: „Die Sonne zeichnet auf dem weißen Fensterkreuz und der rot gesprenkelten Tischdecke helle Kringel. Ich, frisch geduscht, in frischer Wäsche und tadellos angezogen, schlürfe den heißen dunkelbraunen Kakao, das angebräunt knusprige Mohnbrötchen mit der steinharten Butter und braunem würzigem Pflaumenmus streichend. Vor mir die Sportzeitung.“

Kaum hat er diese Gedanken zu Papier gebracht, reißt er sich zusammen. Jetzt ist er Soldat, Träume von knusprigen Mohnbrötchen sind sinnlos. „Höchstens ein Sturm würde mir noch Spaß machen“, steht in seinem Tagebuch. „Der kommt einem hier wie die Erfüllung, wie das Ende der Leiden, wie ein krönender Abschluss vor.“ 

Kurz zuvor hatte er geschrieben: „Jetzt bist du Feldsoldat, jetzt kannst du zeigen, wer du bist.“ 

Der 18-Jährige sehnt die Feuerprobe herbei, das erste Feuergefecht. Er will endlich aus dem Graben heraus, mit den Kameraden die feindlichen Linien stürmen, Mann gegen Mann kämpfen. 

Im Mittelalter hat die Feuerprobe zu den Gottesurteilen gehört. Ein Angeklagter musste beispielsweise über rotglühende Pflugscharen gehen; blieb er durch göttliche Hilfe unverletzt oder heilten seine Wunden binnen kurzer Zeit, galt er als unschuldig. 

Auch im Krieg soll die Feuerprobe verdeckte Wahrheiten ans Licht bringen. Wer bist du wirklich? Ein Feigling oder ein Mann?

Rosenburg ist jedoch ein viel zu reflektierter Mensch, um den Tod, selbst den „Heldentod“ fürs Vaterland, vorbehaltlos herbeizusehnen. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich falle“, hat er am 15. Oktober nach einem nächtlichen Patrouillengang geschrieben. Da ist „noch so viel in mir Erhaltenswertes – und das alles ausgelöscht. So viel tausend Einzelvorgänge zu meiner Entwicklung, wie bestimmt von höherer Hand, und alle umsonst – absurd.“

Am 30. November, einem Montag, sind dann alle Vorbehalte wie weggeblasen. Inzwischen ist er mit seiner Einheit an die russische Front verlegt worden. Der Divisionspfarrer hat gepredigt, die Sonne scheint. „Wir sind scheinbar schon sehr nah an der Front“, notiert Rosenburg. „Schützengraberei gibt’s hoffentlich keine, sondern ‚frischfröhliche’ Feldschlacht.“ 

Am nächsten Tag beschreibt der 18-Jährige in allen Einzelheiten seinen ersten Sturm. Es ist eiskalt, die Gegner liegen im Wald gegenüber. „Die Büchsen knallen, die Maschinengewehre rattern, ein Höllenrachen speit seine verderblichen Geschosse aus. Wir liegen ohne Deckung auf dem Bauch.“ 

Endlich der Befehl: Vor! „Obwohl schon das Stöhnen der Verwundeten ertönt, ist man in dem Geknalle so froh, so ruhig.“ Richard Rosenburg stürmt mit seinem Regiment vor: „Weiter! Immer weiter! Ein Vergnügen so mit aufgepflanztem Seitengewehr den Kerlen an den Leib zu rücken.“ 

Als es vorbei ist, ist er erschöpft und glücklich: Wenn jeder vom selben Geist wie er beseelt wäre, „kann das Vaterland zufrieden sein.“ Er hat die Feuerprobe bestanden.

Richard Rosenburg, der Ästhet, Menschenfreund und Krieger, fällt bei seinem zweiten Sturmangriff am 4. Dezember 1914 in der Nähe von Lodz, 18 Jahre alt. 

Sein Tagebuch wird geborgen; die Salia veröffentlicht es 1917 zu seinem dritten Todestag in ihren „Kriegsberichten“, die monatlich an alle Bundesbrüder geschickt werden. 

Die Kriegsberichte, die heute gebunden im Würzburger Institut für Hochschulkunde liegen, enthalten Briefe von der Front und sollten den Kontakt unter den Mitgliedern, die oft Tausende Kilometer voneinander entfernt kämpften, aufrecht erhalten.

Richard Rosenburg ist einer von 12.000 deutschen Juden, die im Ersten Weltkrieg fallen. Von den 398 jüdischen Kriegsteilnehmern aus Würzburg fielen 32. Weitere acht starben später an ihren Verletzungen. Das hindert freilich die Antisemiten nicht daran, den Juden „Drückebergerei“ vorzuwerfen.    Roland Flade

*salia = die Dinge, die mit den Saliern zu tun haben (die Salier waren ein ostfränkisches Adelsgeschlecht; weshalb eine jüdische Studentenverbindung sich nach ihnen benennt, kann man nur vermuten)



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