Stationen

Montag, 5. Oktober 2020

Mödlareuth

"C'est la profonde ignorance qui inspire le ton dogmatique." (Es ist die tiefe Unwissenheit, die den dogmatischen Ton inspiriert.)
Jean de La Bruyère über Steinmeier e tutti quanti

 

 

Der Bundespräsident hat eine Rede gehalten. In Potsdam, zum 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit. Er hat dieser Einheit keinen Dienst erwiesen. Denn Frank-Walter Steinmeier spaltet. Er spaltet durch die Einseitigkeit und Ungerechtigkeit seiner Betrachtungsweisen.

In deren Zentrum steht das präsidiale Geschichtsbild, das nur zwei Farben kennt: Schwarz und Weiß. Weiß ist für Steinmeier alles, was unter friedlich, fortschrittlich, egalitär, feministisch, bunt, antifaschistisch und international fällt. Schwarz alles andere. So etwa das Kaiserreich, dessen 150. Gründungstag bevorsteht.
Darüber heißt es bei Steinmeier: „Die nationale Einheit 1871 wurde erzwungen, mit Eisen und Blut, nach Kriegen mit unseren Nachbarn, gestützt auf preußische Dominanz, auf Militarismus und Nationalismus.“
Eine Belastung, die nicht ohne Folgen bleiben konnte: „Mit eiserner Hand wurde im Kaiserreich auch nach innen durchregiert. Katholiken, Sozialisten, Juden galten als ‘Reichsfeinde’, wurden verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt; Frauen von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen.“ Und: „Es war ein kurzer Weg von der Gründung des Kaiserreiches bis zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges.“
Steinmeier in der Rolle des Schulmeisters

Die hier zur Geltung kommende Sicht ist nur noch um Nuancen vom DDR-Ansatz getrennt, der die Bedeutung des Jahres 1871 auf eine „großpreußisch-militaristische Reichsgründung“ reduzierte und stets die Assoziation nahelegte, es habe sich beim Bismarckstaat um einen Protofaschismus gehandelt, der ohne Umweg zu Vernichtungskrieg und Massenmord unter Adolf Hitler führte.
Eine derartige Sicht des Kaiserreiches ist aber nicht nur sachlich falsch. Sie beruht auch auf jener Art „Mythen“, vor denen Steinmeier an anderer Stelle warnte, weil sie Tatsachen bewußt verzeichnen, um Menschen manipulieren zu können.
Trotzdem wird Steinmeier kaum mit Kritik rechnen müssen. Denn das Gesagte entspricht nicht nur dem, was uns der Politisch-Mediale Komplex als Konsens andient. Es bringt auch eine Auffassung vom Amt des Bundespräsidenten zur Geltung, die in den vergangenen Jahrzehnten durchgesetzt wurde.

War das Verständnis ursprünglich davon bestimmt, daß der Bundespräsident als Staatsoberhaupt erkennbar über den Parteien zu stehen habe und in seiner Person das größere Ganze repräsentiere, hat sich die Vorstellung Stück für Stück dahin verschoben, daß er eine Art praeceptor Germaniae sei, ein Schulmeister, der die Deutschen darüber belehrt, was richtig und was falsch ist.
Von einem derartigen Selbstverständnis waren die ersten Bundespräsidenten noch weit entfernt. Auf Grund der bitteren Erfahrungen mit den Konflikten in der Weimarer Republik suchten sie stets ausgleichend zu wirken.
Mit dem Amtsantritt Gustav Heinemanns änderte sich das. Als Heinemann aus Anlaß des 100. Jahrestages der Reichsgründung eine Ansprache hielt, die alle Sender – Rundfunk wie Fernsehen – am 17. Januar 1971 ausstrahlten, war der Neuansatz schon festzustellen. Für vieles, was Steinmeier heute sagt, hat Heinemann damals Stichworte geliefert.
Aber Heinemann mußte – anders als Steinmeier – noch eine gewisse Vorsicht walten lassen. Denn eine Opposition, die den Namen verdiente, war bereit, entschieden und im Zweifel lautstark Widerspruch zu erheben. So erklärte ein Bundestagsabgeordneter der Union: „Ich meine, Nation ist ein Inbegriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewußtsein und Wille, von Staat und Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen und Bewußtsein hat diesen unseren Nationsbegriff das Jahr 1871 geprägt. … Leider aber haben wir im Jubiläumsjahr der Reichsgründung … von hoher und besonders hoher Stelle andere, zumeist kritische Äußerungen zu dieser Nation gehört.“
Die Sätze stammen aus einer Rede Richard von Weizsäckers. Einige Jahre später wurde er selbst Bundespräsident und bekehrte sich zu schlechteren Einsichten. Was nicht allein mit Zeitumständen und persönlicher Schwäche zu erklären ist. Es handelte sich auch um eine Reaktion auf die verschobenen Machtverhältnisse im westdeutschen Überbau.
Obwohl sie es anders und besser wußten, räumten die Bürgerlichen ihre Positionen und unterwarfen sich dem, was man wahlweise als „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) oder als „Umgründung“ (Manfred Görtemaker) der Bundesrepublik bezeichnet hat. Im einen wie im anderen Fall ging es um einen geräuschlosen Systemwechsel. Ganz an sein Ende gekommen ist er bis heute nicht. Aber der jüngsten Rede des Staatsoberhaupts ist zu entnehmen, wie wenig noch fehlt. Weißmann

