Schlimm genug, dass die unsterblichste aller Sprachen bei jeder Gelegenheit von Menschen, denen jegliches historisches Bewusstsein abhanden gekommen ist, als "tote Sprache" bezeichnet wird, muss man im Alter von nunmehr fast 60 Jahren auch noch erfahren, das Ciceros "De re publica" keineswegs ein seit 2000 Jahren erörtertes philosophisches Werk ist, an dem sich 80 Generationen abgearbeitet haben und dem deshalb absolut nichts Wesentliches mehr abgerungen werden kann, da es ja von unzähligen Autoren hin- und hergewendet unter jedem möglichen Aspekt kommentiert wurde und jeder einzelne Kommentator seinerseits von Kommentatoren zweiten Grades rekommentiert wurde, sondern erst 1819 ein fasst vollständiger Text des bis dato nur auszugsweise bekannten Werks gefunden wurde und nicht früher als während des Ersten Weltkrieges innerhalb des George-Kreises überhaupt begonnen wurde, sich mit Ciceros darin enthaltenen, meisterhaften, immer noch aktuellen Überlegungen zu befassen (abgesehen von Giacomo Leopardi natürlich, der, selbst einer der größten Philosophen und Dichter, die diese Erde je sah, nicht nur sofort Ciceros De re publica las, sondern dem Entdecker des Manuskripts Angelo Mai ein Denkmal setzte, indem er ihm ein Gedicht widmete).
Unfassbar ist auch die Einfalt unserer zeitgenössischen Intellektualen und gelahrten Forscher, mit der sie sich einen Reim darauf ausdenken, weshalb die Antiken in ihrer unergründlichen Drolligkeit wohl philosophische Probleme in Dialogform darstellten.
Sie sehen den Wald vor Bäumen nicht: gerade die Schlauköpfe, die alle naslang die Relativität und die Subjektivität jeder Ansicht im Munde führen und auf die persönlichen Beweggründe derer, die diese relativen, subjektiven Ansichten vertreten, hinweisen (und meinen mit psychoanalytischen Spitzfindigkeiten besonders objektive Tatbestände zu Tage fördern zu können, obwohl eigentlich jedes Kind wittert, dass auf diese Weise die Subjektivität [des Analytikers] nur auf eine abstraktere Ebene transferiert wird), kommen nicht auf die Idee, dass gerade die Darstellung in Dialogform all diese Grundvoraussetzungen jeder menschlichen Erkenntnis betont, indem sie sie literarisch verarbeitet, sie gewissermaßen Gestalt und vor allem Form annehmen lässt und als gestaltete, biographisch umrissene, relative Subjektivität zum Behälter der eigentlich thematisierten philosophischen Fragestellung werden lässt, die darin wie in einer Vase, wie in einer Urne dem Leser dargeboten wird.
Das Wort "Urne" weckt, dank heute selbstverständlicher Ignoranz, wiederum Assoziationen zu Asche und Tod. Die Urne war aber ursprünglich ein Wassergefäß, hat also mehr mit Urin zu tun als mit Asche. Der Urinator war aber kein Pisser, sondern ein Taucher.
In Italien gibt es eine Bewegung, die sich gegen die Abschaffung des klassisch-humanistischen Gymnasiums stemmt. Allein die Renaissance müsste eigentlich genügen, um zu beweisen, wie wichtig die Antike ist, um mittelalterliche Hirngespinste zu bannen und aus den alten Wurzeln Kraft und Erkenntnis zu schöpfen. Allein, die heute selbstverständliche Ignoranz verhindert, dass wer Ignorant ist (und dafür einen Doktortitel bekam) sich seiner Ignoranz bewusst werden könnte. Die Antike wird erst dann wiederentdeckt werden, wenn sie zum zweiten Mal vergessen wurde. Das neue Mittelalter wird ein Mittelalter der Überspezialisierung sein: wie Sekten werden sich die Fachidiotenregimenter bekämpfen, die alle das eigene Fach für das maßgebliche halten. Hildegard von Bingen steht jetzt schon auf Augenhöhe daneben.
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