Stationen

Freitag, 2. Oktober 2020

Es wird leider immer spannender

Um das Nord Stream 2 Projekt zu retten, hat die Bundesregierung laut der Wochenzeitung Die Zeit ein Milliarden-Angebot an die US-Regierung gerichtet. Wirtschaftsminister Olaf Scholz (SPD) soll dem US-Finanzminister Steven Mnuchin mündlich und schriftlich vorgeschlagen haben, den Bau von zwei Spezialhäfen in Wilhelmshaven und Brunsbüttel zum Import von Flüssiggas zu finanzieren. Im Gegenzug sollen sich die USA verpflichten, von jeglichen Sanktionen abzusehen.

Mit ein wenig Sarkasmus ließe sich der Scholz-Vorschlag so kommentieren: Deutschland erklärt sich bereit, das moralisch saubere, allerdings teure Fracking-Gas aus Amerika zu kaufen, damit der große Bruder aus Übersee ihm erlaubt, das moralisch kontaminierte, dafür preiswerte Gas aus Rußland einzuführen. Im gewöhnlichen Leben würde man das eine erpreßte Schutzgeld-Offerte nennen, doch wie der SPD-Außenpolitiker Egon Bahr sagte: „Die USA handeln verstörend, aber Antiamerikanismus ist dumm.“

Das Völker- und das internationale Handelsrecht hin oder her – die Amerikaner tun es, weil sie die Macht dazu haben. Der Vorschlag der Bundesregierung entspricht den Kräfteverhältnissen und ist außerdem auf den amtierenden US-Präsidenten zugeschnitten, der Politik als Abfolge von „Deals“, als Geschäft, versteht.

Über amerikanische Reaktionen wurde bisher nichts bekannt, aber am 20. August entstand mit dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny eine neue Sachlage. Die Koinzidenz mit Scholzens Vorstoß ist auffällig, doch beweist sie überhaupt nichts.

Klar ist hingegen, wer Nutzen aus dem Verbrechen zieht: Die transatlantischen Gegner von Nord Stream 2 haben seitdem propagandistisches Oberwasser bekommen und erklären die Beendigung des deutsch-russischen Projekts zur moralischen Ehrenpflicht. Um die Schuldfrage zu beantworten, brauchen sie keine Beweise. Dahinter könne nur Putin, der Superschurke, stecken. Dem russischen Präsidenten kann man vieles nachsagen, aber gewiß nicht, daß er dumm ist. Und eine Dummheit ohnegleichen wäre es, wegen eines letztlich marginalen innenpolitischen Gegners ein wirtschaftlich, politisch und geostrategisch wichtiges Projekt zu gefährden. Es darf also weiter spekuliert werden.

Zunächst noch einmal zu den USA. Natürlich hat die amerikanische Blockade keine moralischen und nicht einmal primär wirtschaftliche Gründe. Erst recht handelt es sich um keinen erratischen Entschluß Donald Trumps, sondern um eine grundsätzliche Entscheidung, die sich aus dem langfristigen geopolitischen Konzept der bestimmenden Weltmacht ergibt.

Ausgangspunkt ist die sogenannte „Herzland“-Theorie, die 1904 von dem britischen Geographen Halford Mackinder formuliert wurde. Galt bis dahin die Beherrschung der Seewege als entscheidend für die Stellung eines Reiches im internationalen Machtgefüge, vollzog Mackinder einen Schwenk von der See- zur Kontinentalperspektive und richtete den Blick auf das Herzland, das – für die Seemächte uneinnehmbar – den europäischen Teil Rußlands und Westsibirien umfaßt und im Süden bis ans Kaspische und Schwarze Meer reicht. Mackinder sah es von einem „inneren Halbmond“ umgeben, dessen westliche Spitze von Europa gebildet wird und der sich von dort über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Indien und China erstreckt.

Eine ernste Bedrohung für die britische Seemacht könne sich aus der Verbindung des russischen Herzlandes mit dem wissenschaftlich, technisch und organisatorisch hochbefähigten Deutschland ergeben. Dieses Bündnis sei in der Lage, sich die Herrschaft über die eurasische Landmasse zu sichern, die zusammen mit Afrika die „Weltinsel“ bilde. Mackinder folgerte: „Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel; wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“

Dieses Modell erfuhr durch den amerikanischen Geopolitiker Nicholas Spykman eine bedeutsame Modifikation. Spykman sah die entscheidenden Machtpotenzen statt im Herzland in dessen Randregionen, dem „Rimland“ konzentriert, das ungefähr dem inneren Halbmond entsprach. „Wer das Rimland kontrolliert, beherrscht Eurasien, wer Eurasien kontrolliert, kontrolliert die Geschicke der Welt.“ Sollte es einer Macht oder Mächtekoalition gelingen, das Rimland unter seine ihre Kontrolle zu bringen, gerieten auch die USA in ihre Abhängigkeit.

