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Freitag, 15. September 2023

Was ich ab 1970 am dringendsten brauchte

 Es war vorhanden. Aber ich wusste es nicht. Mein Bruder ließ mich damals ab Herbst im Stich, und dieses Buch, das damals meine Rettung gewesen wäre, schenkte mir leider auch zur Konfirmation niemand. Statt dessen bekam ich 20 Hortensien, 5 Azaleen und viele andere unbrauchbare Geschenke. Die einzigen schönen Geschenke erhielt ich von zwei Frauen, die nicht einmal zu den Konfirmationsgästen gehörten: Frau Seidler, die mir ein kleines Tischdeckchen und eine rot lackierte Öllampe schenkte

und unserer Nachbarin "Tante Hanne", die mir den ADAC-Atlas "Schatzkammer Deutschland" schenkte, einen kulturgeschichtlichen Band mit Beschreibungen dessen, was der Krieg nicht zerstört oder entwendet hatte, mit einer kurz gefassten, aber recht gut gemachten Einführung in die Stilkunde und mit einem kleinen Kartenteil. Sowohl die Beschreibung der Ortschaften und die Karten damals in separaten Teilen für BRD und DDR. Und es war eine Freude, dass es nicht ein Touristenführer für die BRD war, sondern einer für das gesamte Deutschland.


Dieser ADAC-Führer war lange Zeit das einzige Buch, aus dem ich Dinge über die deutsche Geschichte in Erfahrung bringen konnte, die mir nicht nur unsere Schule, sondern auch meine Verwandten vorenthielten. Schwester und Schwager schenkten mir ein Kirchengesangbuch, auf meinen ausdrücklichen Wunsch die kleine Variante; ich spürte vielleicht instinktiv, dass ich oft umziehen würde und Dinge, an denen mir etwas lag, hatte ich gerne in Miniatur, um sie notfalls immer bei mir haben zu können; so die Bibel, eine Minox, Dantes Commedia, Goethes Faust, Machiavellis Fürst, Leopardis Gedichte und Essays, Schweizer Messer, Bleistift, Radiergummi, Notizbuch, Walkman, Lupe, Kräuterführer etc. 

 


Heute sind alle zu Nomaden geworden, die ihre Heimat im Smartphone mit sich tragen. Der Pfarrer schenkte mir zur Konfirmation (und leider auch zur Konformation) Wolfgang Borcherts Gesamtwerk. Immerhin, darin standen mehrere brauchbare, sehr gut geschriebene Geschichten. Zum ersten Mal in meinem Leben las ich ein Buch, das nicht Karl May geschrieben hatte, wirklich gerne (Mark Twain kannte ich noch nicht), aber es war nicht wirklich das, was ich damals brauchte, und außerdem standen darin auch mehrere weltfremde, ausartende Wucherungen eines kranken Pazifismus und eine gehässige, unfaire Verunglimpfung Preußens, was mir beides unerträglich war. 

 

 

Das beste an diesem Buch war die sehr kluge Widmung die mir der Pfarrer hineinschrieb. Ich habe immer großes Glück mit den Pfarrern gehabt, die meinen Weg kreuzten. So auch mit dem, der mich konfirmiert hat. Er war ein kranker, leidender, duldender, aufmerksamer, sehr gebildeter, mittlerweile sehr beeinträchtigter Mann, der mein Interesse für Dostojewski, Borges und De Saint Exupery weckte. Autoren, die mir alle bis heute viel bedeuten. Dass er meinen Erfahrungsdurst bemerkte, glaube ich nicht, aber mit seiner Widmung machte er mir eines der schönsten Geschenke, die ich je erhalten habe.


Also doch keine Konformation, sondern augenzwinkernde Warnung

Gebraucht hätte ich damals aber dringend Gehlens "Moral und Hypermoral". Aber auf diese Idee kam keine der Schlafmützen, aus denen meine familiäre Entourage bestand. Die waren so lichtjahreweit fern von allem, was mir heilig war, dass sie gedacht hätten, ich wäre von Gehlens Buch überfordert, "noch zu klein dafür", selbst wenn sie unwahrscheinlicherweise auf den Gedanken gekommen wären, dass ich dieses Buch unbedingt lesen sollte. All das, was mich damals quälte, als ich indoktrinierenden Lehrern und bornierten Verwandten ausgesetzt war, die mich mit ihren gesinnungsmissionarischen, engstirnigen Absichten bedrängten und beide an den Armen in entgegengesetzte Richtungen zerrten, beantwortete der kluge, gewissenhafte Gehlen, und ich wusste es nicht.


Für Franz Werfels geniales, prophetisches Buch "Stern der Ungeborenen" wäre ich damals wirklich noch zu jung gewesen. Es hätte mich in seiner Tragweite tatsächlich überfordert.


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