Stationen

Dienstag, 22. Juni 2021

Heute vor 80 Jahren kam die Wehrmacht der Roten Armee zuvor

Sie griff an.

Beide totalitäre Regime hatten, abgesichert durch den Nichtangriffspakt vom Sommer 1939, bereits regional begrenzte Kriege geführt und fast alle gewonnen:

Die Sowjetunion war in Polen einmarschiert, hatte den östlichen Teil besetzt und dabei rund 25000 Offiziere, Polizeibeamte und Intellektuelle in den Wäldern um Katyn ermordet und verscharrt.

1940 besetzte sie die baltischen Staaten und Bessarabien, das zuvor zu Rumänien gehört hatte. Den "Winterkrieg" gegen Finnland, der vom November 1939 bis zum März 1940 dauerte, gewann die Sowjetunion zwar unter erheblichen Verlusten, konnte aber ihre ursprünglichen Pläne nicht durchsetzen: Finnland blieb unabhängig und kämpfte später an deutscher Seite, um die Gebietsverluste des Winterkriegs wettzumachen und die Gefahr eines erneuten Okkupationsversuchs präventiv abzuwehren.

Das Deutsche Reich hatte nach dem Sieg über Polen zunächst keinen weiteren Krieg zu führen. Die Kriegserklärungen durch Frankreich und England blieben folgenlos, beide Nationen hatten Polen nicht beigestanden und im Westen keine zweite Front eröffnet. 1940 hatte Deutschland den Wettlauf um Norwegen (und damit um den Erzhafen Narvik) knapp gewonnen. Im Mai und Juni 1940 warf es Frankreich nieder.

Im April und Mai 1941 sah sich das Deutsche Reich gezwungen, den britischen Einfluß auf dem Kontinent zurückzudrängen und den militärischen Pfusch Italiens auszubügeln: Der Balkanfeldzug endete an der Seite Bulgariens und Rumäniens mit Siegen über Jugoslawien und Griechenland. Erfolglos blieb Deutschland im Luftkrieg um England.

Das deutsche Reich und die Sowjetunion – das bedeutete bis Mitte 1941: Aufteilung der Machtsphären, Sicherung des Nachschubs an Rohstoffen, Meereszugänge, Bereinigung auf Nebenkriegsschauplätzen. Die eigentliche Auseinandersetzung würde gegeneinander geführt werden, als Weltanschauungskrieg, als Krieg ums Sein oder Nichtsein und um den Status der dominierenden europäisch-kontinentalen Weltmacht.

Es war nicht zuletzt der junge Schweizer Armin Mohler, der am Morgen des 22. Juni 1941 vom Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion hörte und wußte, daß es nun "um die Wurst" gehe, eben um alles oder nichts und nicht nur um Elsaß-Lothringen oder Posen oder eine Einflußsphäre in Skandinavien.

Es war das Unvermeidliche, das in Gang kam und das auf beiden Seiten mit aller Härte ausgeführt wurde. Unvermeidlich: Das haben die Sieger nach dem Krieg bestritten, erst leise, dann laut, und am lautesten bestreiten es nun die Deutschen selbst, die längst jede Siegererzählung bis ins Vokabular hinein übernommen haben und mittlerweile einander mit allen Spielarten von Schuldstolz, nachgereichter Verurteilung, Wiedergutmachungswettlauf und antideutscher Zukunftsverhinderung überziehen - und tatsächlich glauben, daß nicht das nationalsozialistische Regime widerlegt worden sei, sondern die Deutschen, sie selbst also, an sich.

Wir, also die Deutschen, waren in der Debatte um den deutsch-sowjetischen Krieg schon einmal weiter, viel weiter. Diejenigen Nationen, die nach dem Ende des Kriegs unter den sowjetischen Einfluß gerieten oder sogar einverleibt wurden (allen voran die baltische Staaten), betonen seit 1990 zumindest den antitotalitären Konsens, mit deutlicher Gewichtung gegen den roten Terror, der ihre Länder beinahe ausgelöscht hätte.

Aber bei uns kippte alles zurück in eine unhistorische Eindimensionalität. Und so hoffte man im Rahmen des alternativen Aufbruchs auch auf alternative Erzählungen, auf geschichtspolitische Souveränität. Dr. Alexander Gauland im Bundestag:

 

 

Dr. Stefan Scheil reagierte zunächst auf Facebook, hier nun erweitert:

Am 9. Juni veranstaltete der deutsche Bundestag eine aktuelle Stunde zum achtzigsten Jahrestag des deutschen Angriffs auf die UdSSR im Jahr 1941. Für die Bundestagsfraktion im deutschen Bundestag wurde es eine Stunde der Wahrheit.

