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Samstag, 11. September 2021

Überfordert

Ob eine Nation als in sich gesund und nach außen als wettbewerbsfähig gelten kann, das bemißt sich – anders als nach sozial-demokratisch verordnetem Menschenbild – durchaus physisch. Leben, auch wirtschaftliches, politisches, kulturelles, bedarf der Vitalität.

Symptomatisch, wenn sich beispielsweise an der mecklenburgisch-vorpommerschen Polizei-Fachschule in Güstrow die Durchfallquote in einem moderaten Sporttest regelmäßig erhöht. Gerade wies der Neubrandenburger NORDKURIER genau darauf hin.

Mittlerweile, so der Bericht, verdoppelt sich die Zahl der unfähigen Kandidaten. Fielen 2013 noch 11 Prozent sportlich durch, sind es nunmehr bereits 21, obwohl besteht, wer 25 von 70 Punkten erreicht, also 36 Prozent.

Zu absolvieren sind eine Hindernisbahn mit Slalomlauf, das Forcieren eines Schrägkastens, Rolle vorwärts und rückwärts, das Durchkriechen und Überspringen zweier Turnhockern und dreier Kastenteile sowie das Überwinden beider Holme eines Stufenbarrens. Ferner wären jeweils nach Zeit ein Wendelauf von vierzig Metern zu bewältigen und Klimmzüge, diese allerdings erleichtert nur im Schräghang.

Das schaffen viele nicht. Keine achtzehn Klimmzüge in Rückenlage in zwanzig Sekunden, wenn die Beine noch auf dem Boden sind. So die Mindestanforderung für eine befriedigende Note. Ebensowenig den vierzig Meter Pendellauf zwischen zwei Hockern in 10,3 Sekunden oder 12,90 Meter im Dreierhopp und keine vier Runden Hindernis-Parcours in 2:57 Minuten.

Um mal besser von den gleichfalls zu absolvierenden Testverfahren – einem Diktat mit "hoher Versagerquote" (Ostsee-Zeitung) und je einem kognitiven und psychologischen Test – zu schweigen:

Eine Nation, deren Jugend nicht die Knochen hat, einen durchschnittlichen Sporttest zu bewältigen, sollte sich nicht allein um Athletik, sondern um ihre Kultur Sorgen machen. Eingedenk dessen, daß zu dem genannten Test die vergleichsweise Fitteren auflaufen, die mindestens von sich ja meinen, sie hätten was drauf.

Sport ist eben nicht nur Spiel, sondern der letztverbliebene Bereich, in dem man Ursprungserfahrungen sammelt, die anderswo nicht mehr möglich sind, weil straffe Herausforderungen schnell als ungerecht und diskriminierend gelten. Sich anstrengen, ja sogar aktiv schinden, an die eigenen Grenzen und darüber hinausgehen, erleben, daß mehr möglich ist, als man annahm, und daran auch innerlich und charakterlich wachsen, solche Ausbildung von Haltung erscheint bereits anachronistisch.

Der Jugend-Koordinator des Handballklubs Empor Rostock, Tristan Staat, auf die Frage, ob der Polizeisporttest zu schwer wäre:

"Die sportmotorischen Tests richten sich an die breite Masse. Mit regelmäßigem Training über einen Zeitraum von zwei Monaten sollte einem Bestehen nichts im Wege stehen." Wichtig wären eben "Fleiß und Disziplin". Das jedoch sind eben die Begriffe, die man in der sogenannten Bildungsforschung und in kultusministeriellen Texten vergeblich sucht.

Andere Bundesländer weichten die Normen für Polizisten längst auf: In Sachsen-Anhalt reicht einfach die Vorlage des Deutschen Sportabzeichens in Silber. Für die Bundespolizei wird gar kein echter Krafttest gefordert; es reichen ein "Ausdauerlauf" von zwölf Minuten, ein Hindernisparcours und ein Pendellauf.

Wer im Kraftraum die schweren Eisen und sich selbst gern ein paar Bahnrunden mehr bewegt, bewegt sein eigenes Leben. Sport bildet – mehr als bloß physisch – gleichfalls intensiv mental aus. Wer über körperliche Ausdauer verfügt, der vermag gleichfalls in anderen Anstrengungsbereichen länger und tiefer durchzuatmen, ist von Widrigkeiten nicht gleich gestreßt und überfordert und weist die so häufig beschworene, weil eben vielfach vermißte Resilienz nach; er ist sicher positioniert und widersteht.