 

In seiner Rede zum 3. Oktober verkündete Steinmeier den schon länger hier Gehorchenden: "Wie grundsätzlich verschieden war 1871 von 1990. Mit eiserner Hand wurde im Kaiserreich auch nach innen durchregiert. Katholiken, Sozialisten, Juden galten als ‚Reichsfeinde‘, wurden verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt; Frauen von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen."

Der Bundespräsident erklärt: Juden galten im Kaiserreich als Reichsfeinde, wurden verfolgt, ausgegrenzt und eingesperrt.

Und kurz darauf heißt es: "Die Wiedervereinigung von 1990 wurde gerade nicht begleitet von Säbelrasseln und Eroberungskriegen."

1871 führte Preußen also einen Eroberungskrieg gegen Frankreich, heimtückischerweise trotz französischer Kriegserklärung.

Ist dieser Mann noch bei Sinnen?

Für dergleichen Aussagen kursieren hierzulande derzeit folgende und zum Teil auch von unserem in stündlich zunehmender Apokolokyntosis ergrauten Nationalstaatsbestattungsredner verwendete Begriffe: Fake news, Fake history, Geschichtsklitterung, Geschichtsrevisionismus. Weder galten Juden im Kaiserreich als "Reichsfeinde", noch wurden sie staatlich verfolgt oder gar wegen ihres Judeseins eingesperrt.

Vielmehr erhob die Reichsverfassung von 1871 alle deutschen Juden zu gleichberechtigten Staatsbürgern. Juden gründeten Unternehmen, stiegen auf im Bankwesen und an den Universitäten, strömten in die freien Berufe. Gerson von Bleichröder war "der Bankier Bismarcks", der Reeder Albert Ballin gehörte zu den engsten Vertrauten Kaiser Wilhelms II. Die Gemeinden blühten, zahlreiche neue Synagogen wurden gebaut – womöglich nicht ganz so viele wie inzwischen Moscheen in der Bundesrepublik, aber Moschee und Synagoge, das ist ja im Grunde das gleiche, gerade für Juden. Es folgen ein paar Beispiele (nehmen Sie die Menge bitte als eine Art Antiklimax zu Steinmeiers bizarren Behauptungen):


Eppingen (eröffnet 1873)

Eppingen Synagoge


Heilbronn (1877)

Heilbronn Synagoge 1877


Laupheim (1877)

Synagoge Laupheim 1877


Heidelberg (1878)

Heidelberg Synagoge 1878


Göppingen (1881)

Goeppingen Synagoge 1881


Bruchsal (1881)

Bruchsal Synagoge



Konstanz (1883)

Synagoge Konstanz 1883


Ettlingen (1889)

Ettlingen 1889


Pforzheim (1892)

Pforzheim Alte Synagoge 1892


Baden-Baden (1899)

Synagoge Baden Baden


Weinheim (1906)

Weinheim Synagoge 1906


Künzelsau (1907)

Kuenzelsau synagoge 1907


Bamberg (1910)

BambergerSynagoge 1910


Wem aufgefallen ist, dass es sich, von Bamberg abgesehen, um Beispiele aus Baden-Württemberg handelt: In der Tat, ich habe nur ein Bundesland ausgewählt, und dort lediglich die repräsentativeren Bauten; sie mögen als Partes pro toto hinreichen, sonst würde die Liste endlos. Allein in Berlin sind im Kaiserreich sieben neue jüdische Gotteshäuser eröffnet worden (für eines davon steuerte Seine Majestät persönlich die Wandverkleidung bei). Alle diese Synagogen wurden von den Nationalsozialisten zerstört. Und das dürfte auch der perfide Grund sein, warum Steinmeier die Juden mit den Sozialistengesetzen und dem Kulturkampf framet. Der Präsident von Gnaden der Antisemitenimportspediteurin Merkel will den historischen Analphabeten, die er offenbar in großer Zahl unter seinen Zuhörern vermutet, das Kaiserreich als logisches Prius der nationalsozialistischen Judenverfolgung verkaufen.

