Stationen

Montag, 20. April 2020

Zu ende gedacht

Am 7. Mai 1982 notierte Johannes Gross in sein Tagebuch:
"Die Juden haben recht und schlecht unter Moslems wie unter Christen überlebt. Das ist das Mirakel des Hauses Israel. Wenn seine Geschichte einmal sub specie aeternitatis geschrieben ist, wird nicht die Verfolgung hervorragen, sondern die Duldung, die dem Volk zuteil wurde, das allen anderen sagte, daß es das auserwählte sei."
An diese Worte entsann ich mich während der Lektüre des Romans "Jakob der Knecht" von Isaac Bashevis Singer. Er handelt in der Zeit des Chmelnyzkyj-Aufstands, eines gegen Polen-Litauen gerichteter Feldzugs der Saporoger Kosaken unter der Führung von Bohdan Chmelnyzkyi, der im letzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges anhub und bis 1657 dauerte. In der Geschichtsschreibung gilt er als Befreiungskrieg des ukrainischen und des weißrussischen Volkes gegen die Willkür des polnischen Landadels. Auf ihrem Vormarsch Richtung Westen richteten die Kosaken zahlreiche Massaker an, bei denen neben Polen und katholischen Geistlichen vor allem tausende Juden abgeschlachtet wurden; die Schätzungen reichen von 18.000 bis zu 40.000 jüdischen Opfern.
Angesichts der entsetzlichen Abfolge von Pogromen und Vertreibungen, die sich wie ein Generalbass durch die jüdische Geschichte zieht, mag die Bemerkung von Gross degoutant wirken. Allerdings: Was ist die Geschichte anderes als eine deprimierende Serie von Mord, Krieg, Massaker, Verfolgung und Ausmerzung?
Als Chmelnyzkyi seinen Zug begann, lagen die deutschen Lande in Trümmern und jeder dritte Einwohner war der Soldateska oder dem Hunger zum Opfer gefallen. Zuvor hatten die Spanier Südamerika und davor die Mongolen die slawische und die muslimische Welt verwüstet und ganze Städte ausgemordet; davor waren ihrerseits die Muslime unter anderem mordend in Nordindien eingefallen und und und. Zum anderen darf man nicht vergessen, wie mächtig Gott im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit war, Gotteslästerung und Abfall von Gott galten als todeswürdigere Verbrechen als etwa Kinds- oder sogar Königsmord.
Wenn allerdings sub specie aeternitatis das Besondere an den gojischen Völkern sein soll, dass sie jenes Volk unter sich duldeten, welches von sich sagte, es sei das auserwählte, stellt sich automatisch die Frage nach der umgekehrten Perspektive: Wie brachten die Juden es fertig, das durchzuhalten – trotz des ständigen Blutzolls, der seinen grausigen Höhepunkt in der Shoa erreichte, welche sich aber aus der Gesamtschau auf die Geschichte der Kinder Israels in die Pogrome und Massaker davor einfügte? Woher nahmen sie ihr staunenswertes Selbst- und Sonderbewusstsein?
Vor zwanzig Jahren lösten solche Gedanken antisemitische Empfindungen in mir aus (doch, doch, anti-semitisch ist korrekt, und zwar bezieht sich dieser Terminus nicht auf die semitischen Völker, sondern auf die Nachfahren Sems gemäß Noahs Ruf aus 1 Mose 9,26: "Gepriesen sei Jahwe, der Gott Sems!"). Das heißt, ich stellte mich auf die Seite der Vielen gegen die anmaßenden Wenigen. Gott hat es mir vergeben, wie er mir auch verziehen hat, dass ich nicht an ihn glaube, denn aus Seiner Warte ist jeder Atheist ein köstlicher Witzbold. Auch ich habe mir verziehen, denn ich empfand bisweilen antisemitisch zu einer Zeit, als man damit keinen Blumentopf hätte gewinnen können. Inzwischen sehe ich die Sache mit den Juden andersherum, unabhängig davon, ob nun eine Korrelation oder Kausalität dazu besteht, dass Antisemitismus neuerdings wieder in Mode kommt.

