Einig waren sich die Ententemächte allerdings keineswegs in ihren Kriegszielen. Vor allem die Positionen Italiens und der USA drifteten weit auseinander. Insbesondere die Forderung Italiens nach einer Annexion Südtirols war mit dem 14-Punkte-Programm des US-Präsidenten Wilson unvereinbar, zumal dieses das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie die Grenzziehung „nach klar erkennbaren Linien der Nationalität“ vorsah.
Italiens Kriegsziele in bezug auf Tirol waren indes klar: Die Grenze sollte um jeden Preis am Brenner verlaufen. Auch für die Irredentisten, deren Ziel vordergründig die Befreiung der „unerlösten“ italienischen Gebiete (terra irredenta) gewesen war, spielte es keine Rolle mehr, daß es damals in Südtirol nur 3,3 Prozent Italiener gab. Zu den gefährlichsten Aufwieglern gehörte Ettore Tolomei, der mit pseudowissenschaftlichen Arbeiten eine angebliche „Italianità“ des „Alto Adige“ zu untermauern versuchte und dafür flächendeckend sogar für jeden kleinsten Weiler, jeden Bach und jede Alm einen italienischen Namen erfand. Sein 132 Punkte umfassendes Italianisierungsprogramm für Südtirol sollte nach der Machtergreifung der Faschisten tatsächlich realisiert werden.
Allerdings gab es auch Irredentisten, die von einer Annexion Südtirols abrieten – unter ihnen der Trentiner Geograph und Landtagsabgeordnete Cesare Battisti, der sich vehement für die Staatsgrenze in Salurn, also entlang der Sprachgrenze einsetzte. Battisti wurde 1916 von Österreich wegen Hochverrats verurteilt und erschossen.
Als Italien also am 23. Mai 1915 seinen bisherigen Bündnispartnern den Krieg erklärte und die Südgrenze Österreichs angriff, bedeutete das für Tirol eine Katastrophe – standen doch zu diesem Zeitpunkt alle regulären Tiroler Soldaten in Osteuropa an der Front. Nun galt es für die Tiroler Standschützen, sofort zu reagieren.
Mit Hilfe des Deutschen Alpenkorps und später auch der österreichischen Truppen gelang es ihnen, unter widrigsten klimatischen Bedingungen im Hochgebirge die Dolomitenfront gegen den italienischen Aggressor zu halten. Allerdings zählte dies nach Kriegsende nichts mehr in Anbetracht dessen, daß Österreich-Ungarn und Deutschland den Krieg verloren hatten.
Am 3. November 1918 wurde in der Villa Giusti bei Padua die Kapitulationsurkunde unterzeichnet – mit dem Vermerk, daß diese erst nach 24 Stunden Waffenstillstand gelten sollte. Durch einen fatalen Kommunikationsfehler der Österreicher gelang es den Italienern tatsächlich, noch am letzten Tag über 350.000 Gefangene zu nehmen.
Um bereits vor dem Einmarsch der italienischen Truppen eine möglichst günstige Situation für den Verbleib Südtirols bei Österreich bzw. für die Einheit Tirols zu schaffen, wurde in Bozen sofort der „Provisorische Nationalrat für Deutsch-Südtirol“ gegründet. Dieser gab ein Amtsblatt heraus, es gelang die Angelobung der Beamten auf den „Freien Staat Deutsch-Südtirol“, und man dachte sogar daran, eigene Briefmarken und Geldscheine drucken zu lassen.
Der Einmarsch der Italiener folgte aber prompt: Zwischen dem 7. und 11. November besetzten 100.000 Mann das Trentino und ganz Südtirol und drangen in der Folge sogar bis Innsbruck vor. Ein Widerstand dagegen war unmöglich: Fast die gesamten noch lebenden Tiroler Soldaten befanden sich in italienischer Gefangenschaft, und die restliche Bevölkerung war geschwächt vom langen Krieg.
Die italienische Militärregierung demonstrierte auch schon gleich, wer die neuen Herren im Lande waren. Die Grenze zu Nord- und Osttirol wurde hermetisch abgeriegelt, so daß die Bauern am Brenner und in Winnebach nicht einmal mehr ihre Felder auf der anderen Seite bestellen konnten, alle telegrafischen Geräte wurden beschlagnahmt, Briefe von oder nach Österreich, Deutschland, Ungarn, Bulgarien und in die Türkei wurden nicht mehr transportiert und ein Großteil der österreichischen Verwaltungsbeamten wurde entlassen. Außerdem leitete das „Comando Supremo“ sofort die Einführung der italienischen Lira als alleiniges Zahlungsmittel sowie die Ansiedlung italienischer Gewerbetreibender in die Wege.
Auch wenn der „Provisorische Nationalrat für Deutsch-Südtirol“ kompetent besetzte Informationsbüros in Innsbruck und in Bern einrichtete, um der Weltöffentlichkeit und vor allem den Siegermächten auf deutsch, englisch und französisch fundiertes politisches Hintergrundwissen über Tirol zukommen zu lassen, und die Wiener Zentralregierung sogar einen Anschluß an Deutschland als Alternative für die junge Republik Deutschösterreich erwog, um die Einheit Tirols zu retten – Südtirol stand letztlich auf verlorenem Posten.
Zur Friedenskonferenz von St. Germain waren 32 Staaten eingeladen, nicht aber die Besiegten. Erst anläßlich der Übergabe der Friedensbedingungen an die österreichische Delegation am 2. Juni 1919 fand der österreichische Staatskanzler Karl Renner die Gelegenheit, den Standpunkt Deutschösterreichs vor der Friedenskonferenz darzulegen. Das Schicksal Südtirols stand bereits fest.
In der letzten Sitzung der deutsch-österreichischen Nationalversammlung mit den Südtiroler Abgeordneten hielt Eduard Reut-Nicolussi eine bewegende Abschiedsrede, in der er den späteren Leidensweg Südtirols voraussagte: „Es wird jetzt in Südtirol ein Verzweiflungskampf beginnen um jeden Bauernhof und um jedes Stadthaus, um jeden Wald und um jeden Weinberg, es wird ein Kampf sein mit allen Waffen des Geistes und mit allen Mitteln der Politik, ein Verzweiflungskampf deshalb, weil wir eine Viertelmillion Deutsche sind gegen 40 Millionen Italiener, wahrhaft ein ungleicher Kampf!“ Und er sollte damit recht behalten.
Der am 10. September 1919 unterzeichnete Vertrag von Saint Germain trat am 16. Juli 1920 in Kraft. Damit war die Auflösung Österreich-Ungarns und die Annexion Südtirols durch Italien besiegelt. Bereits zwei Jahre später wurde aus dem Königreich Italien eine faschistische Diktatur, die die Deutschen und Ladiner in Südtirol fast um ihre Existenz bringen sollte. Margareth Lun
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