Die Vermutung, dass Steinmeier bzw. seine Redenschreiber keine besonders gebildeten, wenngleich desto fester in ihrem sozialdemokratischen Glauben ruhende Menschen sind, habe ich in diesem Diarium gelegentlich ausgeführt und mit Beispielen unterfüttert. Aber diesmal hat sich unser Lapis villicus bzw. Lapis stultus (um ein Wort zu lateinisieren, welches Eckhard Henscheid dereinst für einen gemütvoll vergaunerten Linken prägte) in die Sphären der retrospektiven Niedertracht salbadert.






Noch ein Wort zu den anderen Unterstellungen von Merkels präsidialem Bauchredner.


Frauen waren zu Kaisers Zeiten überall auf der Welt "politisch ausgeschlossen", obwohl sie seit 1908 in Deutschland immerhin in Parteien eintreten und dort Ämter ausüben durften. Das aktive Wahlrecht für das schöner konstruierte Geschlecht wurde in Deutschland 1918 eingeführt, wie übrigens auch in England; die frivolen Französinnen hatten bis 1944 Gescheiteres zu tun, dann mussten oder durften auch sie. Der Vorwurf an das Kaiserreich, es habe kein Frauenwahlrecht gestattet, ist ungefähr so sinnvoll wie die Bezichtigung, man habe sich unter Kaiser Wilhelm ausschließlich mit mechanischen Zahnarztbohrern behandeln lassen müssen.


Bei den Sozialistengesetzen handelte es sich um ein ähnliches staatliches Vorgehen gegen die Opposition, wie es die "Altparteien" (Claudia Roth) heute gegenüber der AfD praktizieren, wobei damals die Polizei für jene Exklusionsmaßnahmen zuständig war, die im smarten Gesinnungsstaat von der solide durchalimentierten sogenannten Zivilgesellschaft – sowie, was die härteren Fälle betrifft, von der Antifa – erledigt werden. Weil die Parallelen so entlarvend sind, zitiere ich nochmals den SPD-Politiker und späteren Reichswehrminister Gustav Noske, der in seiner Autobiographie über die Zeit der Sozialistengesetze geschrieben hat:

"Nur ganz wenige Wirte gaben zu Zusammenkünften mit größter Heimlichkeit ihre Lokale her, weil sie polizeiliche Maßregelung zu gewärtigen hatten. Jahrelang sind politische Besprechungen kleinerer Kreise als Landpartien im Wald aufgezogen worden. Kleine Gruppen fanden sich auch als Pfeifenklub, Sparverein und unter anderen Verhüllungen zusammen. Das Spitzelwesen war stark." Dennoch kam es vor, wie Brigitte Seebacher-Brandt in ihrer August-Bebel-Biographie schreibt, dass Anträge, die Bebel als Mitglied der 2. Kammer des sächsischen Landtags stellte, "von der bürgerlichen Kammermehrheit angenommen wurden" (bei AfD-Anträgen ist das ausgeschlossen).

Bismarck hatte zwei Anschläge auf Kaiser Wilhelm I. im Mai und Juni 1878 zum Anlass genommen, die Sozialdemokratie in die Illegalität zu drängen. Damals rückte die regierungsnahe Presse die Attentäter in die Nähe der Sozialdemokraten, was speziell bei einem von beiden, Max Hödel, nicht schwer war, denn er hatte zuvor der SAPD angehört. Nach dem ersten Anschlag war Bismarcks Ausnahmegesetz noch im Reichstag gescheitert, aber nach dem zweiten Attentat, bei dem der Monarch schwer verletzt wurde, trat das Sozialistengesetz in Kraft. Malen wir uns zwei Anschläge auf die Bundeskanzlerin oder auf Herrn Steinmeier aus, die Allah oder an seiner statt die Antifa verhüten möge: Von taz bis FAZ täte die kanzleramtsnahe Presse nichts anderes, als eine Verbindung zur AfD und zu den Rechten herzustellen, und es wäre fraglich, ob im allerbesten Deutschland tatsächlich zwei Anläufe zum Verbot erforderlich wären...

Im "Kulturkampf" mit der katholischen Kirche indes regierte Bismarck tatsächlich mit eiserner Hand. Er ließ im großen Stil Kurienbesitz beschlagnahmen und Hunderte katholische Geistliche hinter Gitter setzen (wobei sie dort noch nicht die vergnügliche Bekanntschaft mit schwarzen Drogendealern und arabischen Messerstechern schließen konnten, was einem Knastaufenthalt ja erst sozialpädagogische Würze verleiht). Die Pointe des Kulturkampfes aus heutiger Sicht besteht darin, dass Steinmeier und Genossen inhaltlich sehr auf Seiten des Eisernen Kanzlers stünden, sowohl bei der Trennung von Staat und Kirche als auch bei der Einführung der "Zivilehe" (seinerzeit einer der Zankäpfel), ohne welche eine "Ehe für alle" nimmermehr hätte vorstellig werden können.


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Der Süddeutsche Beobachter beim Differenzieren "emotional Getriebener":


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Mödlareuth

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