Weil die USA dem Deutschen Reich und Japan eben das zutrauten, war es für sie so wichtig, die beiden Mächte im Zweiten Weltkrieg zu zerschlagen. Um fremde Dominanz zu verhindern, mußten sie selber zur dominanten Weltmacht werden und das Rimland beherrschen. Dazu gingen sie sogar ein Bündnis mit dem Herzland, mit Rußland, ein.

Der geopolitische Theoretiker Karl Haushofer sah im Herbst 1944 voraus, daß die USA nach dem Krieg sich einen mehr oder weniger breiten Landstreifen an der europäischen West- und Südküste aneignen würden „nach dem uralten Streben jeder Seemacht, die Gegenküste in die Hand zu bekommen und das dazwischen liegende Meer vollständig zu beherrschen“. Genauso sollte es kommen, zumal das vom Krieg ausgezehrte, mit dem Zerfall seines Empires beschäftigte und zum Juniorpartner herabgesunkene Großbritannien außerstande war, eine Stellvertreterfunktion auszufüllen.

Die Sowjetunion verfolgte eine Mackinder-Politik. Sie konsolidierte das Herzland wirtschaftlich und militärisch und verleibte sich sukzessive große Stücke des sie umgebenden Rimland-Halbmondes ein, ehe sie unter der Ineffizienz ihrer Ökonomie den systemischen Zusammenbrach erlebte. Die USA setzten ihr eine Spykman-Politik entgegen und versuchten, das sowjetische Herzland vom Rimland her einzudämmen. Das Nato-Bündnis war ein zentrales Instrument dieser Strategie.

Der Ost-West-Konflikt von 1945 bis 1989 war weitgehend ein geopolitischer, der durch den ideologischen Gegensatz nur seine konkrete Form und unversöhnliche Schärfe erhielt. Deshalb erstaunt es nicht, daß die USA nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ihre Eindämmungspolitik ungerührt fortsetzten und sich weiter um die Einkreisung Rußlands bemühten. Ein Vordenker dieser Politik, der Globalstratege Zbigniew Brzeziński, hat es in dem Buch „The Grand Chessboard“ („Die einzige Weltmacht“, 1997) offen formuliert. „Der Wegfall der Ukraine“, heißt es da, wirke als „geopolitischer Katalysator“. Ohne sie sei Rußland außerstande, ein eigenständiges eurasisches Reich aufzubauen. Schließlich bliebe ihm nichts anderes übrig, als sich der US-dominierten westlichen Gemeinschaft unterzuordnen. Seine äußeren und inneren Verhältnisse müßte es dann nach westlichen Vorgaben regeln. Geostrategisch bekämen die Amerikaner ein weiteres Stück der eurasischen Landmasse unter ihre Kontrolle.

Aus russischer Sicht hat Wladimir Putin durchaus recht, wenn er den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Die Besetzung der Krim war russischerseits eine geopolitische Notbremsung, um der Umwandlung der Halbinsel in einen Nato-Stützpunkt zuvorzukommen, von dem aus die USA den Zugang Rußlands zum Schwarzen Meer kontrollieren konnten.

Europa stellt für die USA ein abhängiges Rimland dar. Es dient, so Brzezinski, als „eurasischer Brückenkopf für amerikanische Macht und als mögliches Sprungbrett für eine Ausdehnung in den eurasischen Kontinent hinein“. Im Blickpunkt steht vor allem Deutschland, die wichtigste europäische Macht. So wie früher England wollen auch die USA verhindern, daß die natürlichen Ressourcen Rußlands sich mit den ökonomischen und technischen Fähigkeiten Deutschlands vereinen. Schärfer als die geopolitisch unterbelichteten Deutschen sehen sie, daß das deutsch-russische Gasprojekt perspektivisch das Potential hat, zum Nukleus eines eurasischen Energie- und Wirtschaftsraums zu werden, der sich von den USA emanzipiert.

