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Freitag, 22. September 2023

Regel für Historiker: Die einzig mögliche Gewissenheit ist die Gegenwart

 

Transatlantische Freundschaften gehen unter, G7-Vereinbarungen und Fraktionsgemeinschaften – das Thema „Untergänge“ dominiert derzeit jede zweite Tagesschau-Meldung – und es ist auch das Thema der Bamberger Hegelwoche: „Untergänge - warum Reiche vergehen“. Der belgische Althistoriker und Spezialist für das ebenfalls vergangene Römische Reich, David Engels, beschäftigt sich in Bamberg mit Parallelen zwischen Rom damals und EU heute. Ob es solche Parallelen gibt, und was man daraus ableiten sollte, darüber sprach Judith Heitkamp mit ihm.


Judith Heitkamp: Wieso ein Vergleich zwischen Rom damals und der EU heute?


David Engels: Es gibt erstaunlich viele Parallelen zwischen diesen beiden Epochen. Ich interessiere mich vor allem für die spätere Römische Republik. Diese Zeit war ähnlich geprägt wie die gegenwärtige westliche Gesellschaft - ob das nun Masseneinwanderung betrifft oder das Zerfallen des traditionellen Familienbildes, das Schwächeln der Demographie, die Globalisierung, den Aufstieg des Populismus, gesellschaftliche Spaltungen und technokratische Regimes, die Bedeutung der Wirtschaft und der internationalen Finanzen, asymmetrische Kriege, Fundamentalismus – all das kennen wir eigentlich sehr gut aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. Und es erinnert in erschreckender Weise an den Zustand, in dem der Westen mittlerweile angekommen ist.


Das war jetzt eine beeindruckende Aufzählung - aber gibt es nicht einen grundlegenden Unterschied? Nämlich, dass Rom eine auf aggressive Expansion ausgelegte Weltmacht war und die EU ein Staatenverbund ist, zu dem andere dazugehören wollen, der Beitrittsgesuche aber über Jahrzehnte sammelt und sogar erstmal liegen lässt?


Oh ja, so würde das auf den ersten Blick tatsächlich wirken, aber man darf nicht vergessen, dass die Europäische Union wesentlich auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs entstanden ist, als Resultat eines Krieges, und in der Kriegssituation des Kalten Kriegs auch eine Möglichkeit bedeutete, die Kräfte Westeuropas zu bündeln. Auf der anderen Seite ist es so, dass auch die spätere Römische Republik keineswegs ausschließlich durch militärische Expansion zustande gekommen ist. Sondern eigentlich gerade Ende des zweiten, Anfang des ersten Jahrhunderts durch freiwilligen Anschluss verschiedener Reiche, sei es nun, dass einzelne Staaten von ihren herrschenden Königen vererbt wurden, sei es, wie im Falle Syriens, einer der wichtigsten Provinzen, dass sie tatsächlich um den Anschluss an das Reich gebeten haben.


Und wie ist es mit den ganz aktuellen Nachrichten? Also: Europa befindet sich in der Zerreißprobe bei der Frage der Flüchtlingspolitik, Italien schließt Häfen, in Deutschland ist Angela Merkel unter enormem Druck, nicht etwa der Opposition, sondern aus dem eigenen Lager - finden Sie da auch solche Parallelen?


Naja, je näher man heranzoomt, umso schwieriger wird das Vergleichen, aber selbst diese Elemente verweisen eigentlich auf zahlreiche Krisenfaktoren, die auch die spätere Römische Republik kannte. Sei es nun die Frage nach der Identität des Staates, sei es die Angst vor Überfremdung, die es in Rom sehr wohl gab, mit mehreren Gesetzen sogar zur Fremden-Ausweisung, sei es eine innenpolitische Dauerkrise wie diejenige, auf die Deutschland zuzusteuern scheint - all das sehen wir eigentlich auch in den Krisenjahren der römischen Republik.