Ja, er ist wehrfähig, was einschließt, Schutzbedürftigen helfen zu können. Die Abbrecherquote innerhalb der Ausbildung zur Bundeswehr erscheint gleichfalls immens hoch; jeder Fünfte hält nicht durch, u. a. wegen der moderaten Anstrengungen in der längst abgerüsteten physischen Ausbildung.

Andererseits kann Sport zu einem kontemplativen Weg werden: Still in ruhiger Anstrengung allein unterwegs sein, im Zwiegespräch mit sich selbst, zur Klärung der Unruhe in regelmäßigen Bewegung und vor allem im Atmen erkraften. Oder im heilsamen Wagnis der Leere.

Ebenso wie in allen anderen Schulfächern sind die Anforderungen im Sportunterricht innerhalb der letzten Jahrzehnte stetig reduziert und proportional dazu die Bewertungen inflationiert worden.

Gerade in der Halle und auf dem Platz gilt nur noch: Versuche mal locker, was dir möglich ist. Geht's nicht, wirfst du drüben an der Basketballanlage mal ein paar Körbe. Hauptsache, du bewegst dich überhaupt noch, denn schon damit liegst du weit vorn. Etwas männliche Ansprache, Puls und Tonus fordernd, motivierend gemeint, ruft schnell die Kritik auf, es würde überfordert und „gedrillt“.

Dabei kommt es überhaupt darauf an, die allzu flachen Amplituden des Leidenschaftsmangels öfter mal auszacken zu lassen. Wo andauernd zugereicht wird, wo dem selbst Passiven Unterhaltung gratis über die Apps und Konsolen geliefert wird, wo er – wie im Unterricht – nur noch mißmutiger Rezipient ist, der alles, was ihn selbst aus dem Sessel reißen will, uncool findet, da degenerieren Form und Haltung. In mehrerlei Hinsicht verkommt der Mensch und wird amorph.

Adipositas ist sichtlich das Kennzeichen unserer Gesellschaft und Folge ihrer pädagogischen und Sozialbegriffe. Deutschland verliert nicht nur bei Leichtathletikwettkämpfen gegenüber Nationen, die nach wie vor auf Mumm und harte Trainingseinheiten setzen. Es sollte eben gerade nicht jeder dort abgeholt werden, wo er steht, wie es alle Banalpädagogik seit Jahrzehnten stereotyp meint; nein, er sollte befähigt werden, selbst kräftigen Schritts aufzuschließen und sich beweisen, daß er es kann, zugunsten des eigenen Selbstwertgefühls. Keine Nachteilsausgleiche, sondern die eigenen Nachteile selbst ausgleichen und so eine biographisch notwendige Aufgabe lösen.

Es braucht keine Heldentaten. Eine erste erfrischende Herausforderung wäre schon angenommen, wenn man jugendlich darauf verzichtete, im Fond von Papas SUV chauffiert zu werden oder an der Maskenparaden im Nahverkehr teilzunehmen. Stattdessen mit dem Fahrrad frei durch die Stadt oder Landschaft surren!

Ja, die Fitneß-Studios laufen – allerdings eher aus individualistischen, nicht selten reduziert ästhetischen oder gar narzißtischen Motiven. Verständlich, aber mit einem kollektiv oder gesellschaftlich überfälligen Ziel, im umfassenden Sinne kräftiger und leistungsfähiger zu werden, hat das weniger zu tun. Obwohl Ästhetik schon mal vor Ethik gedacht werden darf.

Sportlehrer registrieren die Defizite, selbst das Ministerium weiß darum. Interessant, wie darauf reagiert wurde, mit einer „Handreichung zur Ermittlung und Bewertung der allgemeinen sportmotorischen Leistungsfähigkeit“. Die darin empfohlenen Übungen sind intensiv, sogar anspruchsvoll und hinsichtlich der Erwartungsmaßstäbe angemessen. Nur gehört dazu: Anstrengung, Training, Selbstüberwindung. Als Sportlehrer hatte ich sie an einer Rügener Schule einzuüben und übte mit. Zur Nachahmung empfohlen.   Heino Bosselmann


 

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