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Freitag, 1. April 2022

Verlogene oder dumme, jedenfalls irreführende Denkschablone unserer sexualisierten Zeit

"Charles Marsh geht auch detailliert auf Bonhoeffers Verhältnis zu dessen Freund Eberhard Bethge ein und findet viele Hinweise darauf, dass Bonhoeffer homosexuell war. Die These ist nicht neu, Marsh führt sie zum ersten Mal aus. Bonhoeffer und Bethge hatten ein gemeinsames Bankkonto, machten den Familien und Freunden gemeinsame Geschenke. Als Bethge heiratete, konnte Bonhoeffer seine Eifersucht kaum verbergen", schreibt der Tagesspiegel.

Bei einer sehr innigen Freundschaft - zumal wenn sie christlich motiviert ist! - ist es keineswegs überraschend, wenn ein gemeinsames Bankkonto geführt wird. Heutzutage sicherlich sehr viel seltener als zu Bonhoeffers Zeit. Auch dass man gemeinsame Geschenke gegenüber anderen macht, kann lediglich der Ausdruck einer engen, sentimentalen Verbundenheit sein, die zwar schon immer selten war, aber nur in unserer auf Sexualität fixierten Zeit, zwanghaft übersehen wird und in ihrer Entfaltung durch genau diese Fixierung behindert wird, weil eine solch enge Freundschaft auch dann mit Sexualität assoziiert wird, wenn nicht die geringste Neigung und erst recht nicht Veranlagung zu homosexueller Vereinigung besteht. Dass es in solch einer Situation zu Eifersucht kommt, wenn einer der Freunde heiratet, ist unvermeidlich, denn man war ja zuvor die Hauptbezugsperson, während man jetzt zweitrangig wurde (ich weiß aus eigener Erfahrung, wie unangenehm es ist, wenn die Frau eines guten Freundes Ansichten vertritt, bei denen man nur den Kopf schütteln kann; man beißt sich oft auf die Zunge, weil man die Gefühle des Freundes nicht verletzen möchte). Freundschaften wie diese waren gewiss immer selten, aber in prüderen, christlicheren und frommeren Zeiten sicherlich häufiger als heute. Und so modern Bonhoeffer in seinem Denken war, er war ein sehr frommer Mensch. Eine Veranlagung zur Homosexualität ist mir an seinen Schriften nie aufgefallen (und ich pflege die Wortwahl der Autoren, die ich lese auch unter psychoanalytischen Aspekten zu beachten). Übrigens, Carlo Pedretti, der sein Leben lang Leonardo da Vincis Werk erforscht hat, schrieb in seinem 2008 erschienenen Buch Leonardo & io, er habe sämtliche noch erhaltenen Schriften Leonardo da Vincis - die in die Tausende gehen -  (entziffert und) gelesen und keinen einzigen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass Leonardo homosexuell gewesen sei. Nun könnten meine Überzeugung und Pedrettis Überzeugung theoretisch natürlich die subjektive Selbstüberredung, Gutgläubigkeit oder militante Verdrehung und Imagepflege von eifernden Anhängern der beiden herausragenden Männer sein. Da es kein Mittel geben kann, diesen Einwand zu entkräften, muss ich leider mit ihm leben (zumindest solange keine unwiderlegbaren Beweise gefunden werden, durch die meine oder Pedrettis Ansicht sich als falsch erweist). Aber immerhin in der felsenfesten Überzeugung, dass es kaum Menschen gibt, die mehr Lebenserfahrung besitzen als ich.

Was ich übrigens sofort glaube, ist dass Karl Barth sich der Bigamie erfreute. Anders als Rigoletto und Berlusconi, dafür aber ähnlich wie Udo Jürgens hing Barth seine Neigung nur nicht an die große Glocke (mehr Schein als Sein ist bei manchen Themen eben eher deutsch als italienisch). Christlich war diese Neigung nicht.

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