Außerdem würde die Ukraine als amerikanischer Aktivposten durch den Wegfall der Transitgebühr für die Gaspipeline nach Westeuropa, die ihr Territorium durchquert, geschwächt. Deshalb ist der Widerstand der USA gegen Nord Stream 2 ein grundsätzlicher. Es gab ihn schon lange vor Trump; unter einem Präsidenten Biden würde er nicht geringer. Ein gemeinsamer Raum, der das Herz- und das europäische Rimland einschließt, ist für die USA ein geopolitischer Alptraum, egal unter welchem politischen Regime und ob von Brüssel, Berlin oder Moskau dominiert.

Auch die Reaktionen der mittelosteuropäischen Länder sind eindeutig. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte in einem Beitrag in der FAZ, die Europäer sollten „die Lage in Belarus und den Anschlag auf Alexej Nawalnyj als – vielleicht das letzte – Memento betrachten“ und „das Projekt Nord Stream 2 zu den Akten zu legen“. Das sei der „einzige rationale Ausweg“. Als Begründung gibt er an, „daß Rußland unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Zusammenarbeit Einfluß auf das Verhalten eines der wirtschaftlich und politisch wichtigsten Partner in EU und Nato bekommt: auf Deutschland“.

Ins gleiche Horn blies der ehemalige Botschafter Polens in Berlin, Janusz Reiter, in einem Gastbeitrag im Berliner Tagesspiegel. Er räumt ein, daß ein Scheitern von Nord Stream 2 „zweifellos Verstimmungen in den Beziehungen mit Moskau auslösen, gleichzeitig aber Deutschland und seine Partner unter Druck setzen (würde), eine gemeinsame Rußland- und Osteuropastrategie zu entwickeln und der europäischen Energiepolitik auf die Sprünge zu helfen“.

Deutschland wird nicht nur zugemutet, seine Milliarden-Investionen abzuschreiben, seine Vertragstreue aufs Spiel zu setzen und einen politischen Gesichtsverlust zu erleiden, es soll überhaupt keine eigenständige Rußland-Politik mehr betreiben und sie unter die Kuratel einer EU-Politik stellen, die eine dauerhaft verfeindete Nachbarschaft mit Rußland voraussetzt und die geopolitischen Interessen der USA bedient.

Es wäre dennoch verkehrt, die Einwände einfach als fremdgesteuert, vergangenheitsfixiert oder gar deutschfeindlich zu klassifizieren. Vielmehr muß die Bundesregierung sich fragen, warum die Polen und anderen Osteuropäer das Gefühl haben, Deutschland würde ihre Interessen und Befindlichkeiten ignorieren und warum sie sich Europa nur als US-Protektorat vorstellen können, und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Es gäbe ja die alternative Möglichkeit, das Pipeline-Projekt als Baustein einer künftigen Interessenkongruenz mit Rußland und damit als Element der Stabilität zu betrachten, die ganz Europa zugute kommt und seine Position im globalen Maßstab stärkt.

Hier liegt ein klares politisches Versagen auf deutscher Seite vor. Die deutsche Führung hat die geopolitischen Implikationen und Auswirkungen des Projekts nicht vorausgesehen und einkalkuliert. Merkels Amtsvorgänger Gerhard Schröder, der das Projekt forciert hatte, sprach 2002 von einem „deutschen Weg“, den er verfolge, einer „Politik des Selbstbewußtseins ohne Überheblichkeit, der Partnerschaft nach innen und nach außen“. Vor dem Hintergrund des von der US-Administration vorbereiteten und von Deutschland strikt abgelehnten Irak-Kriegs konnte das nur heißen, daß er ein wenig aus dem Schatten der US-Dominanz herauszutreten wollte. So lag es in der politischen Logik, daß er im Schulterschluß mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac sich betont Rußland-freundlich zeigte.

Schröder hatte einen ausgeprägten politischen Instinkt, doch leider neigte er zum breitbeinigen Auftritt. Es fehlte ihm an Stil, historischer Bildung, diplomatischem Takt, also an Eigenschaften, die auf internationalem Parkett notwendig, für den sozialen Aufstieg im Politikbetrieb jedoch hinderlich sind. Vor allem hatte er für die kleinen und mittleren Nachbarstaaten im Osten wenig Interesse und außer Betracht gelassen, daß die demonstrative Nähe zu Moskau in Budapest, Prag und Warschau Besorgnis auslöste und dort die Position der USA als unverzichtbare Schutzmacht befestigte.

