Stationen

Freitag, 2. Oktober 2020

Wie jenseits der Relativismen alles mit allem zueinander in Relationen steht

Nun bin ich in der Neuen Zürcher Zeitung erneut zu einer Art Inbegriff des zeitgenössischen Konservatismus stilisiert worden. Diesmal ist es CDU-Mitglied und Historiker Andreas Rödder, auf dessen interessanteren und konstruktiveren, wenn auch nicht unproblematischen Versuch, seinen eigenen, „liberalen Konservatismus“ als Position der „Mitte“ zwischen Linksextremismus und dem, was er meinen „nostalgischen Fundamentalismus“ nennt, sich einzugehen lohnt.

Ich will dabei davon absehen, daß meine eigenen Positionen eigentlich nur denkbar schlecht dazu geeignet sind, zum Zerrbild des „Rechten“ aufgeblasen zu werden, denn wenn sogar mein Eintreten für eine Rückbesinnung auf unser griechisch-römisches und jüdisch-christliches Erbe und mein Streiten um eine konstruktive und pragmatische Reform der EU als „rechts“ zu gelten haben, hat dieser Begriff wahrlich jeglichen Sinn verloren.

Viel konstruktiver als eine sterile Selbstapologie ist es vielmehr, den inneren Widersprüchen eines solchen „liberalen“ Konservatismus nachzuspüren und zu zeigen, wieso dieser ultimativ nichts anderes ist als ein tragischer, da unbewußter Erfüllungsgehilfe der gegenwärtig herrschenden linksgrünen Ideologie.

Rödders Argumentation geht zwar von der freimütigen Einsicht in den „Linksruck“ der CDU aus und enthält eine Reihe höchst positiver und lobenswerter Gedanken und Vorsätze. Er scheitert aber leider letztlich bei dem Versuch, diese im Zusammenhang eines „liberalen Konservatismus“ – eigentlich eine contradictio in adiecto – nicht nur als optional, sondern als zwingend notwendig zu postulieren. Schon der Titel ist eine doppelte Selbstdemaskierung: „Den Wandel verträglich gestalten“ ist bereits eine Abdankung vor dem Anspruch auf tatsächliche Mitprägung der Geschichte; „Konservatismus“ erscheint hier als eine Art Beschäftigungstherapie, vielleicht gar Palliativpflege für die von der Geschichte „Abgehängten“; ein ideologisches Feigenblatt des Progressismus.

In diese Richtung geht auch die Forderung, „den Menschen mitzunehmen“, als seien die Bürger eine infantilisierte Masse, die erst einmal von den Politikern „geführt“ werden müsse, um endlich da anzukommen, wo andere sich in ihrer Weisheit längst befinden. Echte Demokratie sieht anders aus: Hier sind es eigentlich die Bürger, die ihre Politiker führen. Daß es ganz klar der ungebändigte Zeitgeist ist, der fest im Sattel jenes „liberalen Konservatismus“ sitzt, und nicht das eigene ethische Ideal, wird auch klar, wenn Rödder schreibt: „Jedenfalls taugt die Beanspruchung des Absoluten, zum Beispiel religiöser Gewißheiten, nicht als Grundlage für die Politik in einer offenen Gesellschaft. Selbst die Menschenwürde ist in ihrer konkreten Ausgestaltung immer wieder Gegenstand von Deutungskonflikten und Machtkämpfen.“

Die Priorität ist klar: Passen religiöse Gewißheiten oder die Menschenwürde nicht zur „offenen Gesellschaft“, hat eben letztere Vorrang. Aber sollte ein echter Konservativer nicht eigentlich genau andersherum argumentieren und die Realität seinem Ideal anpassen wollen?

Doch am problematischsten am „liberalen Konservatismus“ ist die Erklärung, daß die von mir vertretene „Rückbesinnung auf das Konzept der einen, ungeteilten, allumfassenden Wahrheit“ und eines in Grundzügen apriorisch festliegenden Sittengesetzes mit dem „demokratischen Meinungspluralismus“ „nicht einfach zu vereinbaren“ sei. Somit müsse sie im Namen des Liberalismus zugunsten eines stetigen „Aushandelns“ politischer Entscheidungen aufgegeben werden.

Was auf den ersten Blick wie eine bloße Belanglosigkeit scheinen mag, ist der wahre Kern der Auseinandersetzung zwischen dem „liberalen“ und dem echten Konservatismus. Denn wer wie der CDU-Mann Rödder den Gedanken aufgibt, daß eine absolute Wahrheit existiert (der wir uns in unserer menschlichen Begrenztheit freilich immer nur mühsam annähern können), gibt jegliche Möglichkeit einer wahren, also transzendenten Verankerung von Recht und Ordnung auf, wie sie ja im deutschen Grundgesetz nicht zufällig im Gottesbezug explizit enthalten ist (welcher ja dann eigentlich auch dem demokratischen „Meinungspluralismus“ weichen müßte).

Kurz gesagt: Er kann, muß aber nicht moralisch handeln. Und somit sind auch alle hehren Werte, die die eigentliche „Substanz“ von Rödders Konservatismus kennzeichnen sollen – Menschenwürde, Rechtsstaat, Ordnung, Humanität, Demokratie, Freiheit, Subsidiarität, et cetera –, zwar überaus wohlklingend, aber letztlich substanzlos. Auch in der Verfassung der Sowjetunion wurden diese Werte vollmundig beschworen, nur um durch eine zynische, da durch keinerlei Transzendenzbezug gestützte Interpretation in ihr blankes Gegenteil verkehrt zu werden…

Daher erstaunt eben auch nicht, daß Rödder, nachdem er jeglichen Transzendenzbezug aufgegeben hat, zu so gefährlich relativistischen Aussagen kommt wie: „Das Austarieren von Maß und Mitte verlangt immer wieder neue Antworten auf die neuen Fragen neuer Zeiten.“ Denn was auf den ersten Blick tautologisch wirken mag, ist auf den zweiten hochbrisant. Sehen wir einmal von bloßen technischen Verfahrensproblemen ab, ist die überwältigende Mehrheit der gerade heute zur Debatte stehenden politischen und gesellschaftlichen Fragen keineswegs „neu“, sondern uralt.