Was liegt an den Vielen? Was gibt es Unangenehmeres als die Majorität? Ich will meine verbleibenden Jahre lang nurmehr noch das Besondere, das Distinkte, das Exklusive preisen. Merke Mark Twain: Es stimmt nicht, dass wir arrogant sind, wir wollen nur unter uns bleiben. Oder, in diesem Zusammenhang nicht unpikant, merke Ernst Nolte: Wenn Hitler, einem Zeugnis von Goebbels zufolge, gesagt hat, der Jude sei das "absolut intellektuelle Wesen", dann möge sich jeder Intellektuelle darüber im klaren sein, dass er "in den Juden sein eigenstes Wesen verworfen sieht" ("Streitpunkte", Berlin 1993, S. 401).
Mit einem Satz: Der Gedanke der Erwählung ist mir hochsympathisch, so wenig er schaumgeboren und so sehr er getrübt ist durch seine Herkunft aus dem Geiste des Ressentiments, der schöpferischen Kompensation, der jenes kleine Völkchen zusammenschmiedete und transzendent werden ließ, das als ein Spielball zwischen Assyrer, Ägypter, Hethiter, Babylonier und später Römer geraten war und zuletzt in alle Winde unter die Völker zerstreut wurde. Aber im Ghetto bewährte sich die Treue Israels über Generationen und alle Pogrome hinweg. Heute haben die Juden ihr Land, die "religiöse Wetterecke des Planeten" (Peter Sloterdijk), zurückgewonnen, nachdem sie den fürchterlichsten Anschlag auf ihre Existenz überstanden haben, und Atomraketen stehen zu dessen Schutz bereit. Wer nach Beweisen für Gottes Pläne sucht, kann durchaus fündig werden.

Ich bin ein bisschen abgeschweift, aber was wäre dem Leben angemessener als die Abschweifung? Ich las also Singers Roman, und ich las ihn atemlos in einem Zug, die Nacht hindurch bis in den Morgen, obwohl er schrecklich ist und der Leser das Umwenden jeder Seite zu fürchten beginnt, ungefähr wie man sich fürchtet, in den dunklen Gassen einer verrufenen Gegend um die jeweils nächste Ecke zu biegen. Es ist eine Liebesgeschichte weit über den Tod hinaus, und es ist der Versuch einer Antwort auf die Frage, wie ein Mensch alle Schrecken überstehen kann, ohne an sich und seinem Glauben irre zu werden.
"Was ist das Leben anderes als ein Tanz über Gräbern?", singt im Roman der Badchan, der Unterhalter der Hochzeitsgesellschaften. Dieses Bewusstsein ist meiner und vor allem der Folgegeneration abhanden gekommen. Die Pointe bei denjenigen, die sich "Friday for Future" auf die Plakate schreiben (eine eigene Sprache besitzen sie nicht mehr; man merkt es auch, wenn sie deutsch reden), besteht darin, dass niemand eine Zukunft haben wird, der keine Vergangenheit und keine Ehrfurcht vor denjenigen kennt, auf deren Dasein sein Leben fußt; es dauert freilich eine Weile, bis diese Lektion verabfolgt sein wird. Die Pointe bei den Kindern Israels wiederum besteht darin, dass sie heute in den Augen vieler Globalisierer und one-world-Agenten wieder wie die verstockten, bekehrungsunwilligen Ghettojuden in den Augen der Christen dastehen.

