Stationen

Mittwoch, 24. Februar 2016

1979

Italiens Staatspräsident Sandro Pertini, für seine charakterfeste Gradlinigkeit gerühmt, blieb sich auch beim Staatsbesuch in Bonn treu. Der italienische Sozialist, einst antifaschistischer Widerstandskämpfer, mochte nicht in Anwesenheit des früheren NSDAP-Mitgliedes Karl Carstens seines 1945 im bayrischen Konzentrationslager Flossenbürg erschossenen Bruders Eugenio gedenken.
Dabei hatte der Bundespräsident besonders guten Willen zeigen wollen und seine Begleitung angeboten. Er sei bereit, so ließ Carstens die Italiener wissen, sich für Pertini über das Bonner Protokoll hinwegzusetzen. Denn nach Bonner Etikette ist es unüblich, daß der Präsident mitreist, wenn ein Staatsgast Abstecher in die Bundesländer macht.
Pertini winkte ab. Seine Abneigung gegen die Carstens-Begleitung begründete der Staatsgast aus Rom am Tag seiner Ankunft sogar öffentlich. "Nach Flossenbürg gehe ich privat", sagte er in einem Interview, das die "Welt" am vergangenen Dienstag druckte: "Ich möchte nicht den Bundespräsidenten in eine peinliche Lage bringen, wenn er mich dorthin begleiten müßte."
Der Hieb mußte um so schärfer schmerzen, als der Italiener sich im selben Atemzug mit einer Begleitung durch Bayerns Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, einen Unionspolitiker ohne NS-Vergangenheit, einverstanden erklärte. "Strauß ... hat mich wissen lassen, daß er an meiner Seite sein möchte, und ich weiß das sehr zu schätzen." SPIEGEL




Diese Episode wurde mir 1980 von einem "aufgeklärten", linken, in Italien lebenden Bayern ganz anders erzählt: Pertini habe sich gegen Strauss als Begleiter verwahrt, ein einstiger Widerstandskämpfer könne nicht Seite an Seite mit einem Nazi ein ehemaliges KZ besuchen, es gebe schließlich für alles eine Grenze.

Ein typisches Beispiel für die wichtigtuerische Selbstbesudelung in Deutschland, wobei in diesem Fall noch die Überheblichkeit des bayerischen Linken hinzukam, der meinte, es als aufgeklärter Bayer nötig zu haben, sich von FJS im besonderen und von der bayerischen Dumpfheit im allgemeinen distanzieren zu müssen. Und gerade dadurch ein besonders dumpfes Beispiel würdeloser Heuchelei und bekennerischer Politmoral gab.

Damals war der sich durch wichtigtuerische Selbstbesudelung auszeichnende Menschentyp noch die Ausnahme. Heute kann man sich nicht vor ihm retten.



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