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Samstag, 16. September 2023

Meine persönliche Kulturgeschichte seit 1963


Ich habe die Rolling Stones immer gehasst. Deswegen kann ich natürlich nur empathisch nachverfolgen, was Olaf Prüfer im Gespräch mit dem klugen Bernhard Lassahn erzählt. Nachempfinden kann ich es nicht bzw. möchte ich es nicht. Was ich gegenüber den Stones empfand, war Hass auf den ersten Blick, und daran änderte sich auch nie etwas. Ich habe die Stones immer als Ausgeburt der Hölle empfunden und glaube immer noch, dass es sich bei dieser Empfindung um Wahr-nehmung handelt. Aber ich habe ihr Talent anerkannt. Es hat ja keinen Sinn, seinen Feinden die Begabung abzusprechen. Wohl aber hat es Sinn, zu bedauern, dass man begabte Feinde hat, denn Begabung ist die stärkste Waffe.

Was Olaf Prüfer erzählt, ist hörenswert. Was meine Aversion gegen die Stones betrifft, komme ich zu dem Schluss: Non tutto il male viene per nuocere, nicht alles Übel kommt, um zu schaden. Übrigens war, was ich für die Beatles empfand, Liebe auf den ersten Blick!! Dieser erste Blick blieb sogar unvergesslich! Er gehört überdies zu den unerklärlichen Erfahrungen, die ich als das wahre Mysterium des Lebens auffasse. Ich war 1963 nur 6 Jahre alt, als gegen 18 Uhr meine Mutter den Tisch für das Abendbrot deckte und im Fernsehen die Nachrichten liefen. Plötzlich war von einem Konzert der Beatles die Rede, sekundenlang sah man die Bühne, hörte Gitarren und Schlagzeug und "Yeah, yeah, yeah" und ich bekam eine Gänsehaut, schaute meine Mutter an, die gerade etwas, vielleicht Brot und Butter auf den Tisch stellte und keinerlei Notiz von dem nahm, was im Fernsehen gerade in den Nachrichten gesagt wurde, und ich spürte, dass diese Musikkapelle absolut nichts mit meiner Mutter zu tun hatte, aber sehr viel mit mir; ich spürte es nicht nur, ich wusste es mit absoluter Gewissheit. Das Ganze dauerte nicht länger als allerhöchstens 7 Sekunden. Und das ist das Unerklärliche. Wie kann ein Kind von 6 Jahren, das über eine Beat-Band nichts anderes weiß als einige Sekunden Klang, diese Gewissheit haben, die sich dann über die Jahre und Jahrzehnte immer wieder als zutreffend erweist?? Die einzige Erklärung ist in meinen Augen die Gestaltwahrnehmung, das, worauf umgangssprachlich mit dem Wort "Bauchgefühl" Bezug genommen wird. Ich hatte damals aber kein vages Bauchgefühl, sondern eine Gänsehaut und die Wahrnehmung äußerster Bedeutsamkeit, und ich irrte mich nicht, es handelte sich quasi um eine Art "absolutes Gehör", nicht für akustische Frequenzen, sondern für musikalische Semantik und Körpersprache und zwar im Sinne von existentieller, nicht erlernter, absoluter Semantik: so wie die Farbe Rot eben auch nicht einer Konvention folgend die wichtigste Signalfarbe ist, sondern die Konvention der Farbe Rot folgt, weil die Farbe des Blutes die wichtigste Signalfarbe ist, unabhängig von jeder Meinung und Konvention. Zum Thema Beatles höre man sich das Gespräch Lassahns mit Hans Scheuerlein an. 1969 war ich einmal bei einem sehr schönen Konzert von Udo Jürgens. Es war das erste Konzert meines Lebens. Udo Jürgens trat in mein Leben, weil meine Schwägerin alle seine Platten besaß und ihre Begeisterung für Udo Jürgens auf meinen Bruder abgefärbt hatte. Bei diesem Konzert spielte Udo Jürgens gegen Ende auch zwei Lieder der Beatles "Obladí, obladà" und "Hey Jude". Nach dem Konzert, im Stehen, kurz vor dem Verlassen des Konzertsaals, sagte mein großer Bruder "Das einzige, was langweilig war, waren diese Einlagen der Beatles". Er hasste die Beatles genauso, wie ich die Stones hasste, mit dem Unterschied, dass er nicht einmal ihre Begabung anerkennen wollte. Woher kam dieser Hass? Vieles spricht dafür, dass er die Engländer generell hasst (außer der Queen) und nicht nur die mit psychedelischen Anspielungen sanft provozierenden Beatles. Die Bee Gees liebte er, sei es, weil es Australier sind, sozusagen keine richtigen Engländer (die Engländer damals in Lübeck 1945, die "nicht mal Uhren hatten" waren wohl nicht mal teilweise Australier bzw. wenn, dann erst ab September, als Mutti, Achim und Mäusi nicht mehr dort waren), sei es, weil sie nicht romantisch genug waren, um mit den Hippies zu fraternisieren. Die Bee Gees hatten lange Haare, aber waren immer elegant und nie ausgefallen gekleidet. Für mich waren die Beatles die goldene Mitte zwischen den teuflischen Stones und den kleinbürgerlichen Bee Gees. Aber manche Kompositionen der Bee Gees liebe auch ich, von den Stones dagegen keine einzige.

Nun denn, kommen wir trotzdem zurück zu den Stones. Matusseks letzter Erfahrungsbericht erwähnt auch sie. Matussek gehört zu denen, die die Stones schon immer liebten und immer noch lieben. Es ist vielleicht ein Vorzug der frommen Katholiken (also der Katholiken, die nicht scheinheilig sind, sondern bedächtig), dass sie nicht zu dem Manichäismus neigen, der bei protestantisch sozialisierten Menschen (egal ob sie an Gott glauben oder nicht) häufiger anzutreffen ist. Jedenfalls sind auch Matusseks Reflexionen hörenswert, und sei es nur der vorbildlichen Aufrichtigkeit wegen. Aber es gibt mehr: Er ist ein unbeirrbarer Mann, der viel Erfahrung hat, ohne damit zu prahlen! Und somit das Gegenteil jener Großmäuler, die ihr Leben lang immer dieselbe Erfahrung machen, aber dennoch glauben, erfahren zu sein. Außerdem muss man seine Erzählung (die das Klügste ist, was ich bisher von ihm gehört habe) schon deshalb unbedingt anhören, weil sie ein prophetisches Zitat von Franz Werfel von 1945 enthält, das sich jeder Deutsche hinter die Ohren schreiben sollte. Allen Protestanten, die - darin den Juden ähnelnd! - immer so tun, als könnten sie kein Wässerchen trüben, sei an dieser Stelle Chestertons Essay "Orthodoxie" anempfohlen.



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