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Sonntag, 18. Oktober 2020

Stand der Dinge

 

Europahymne

Was kann der „Appell für freie Debattenräume“, den der Journalist Milosz Matuschek und der Schriftsteller und Youtuber Gunnar Kaiser am 1. September ins Netz gestellt haben, unter den gegebenen Umständen bewirken? Löst er einen Meinungsumschwung aus? Bedeutet er den Auftakt für die Revolte zorniger Bürger? Oder handelt es sich nur um ein letztes Aufflackern, um einen Schwanengesang auf die Meinungsfreiheit?

Den Verfassern darf man bescheinigen, kein Blatt vor den Mund genommen zu haben. Ihr Text ist schärfer, präziser, tiefgründiger und umfassender als alle vorangegangenen Appelle und Petitionen mit vergleichbarer Intention. „Absagen, löschen, zensieren: seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt. Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert.“

Das betrifft die Presse, die elektronischen Medien, die Universitäten, die Verlage, Bühnen und andere Institutionen. Die Folgen sind gravierend. Mit dem sich abzeichnenden „Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit“ würde „das Fundament der offenen liberalen Gesellschaft“ zerstört. So weit, so richtig. Wo keine Debatten, ja nicht einmal die Benennung von Fakten und Tatsachen mehr möglich sind, geht jeglicher politischer Verstand zugrunde.

„Wenn das Denken korrekt sein soll, dann gibt es kein Denken mehr“, sagte der Dramatiker Heiner Müller und bezeichnete die Politische Korrektheit als „neuen Rinderwahnsinn“. Die Bürger degenerieren zum unzurechnungsfähigen Stimmvieh.

Widerspruch beziehungsweise Korrektur verdient jedoch die Forderung nach „genereller Ent-Politisierung und Ent-Ideologisierung der öffentlichen Debatte“. Nein, es geht um die Re-Politisierung der öffentlichen Diskussion durch Ideologie-Entzug! Die Ideologen verhindern den freien Austausch über das Ob und Wie des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens – über das Politische also –, indem sie ihr alleinseligmachendes Weltbild in Politik zu verwandeln und der Gesellschaft aufzuzwingen versuchen.

Die Liste der Erstunterzeichner ist heterogen. Den Publizisten und Islam-Kenner Hamed Abdel-Samad, den Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski, den Mediziner Sucharit Bhakdi, den Medienwissenschaftler Norbert Bolz, den abgesetzten Chef der Stasi-Gedenkstätte, Hubertus Knabe, die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, den Autor Rainer Meyer, dessen „Don Alphonso“-Kolumnen der letzte positive Grund sind, Welt Online anzuklicken, und auch Tübingens grünen Oberbürgermeister Boris Palmer durfte man erwarten.

Der linke Historiker Götz Aly, der in seiner aktiven Zeit opportunistisch agierende SPD-Mann Wolfgang Thierse oder der einschlägige Enthüllungsjournalist Günter Wallraff hingegen überraschen mit ihrer Unterschrift.

Doch was ist der Effekt? Der Initiator Milosz Matuschek, der bis vor kurzem als Kolumnist für die Neue Zürcher Zeitung – die häufig das „neue Westfernsehen“ genannt wird – gearbeitet hatte und nach einem Streit um seine Glosse „Was, wenn am Ende ‘die Covidioten’ recht haben?“, geschaßt wurde, hat eine Zwischenbilanz gezogen. Inzwischen sind rund 17.000 Unterzeichner dem Appell beigetreten, doch viel mehr als ein „erwartbares kleines Rauschen im Blätterwald, das vielleicht noch weitergehen wird, vielleicht auch nicht“, hat sich nicht ergeben.

Damit war ernsthaft auch nicht zu rechnen. Die Medienredakteurin der taz merkte zum Appell an, wer sich öffentlich zu Wort melde, müsse halt auch Kritik ertragen. In einem offenen Debattenraum stehe eben keine „Kanzel, von der aus ein paar wenige predigen“.

Das war Zynismus pur, doch repetierte sie lediglich die Kanzlerin, die im November 2019 im Bundestag erklärt hatte, die Meinungsfreiheit sei in der Bundesrepublik gegeben, aber: „All denjenigen, die dauernd behaupten, sie dürften nicht mehr ihre Meinung sagen, muß ich sagen: Wer seine Meinung sagt, auch prononciert, der muß damit leben, daß es Widerspruch gibt. Es gibt keine Meiungsfreiheit zum Nulltarif.“

Man kann nicht behaupten, daß die taz-Frau und die Kanzlerin direkt lügen, aber sie verfälschen die Sachlage und den Konflikt, indem sie ausgerechnet denen, die auf die sich stetig verengenden Meinungskorridore hinweisen, unterstellen, sie wollten Kritik unterbinden.