Das führt mich zur nächsten naheliegenden Abschweifung. Vergangene Woche schaute ich mir den Netflix-Vierteiler "Unorthodox" nach dem autobiographischen Bestseller von Deborah Feldman an. Der Film ist nicht so übel, wie man bei einer deutschen Produktion befürchten muss, was unter anderem daran liegt, dass die drei Hauptrollen und auch einige Nebenrollen mit jüdischen Schauspielern besetzt sind. Feldman schildert in ihrem Buch, wie sie aus dem geschlossenen ultraorthodoxen New Yorker Judentum gewissermaßen desertiert ist, und sie beschreibt dieses Milieu ausführlich, seine Glaubensstrenge, den strikt durchorganisierten Alltag, die Abschottung, den halb erwünschten, halb erzwungenen Kinderreichtum, die skurrilen Bräuche und rigiden Vorschriften.
Orthodoxe Jüdinnen scheren sich beispielsweise das Haar kurz und tragen Perücken, analog zum Kopftuch der Musliminnen. Sie suchen sich ihr Ehegespons nicht aus, sondern werden verheiratet, nachdem sie ihren künftigen Partner in einem zwanzigminütigen kontrollierten Vier-Augen-Gespräch kennenlernen durften (ich habe in einem Jerusalemer Hotel einmal einer solchen Heiratsanbahnung hospitieren können). Ihre Aufgabe sind der Haushalt und das Gebären möglichst vieler Kinder. Fremden Männern dürfen sie nicht in die Augen schauen, so wie umgekehrt der fromme Jude auch nicht den Schicksen in die Augen sehen soll. Kontakte außerhalb ihres Soziotops sind nicht erwünscht, den Männern aber bei der Geschäftsausübung gestattet. Am Shabbath dürfen fromme Juden keinen Handschlag verrichten (im Hotellift warten sie, bis ein Goj oder ein weniger Orthodoxer kommt und den Etagenknopf drückt). Die penible Einhaltung der Speisevorschriften nimmt einen erheblichen Teil des Tages in Anspruch. Für Männer ist das tägliche Studium von Tanach und Talmud Gebot. Es gibt in diesen Familien kein Internet, kein TV, keine weltlichen Bücher oder Künste. Die Ähnlichkeiten mit frommen Moslems sind evident. Derjenige, der dafür empfänglich ist, begreift den Groll der Kopierer aufs Original.
Wer aus diesem selbstgewählten Ghetto ausbricht und obendrein noch aus dem Nähkästchen plaudert – Feldman schildert zum Beispiel ausführlich die prüderiebedingten Schwierigkeiten, die sie und ihr sowohl im Buch als auch im Film überaus sympathischer Ehemann monatelang am Vollzug der Ehe hinderten –, ist ein Verräter, lädt Schande auf die Familie und wird verstoßen. Der Leser oder Zuschauer hat nun die Option, sich mit einer von beiden Seiten zu identifizieren.
Die Filmversion unterscheidet sich deutlich vom Buch. Das Kind, das die Hauptfigur im Buch bereits zur Welt gebracht hat, trägt Esther "Esty" Shapiro dort noch im Bauch. Sie flieht im Film von Brooklyn nach Berlin, wo sie sich einer Gruppe von Musikstudenten anschließt und schließlich eine Aufnahmeprüfung als Pianistin anstrebt – sie hatte in New York bei einer Mieterin ihrer Familie Klavierunterricht genommen –; im Original kommen weder Berlin noch die Musik vor. Estys Mann Yakov und dessen Cousin Moische folgen ihr nach Berlin, um sie, notfalls mit Gewalt, zurückzuholen.
Dass der Film ein deutsches Copyright trägt, offenbart der ihn durchziehende Berlin-Kitsch. Der "Reichshauptslum" (Don Alphonso) erscheint hier als ein emotional gut durchwärmtes, hypertolerantes, liebenswürdiges Biotop hilfsbereiter Kosmopoliten. Ein besseres Auffangnetz als die multikulturelle und sexuell diverse Clique an der Musikhochschule kann sich eine gestrandete religiöse Renegatin auf der Suche nach individueller Freizügigkeit nicht wünschen, auch wenn ihr eine Studentin, eine Israelin übrigens, nach dem ersten Vorspiel am Pianoforte unverblümt zu verstehen gibt, was für jeden auch nur viertelwegs Kundigen ohnehin klar ist, nämlich dass sie nicht die geringste Chance habe, die Aufnahmeprüfung zu bestehen.
Ich sagte, man stehe nun als Zuschauer vor der Option, für eine von beiden Seiten Partei zu ergreifen, was anfangs, in der Welt der Orthodoxen, relativ leicht gelingt, denn man versteht Esthers Fluchtreflex nur zu gut.
Doch je länger die Handlung in Berlin spielt, desto stärker wurde zumindest bei mir die Äquidistanz. Das hängt einerseits damit zusammen, dass mir Yakow und Moishe, die beiden Verfolger, weit sympathischer sind als Esther und ihre Studententruppe, denn sie stehen für etwas, so sehr man es auch ablehnen mag, während die anderen bloß Laub im Wind sind.
Spätestens indes, wenn die beiden auf der Suche nach Yakows Frau die Nachtclubs und Techno-Schuppen durchstreifen, wo gesichtsgepiercte, tätowierte, in trendigen Lumpen umherlaufende, Drogen einwerfende freie Menschen feiern und ein Mannweibchen mit halb rasiertem Schädel die Platten zum Tanz auflegt, verschiebt sich die Perspektive noch einmal: Es mag beides abstoßend sein, aber das eine ist es noch, das andere längst, das eine hat Jahrhunderte überdauert, das andere nicht einmal ein Menschenalter, und ich will um Himmelswillen nicht entscheiden müssen, was abscheulicher ist...  MK

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