Diese Fehlleistungen fällt der Bundesrepublik bei Nordstream 2 auf die Füße. Gerade weil die Gasleitung eine offene Herausforderung für den geopolitischen Anspruch der USA darstellt, hätte Berlin um Verbündete werben und ihnen die Pipeline als ein Projekt schmackhaft machen müssen, aus dem sie gleichfalls Nutzen ziehen. Polen fürchtet jetzt, daß die Russen ihnen das Gas abstellen könnten, während Deutschland separat über die Ostsee-Pipeline beliefert wird. So haben die USA Gelegenheit, sich als die wahren Interessenvertreter der osteuropäischen Staaten zu gerieren.

Schröders Nachfolgerin versucht, Nord Stream 2 als eine rein wirtschaftliche Angelegenheit zu behandeln – was natürlich Unsinn ist und niemand glaubt. Damit nicht genug, betreibt sie gegenüber den Osteuropäern einen „moralischen Imperialismus“ (Viktor Orbán ) und droht ihnen mit dem Entzug von EU-Geldern, weil sie sich einer islamischen Einwanderung und dem Import französischer, schwedischer oder westdeutscher Zustände widersetzen. Das treibt diese Länder erst recht an die Seite der USA und verhindert, daß die EU nach außen als eine relative politische Einheit auftreten kann.

Der Mangel an außenpolitischer Strategie und Taktik hängt wesentlich zusammen mit dem Nicht-Verhältnis zur Geopolitik, die nach wie vor als Nazi-kontaminiert identifiziert wird. Zudem hatte die Bundesrepublik bis 1989 gar keine Möglichkeit, geopolitische Handlungsmuster zu entwickeln und zu erproben. Die zwei deutschen Staaten bildeten das jeweilige Glacis der verfeindeten Blöcke beziehungsweise des US-dominierten Rim- und des sowjetimperialen Herzlandes. Im Schatten der atomaren Vernichtungsdrohung blieb die Bundesrepublik mehr oder weniger auf das Management der deutschen Teilung und auf Versuche beschränkt, die Ost-West-Spannungen abzumildern.

Als in den achtziger Jahren einzelne Stimmen – bezeichnenderweise von Historikern – in der Voraussicht, daß der Eiserne Vorhang nicht ewig bestehen bleiben würde, eine Debatte über die deutsche Mittellage und die „Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte“ (Andreas Hillgruber) anregten, warnte Jürgen Habermas, der unzuständige Allzuständige, eindringlich vor dem „geopolitischem Tamtam“ von „Revisionisten“. Mehr als 30 Jahre später ist die in Deutschland nicht viel weiter.

Bisher ist die Bundesregierung erstaunlich standfest geblieben. Man kann nur mutmaßen, was schwerer wiegt: Die Furcht vor dem politischen Prestigeverlust oder vor milliardenschweren Regreßforderungen. Große Teile der Medien jedoch, an der Spitze die FAZ und die Springer-Presse, verlangen, als Reaktion auf den Nawalny-Anschlag Nord Stream 2 auf Eis zu legen. Die Bild-Zeitung nennt Nord Stream 2 gar die „Putin-Pipeline“. Das verwundert nicht, denn wie Uwe Krüger im Buch „Meinungsmacht“ nachgewiesen hat, sind die führenden Redakteure deutscher Leitmedien in transatlantische Netzwerke involviert.

Die gleichlautenden Forderungen transatlantischer Fanboys wie Norbert Röttgen und Koryphäen wie Claudia Roth – die unter Außenpolitik eine Spielwiese versteht, auf der man „Zeichen setzt“ – waren ebenfalls zu erwarten. Röttgen widersprach den ostdeutschen Ministerpräsidenten, die am Nord Stream 2 Projekt festhalten. Dies sei „ein Zeichen“ dafür, daß sich die “Wertehaltung in Ost und West” auseinander entwickele. Ach, ja, die Werte. Noch einmal sei Egon Bahr zitiert, der Schülern erklärte, was die Claudia Roths nie kapieren werden und was die Röttgens wissentlich unterschlagen: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Auch im Konflikt um Nord Stream 2 geht es um keine Entscheidung zwischen Freiheits- oder Diktatur-Gas. Er ist der Indikator für die viel größere Frage, ob Europa potentiell noch über die politische, physische und geistig-kulturelle Kraft verfügt, um eine Antwort auf den Globalismus zu formulieren, der zerstörerisch über Staaten, Völker und Kulturen hinwegschreitet. Das erfordert, aus den geopolitischen Gegebenheiten das Beste zu machen. Naheliegend wäre ein europäischer Großraum, der nach Osten in die eurasische Landmasse hineinstrahlt und aus ihr zusätzliches Potential bezieht. Das kann nur in Kooperation mit und nicht gegen Rußland geschehen.   Hinz

 

 

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