Es verhält sich umgekehrt. Nichts käme ihnen mehr gelegen als kluger Widerspruch, fairer Meinungsstreit, fundierte Kritik. Doch statt Argumente erfahren sie ihren Ausschluß aus der Öffentlichkeit durch den Ausschluß aus dem Medium. Darüber hinaus drohen ihnen die Zerstörung der sozialen Existenz, die gesellschaftliche Ächtung, Angriffe auf ihre psychische und physische Unversehrtheit.

Der Medienwissenschaftler Michael Esders schreibt in dem von den großen Medien beharrlich unterschlagenen Buch „Sprachregime“ zur Rede der Kanzlerin, ihr „Sprachbild enthält eine unverhohlene Drohung: Wer Meinungsfreiheit für sich in Anspruch nimmt, muß dafür bezahlen. Die entstehenden Kosten werden sogleich mit einer Banalität verharmlost und heruntergespielt, ergeben sich aber aus dem Subtext: Der ‘Widerspruch’, der nicht selten in Handgreiflichkeiten ausartet und gewalttätig wird, ist der zu zahlende Preis.“

Wenn es also im Appell heißt: „Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf“, ist das nur die halbe Wahrheit. Es ist viel schlimmer. Die destruktive Energie kommt auch von ganz oben.

Deshalb läuft die Aufforderung an Veranstalter, Multiplikatoren oder Plattformbetreiber, „dem Druck auf sie standzuhalten und nicht die Lautstarken darüber entscheiden zu lassen, ob eine Veranstaltung stattfindet oder nicht“, ins Leere. Für den vom Staat im Stich gelassenen einzelnen Veranstalter kann Zivilcourage zum Himmelfahrtskommando werden. Und die Plattformen der international agierenden Medienkonzerne sind Instrumente und sogar Akteure des Spieles, das darauf hinausläuft, die Nationalstaaten einem Globalregime zu unterstellen, wobei der Beutewert der europäisch geprägten Staaten besonders groß ist.

Der Generalangriff auf die politischen und kulturellen Grundlagen der europäischen Zivilisation spült eine geistige Unterwelt, ein neues Barbaren- und Gangstertum an die Oberfläche, dem ein paar suggestiv aufgeladene Begriffe genügen – Diskriminierung, Rassismus, Islam- und Homophobie, Verschwörungstheorie oder einfach Haß – , um eine niederträchtige Herrschaft auszuüben.

Appelle allein richten dagegen nichts mehr aus.

 

„Und nicht wenige, die Zauberei getrieben hatten, brachten ihre Zauberbücher herbei und verbrannten sie vor aller Augen.“ Auf diesen Bibeltext beriefen sich religiöse Fanatiker, wenn sie in den folgenden 2.000 Jahren unliebsame Schriften den Flammen übergaben. Seit der Antike werden missliebige Schriften öffentlich verbrannt, manchmal zusammen mit ihren Verfassern.

Ab dem 4. Jahrhundert loderte die religiöse Pyromanie der römisch-katholischen Kirche. Der Wahn infizierte alle Kontinente. Der Bischof Diego de Landa ließ in Yucatan fast alles vernichten, was in Maya-Schrift verfasst war. 

Um 1193 fackelte der islamisch-türkische Eroberer Bakhtiyar Khilji die buddhistische Nalanda-Universität ab.

Nach den Bücherverbrennungen der Nazis verbrannten die Roten Khmer 1975 in Kambodscha Bibliotheken, im Bosnienkrieg fackelten serbische Nationalisten über eine Million Bücher ab, im März 2001 wurden während eines Gottesdiensts im US-Bundesstaat New Mexico „Harry Potter“-Romane wegen angeblicher Hexerei verbrannt.

Jungsozialist Timo Räbsamen sitzt im Stadtparlament von Wil. Im Februar 2019 schrieb er in einem mittlerweile gelöschten Instagram-Post: „Heute brennt die Weltwoche, morgen dann Roger Köppel“ – und illustrierte die Zeilen mit einem Foto, das einige historiographisch Demente beim Abfackeln einer „Weltwoche“ zeigt.

Hätten junge SVPler getextet: „Heute brennt die Wochenzeitung, morgen dann die Chefredaktoren“ – es hätte Nazikeulen geregnet. Leider gibt es in den Redaktionen immer mehr „Influencer“, die sich als publizistischen Arm eines totalitären Mobs verstehen und dementsprechend zweierlei Maß anwenden.

ARD-Journalist Hanns Joachim Friedrichs (1927–1995) sagte einst: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache. Auch nicht mit einer guten.“

Alle zu den Wahlen zugelassenen Parteien haben ihre Berechtigung, sie repräsentieren einen Teil der Bevölkerung. Kontroverse Meinungen und zivilisierte Debatten sind die Vitamine einer gesunden Demokratie.

Doch heute gilt: Was von rechts kommt, ist Faschismus, was von links kommt, war bloß Satire. Heinrich Heine (1797–1856) ließ in seiner Tragödie "Almansor" den Hassan sagen: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende Menschen.“

Diese Kolumne von Claude Cueni erschien zuerst im Schweizer BLICK.

 

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