Aber dann müssen Sie jetzt auch Farbe bekennen - welche Prognose ergibt sich aus all dem praktisch, für uns und für die EU?


Es ist natürlich immer schwierig und gewagt, aus solchen Analogien Prognosen zu ziehen. Aber das ist eigentlich auch der Job des Historikers: Schlüsse zu ziehen auf eine mögliche oder wahrscheinliche Zukunft. Und da sieht es natürlich nicht besonders rosig aus, denn wie wir alle wissen, endete die spätere Römische Republik in einer sogenannten „Krise ohne Alternative“, aus der Jahrzehnte dauernde Krisen und Unruhen entstanden. Und das befürchte ich auch für den gegenwärtigen Westen.


Bürgerkrieg?


Nicht Bürgerkrieg, denke ich, im Sinne der späten republikanischen Bürgerkriege, dafür ist unsere Gesellschaft nicht militarisiert genug, dass sich da Armeen gegenüberstehen könnten. Aber ich erwarte schon einen zunehmenden Kontrollverlust des Staates, zunehmende Reduktion staatlicher Aufgaben auf einige wesentliche urbaner Zentren, einen massiven Aufstieg von Parallelgesellschaften, eine Pattsituation, wenn man so will zwischen den sogenannten populistischen Parteien auf der einen und den sogenannten Systemparteien auf der anderen Seite. Bis schließlich die ganze Situation in einem solchen Kontrollverlust und Niedergang mündet, dass der Bürger genau wie im spätrepublikanischen Rom eigentlich bereit ist, die fast sinnlos gewordenen persönlichen Freiheiten und demokratischen Möglichkeiten aufzugeben. Stattdessen gibt er einem autoritären Staat wie zum Beispiel dem augusteischen Prinzipat seine Stimme, um wenigstens Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.


Die Frage ist natürlich, inwieweit es tatsächlich noch weiterhin eine Europäische Union in der gegenwärtigen Form geben wird. Eine kontinentale Union könnte durchaus eine lange Zukunft vor sich haben, müsste es vielleicht sogar, um mit Weltmächten wie China oder der islamischen Welt zu konkurrieren. Das halte ich für durchaus wahrscheinlich. Auch das Römische Reich hat zumindest im ersten und zweiten Jahrhundert eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebt, allerdings auf Grundlage des Freiheitsverlustes der Bürger. Die hatten zwar eine gewisse Rechtssicherheit, auch beschränkte Möglichkeiten, Politik mitzugestalten, aber eben nicht auf höchster politischer Ebene. Und das könnte auch der Preis sein, den der europäische Bürger bezahlen wird. Und vielleicht auch bezahlen muss, wenn er aus dieser „Krise ohne Alternative“ herauskommen will.


Wie ist es denn bei all dem, David Engels, mit der alten Historiker-Grundregel „Geschichte wiederholt sich nicht“?


Ja, an die glaube ich eigentlich nicht. Denn wenn eines deutlich wird anhand des Studiums der Geschichte, dann ist es natürlich, dass sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg Formen etabliert haben, die sich durchaus wiederholen. Das ist ja eigentlich auch der Sinn der Geschichtsschreibung. Wenn Geschichte sich nicht wiederholt, dann hat auch das Studium der Geschichte keinerlei Sinn, weil es uns ja in keinerlei Hinsicht irgendwelche Aufschlüsse geben könnte. Gerade dieses Nachdenken über mögliche Zyklen, über mögliche generelle Leitlinien, das ist etwas, das in der Gegenwart eigentlich nur selten betrieben wird. Aber ich denke, es tut dringend not.


David Engels ist Professor für römische Geschichte an der Universität Brüssel und einer der Referenten bei der Bamberger Hegel-Woche, die sich in diesem Jahr mit dem Thema „Untergänge“ befasst. Sein Vortrag ist am 21.6.2018 in der Aula der Bamberger Universität zu hören.

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