Man musste ja nicht unbedingt erwarten, daß Alexander Gauland als Fraktionssprecher der AfD vor dem Bundestag in heikle Geschichtskontroversen einsteigt oder gar den Angriff auf Russland als Präventivangriff bezeichnet. Es wäre aber beispielsweise möglich gewesen, den russisch-deutschen Krieg etwa als Tragödie zweier Völker zu bezeichnen (die beide gleichzeitig selbst mit einer Diktatur im Inneren zu kämpfen hatten) und als Ausdruck von politischen Konflikten, die damals mit Mitteln ausgetragen werden sollten, die wir heute bitte nicht wieder sehen wollen.

Bei Bedarf ließen sich auch andere allgemeine Worte finden.

Was Gauland jedoch statt dessen auf geradezu überschießende Art und Weise vorgetragen hat, unterstützte tatsächlich die Wiederbelebung stalinistischer Propaganda von 1939-1953. Diese wird vom russischen Präsidenten Wladimir Putin seit Jahren allen Ernstes wieder belebt und in Europa verbreitet. Etliche deutsche Geschichtsprofessoren wurden von staatlichen russischen Stellen persönlich angeschrieben, wie der Kriegsausbruch von 1939 und die Jahre danach zu sehen seien.

Gauland ist praktisch komplett den aktuellen Vorgaben aus Moskau gefolgt, die in Stichworten lauten: "Hitler war der Aggressor, der Westen feige, Stalin clever und er tat das Nötige. Polen war mitschuld". Der Fraktionssprecher hat zugleich den Deutschen auf eine wirklich spektakuläre Art eine Kollektivschuldschelle verpaßt und einen historischen Maulkorb umgehängt.

Das läßt sich kaum anders denn als unnötig, peinlich und politisch schädlich bezeichnen. Es sei denn, die AfD möchte sich dauerhaft als die "russische Partei" in Deutschland inszenieren. Dafür bekäme sie dann aus Moskau zur Belohnung die Feststellung einer - 1939 zweifellos vorhandenen - polnischen Mitschuld geliefert, müßte sich aber weiter unverdrossen "faschistischer" deutscher Verbrechen schuldig bekennen, während von den Kriegstreibern und Massenmördern in Moskau bitteschön zu schweigen sei. Das ist sachlich völlig falsch und auch politisch nicht klug.

Leider stellt Gaulands Vortrag keinen Einzelfall dar, und so spricht manches dafür, daß Gauland und die Fraktionsführung in der Tat davon Abstand nehmen (oder die Phantasie dazu gar nicht haben) tatsächlich eigene Akzente beim Blick auf die Jahre 1939 bis 1941 zu setzen. Man sieht nur die Wahl zwischen der westlichen Variante und der sowjetischen "Meistererzählung" und entscheidet sich für den Osten. Das ist zu wenig, um eine Alternative zu sein.

Wo stehen wir also geschichtspolitisch? Ordnen wir eine deutsche Sicht auf den Krieg mit der Sowjetunion heutigen bündnisstrategischen Erwägungen unter? Oder einer Parteitaktik? Oder geben wir einer Sehnsucht nach Ruhe an der geschichtspolitischen Front nach?

Manchmal hat man den Eindruck, als hätten Scheil und Weißmann, Schultze-Rohnhof und Hinz nur so zum Spaß geschrieben und darauf beharrt, daß man den Schlägen mit der Faschismuskeule nicht dadurch ausweichen könne, indem man mitschlägt.

Alternativ sein bedeutet manchmal: mindestens schweigen.         GK

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Vertieft hat Stefan Scheil den Forschungsaspekt zum Präventivkrieg in seinem knappen, bereits in der 5. Auflage vorliegenden Bändchen Präventivkrieg Barbarossa (hier bestellen) und in seinem Buch Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs (hier bestellen).

Alle vier Studien Scheils zu Brennpunkten der Kriegsausweitung sind zum Paketpreis hier erhältlich.

Den besten Überblick über den Kriegsverlauf bietet (samt Kartenmaterial) Heinz Magenheimers Buch Die deutsche militärische Kriegsführung im II. Weltkrieg (hier erhältlich).


Zitat des Tages: „Andererseits, als Hitler einmal da war, war die einzige Gegenmacht Hitler gegenüber die Sowjetunion, jetzt der Molotow-Pakt mit eingerechnet, denn der Molotow-Pakt war ein sehr geschickter Schachzug, um den Westkrieg und damit die Lebensnotwendigkeit für die Westmächte zu schaffen, sich gegen Hitler zu wenden.

Georg Lukács, „Ästhetik, Ontologie, Marxismus.” Ausgewählte Texte. Frankfurt 2021, S. 533

 

Götz Aly

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