Auf die Entmenschlichung des Bürgers durch Konsumkult, Hedonismus und Transhumanismus, auf die Zerstörung der klassischen Familie durch Egoismus und sexuelle Objektisierung, auf die Abschaffung des Mittelstands zugunsten des Milliardärssozialismus, auf die Verhöhnung naturgegebener Geschlechterrollen durch die „Gender“-Theorie, auf die Demontage von Anstand und Bildung zugunsten politisch korrekter Besserwisserei, auf die Negierung von nationaler und abendländischer Identität durch den Relativismus von Multikulti und „One World“, auf den Massenmord an ungeborenen Kindern im Namen vermeintlicher Selbstentfaltung, auf die Selbstaufgabe unserer Unabhängigkeit durch Auslagerung unserer Industrie, auf die Vernichtung jeglichen Stolzes auf die jahrtausendealte Geschichte Europas durch einen surrealen und ahistorischen Schuldkult und auf die freiwillige Selbstabschaffung des Menschen zugunsten eines fehlgeleiteten Naturbegriffs kann es für den echten Konservativen kaum „immer neue Antworten“ geben, sondern nur eine einzige: Nein.

Dabei handelt es sich hierbei keineswegs um eine Überinterpretation der Positionen Rödders. Vielmehr schreibt dieser weiter: „Was heute als unumstößlich richtig gilt, kann morgen schon als grottenfalsch erscheinen.“ Das ist – wie Rödder sogar selbst einräumt – Relativismus in Reinform. Wahr ist: Gut und Böse sind überzeitliche und absolute, nicht relative Größen, und wäre letzteres der Fall, müßte jegliche Möglichkeit zu einer echten Sittlichkeit ausscheiden.

Das „Gute“ wäre dann formal nur das, was der jeweiligen Mehrheit nutzt beziehungsweise „nicht schadet“, und die Definitionshoheit darüber läge ultimativ bei der Politik (oder den Medien). Alles wäre dann lediglich „konstruiert“, und es wäre nur rechtens, daß derjenige auch das Sittengesetz dominiert, der die nackte Macht dazu besitzt: Darauf läuft die angebliche „Menschenfreundlichkeit“ des „liberalen Konservatismus“ letztlich (unfreiwillig) hinaus.

Somit unterschiedet dieser sich aber trotz seiner vielen guten Vorsätze in seinen geistigen Grundlagen kaum wirklich vom heutigen Linksradikalismus, der in seinem Materialismus, Relativismus und Atheismus ultimativ ebenfalls für die Auflösung der Transzendenz und die bloße Herrschaft des Augenblicks, die Idealisierung des „Aushandelns“ steht, um auf den Trümmern der Tradition im Namen der „Freiheit“ einen rein positivistischen Zwangsstaat zu errichten, dessen Anspruch auf offensive Weltbeglückung kein Sitten- oder Gottesgesetz mehr entgegensteht.

Der „liberale Konservatismus“ steht also keineswegs in der „Mitte“ der Gesellschaft, sondern ist klar links verortet: ein Atavismus der Aufklärung, ein fast schon überlebtes Überbleibsel jenes ersten frühen Kampfes gegen die Tradition, das sich von der gegenwärtigen Linken nur darin unterscheidet, daß diese wenigstens den „liberalen“ Ansatz konsequent zu Ende denkt, während der „liberale Konservatismus“ aus einem dumpf verspürten letzten Rest zivilisatorischen Anstands noch zögert, das durch die Unterminierung der Tradition geschaffene Zerstörungspotential voll auszuschöpfen, und der sich somit unfreiwillig zum Feigenblatt der linken Staatseroberung degradiert, bis auch er die volle Wucht jener Mächte erleben wird, die er freigesetzt hat.

Ob ein solcher Konservatismus, der wenig mehr als ein Erfüllungsgehilfe des Linksliberalismus ist, daher auch nur den Hauch einer Möglichkeit zur konstruktiven Mitgestaltung der Zukunft besitzt, ganz zu schweigen von seiner Glaubwürdigkeit der jungen Generation gegenüber, die gegenwärtig zunehmend die Konsequenzen dessen zu spüren bekommt, was der Liberalismus in den vergangenen Jahrzehnten angerichtet oder durch seine Passivität ermöglicht hat?

Die Antwort ist wohl offensichtlich: Jener Mob, der gerade in den amerikanischen und europäischen Großstädten auch die Statuen der großen Aufklärer stürzt und ihr Andenken tilgt: Er ist das eigentliche Menetekel dessen, was auch den „liberalen Konservatismus“ früher oder später erwarten wird, wenn es in der Zwischenzeit nicht zu einer ehrlichen und glaubwürdigen konservativen Rückbesinnung Europas jenseits kurzlebiger populistischer, demagogischer und nationalistischer Agitation kommt. Davon sind wir freilich noch weit entfernt – sehr weit.

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Prof. Dr. David Engels, Jahrgang 1979, Althistoriker, lehrt Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Instytut Zachodni (West-Institut) in Posen.

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