Am 7. Mai 1982 notierte Johannes Gross in sein Tagebuch:
"Die
Juden haben recht und schlecht unter Moslems wie unter Christen
überlebt. Das ist das Mirakel des Hauses Israel. Wenn seine Geschichte
einmal sub specie aeternitatis geschrieben ist, wird nicht die
Verfolgung hervorragen, sondern die Duldung, die dem Volk zuteil wurde,
das allen anderen sagte, daß es das auserwählte sei."
An diese
Worte entsann ich mich während der Lektüre des Romans "Jakob der Knecht"
von Isaac Bashevis Singer. Er handelt in der Zeit des
Chmelnyzkyj-Aufstands, eines gegen Polen-Litauen gerichteter Feldzugs
der Saporoger Kosaken unter der Führung von Bohdan Chmelnyzkyi, der im
letzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges anhub und bis 1657 dauerte. In
der Geschichtsschreibung gilt er als Befreiungskrieg des ukrainischen
und des weißrussischen Volkes gegen die Willkür des polnischen
Landadels. Auf ihrem Vormarsch Richtung Westen richteten die Kosaken
zahlreiche Massaker an, bei denen neben Polen und katholischen
Geistlichen vor allem tausende Juden abgeschlachtet wurden; die
Schätzungen reichen von 18.000 bis zu 40.000 jüdischen Opfern.
Angesichts
der entsetzlichen Abfolge von Pogromen und Vertreibungen, die sich wie
ein Generalbass durch die jüdische Geschichte zieht, mag die Bemerkung
von Gross degoutant wirken. Allerdings: Was ist die Geschichte anderes
als eine deprimierende Serie von Mord, Krieg, Massaker, Verfolgung und
Ausmerzung?
Als Chmelnyzkyi seinen Zug begann, lagen die deutschen Lande
in Trümmern und jeder dritte Einwohner war der Soldateska oder dem
Hunger zum Opfer gefallen. Zuvor hatten die Spanier Südamerika und davor
die Mongolen die slawische und die muslimische Welt verwüstet und ganze
Städte ausgemordet; davor waren ihrerseits die Muslime unter anderem
mordend in Nordindien eingefallen und und und. Zum anderen darf man
nicht vergessen, wie mächtig Gott im Mittelalter und noch in der frühen
Neuzeit war, Gotteslästerung und Abfall von Gott galten als
todeswürdigere Verbrechen als etwa Kinds- oder sogar Königsmord.
Wenn
allerdings sub specie aeternitatis das
Besondere an den gojischen Völkern sein soll, dass sie jenes Volk unter
sich duldeten, welches von sich sagte, es sei das auserwählte, stellt
sich automatisch die Frage nach der umgekehrten Perspektive: Wie
brachten die Juden es fertig, das durchzuhalten – trotz des ständigen
Blutzolls, der seinen grausigen Höhepunkt in der Shoa erreichte, welche
sich aber aus der Gesamtschau auf die Geschichte der Kinder Israels in
die Pogrome und Massaker davor einfügte? Woher nahmen sie ihr
staunenswertes Selbst- und Sonderbewusstsein?
Vor zwanzig Jahren lösten solche Gedanken antisemitische Empfindungen in mir aus (doch, doch, anti-semitisch
ist korrekt, und zwar bezieht sich dieser Terminus nicht auf die
semitischen Völker, sondern auf die Nachfahren Sems gemäß Noahs Ruf aus 1
Mose 9,26: "Gepriesen sei Jahwe, der Gott Sems!"). Das heißt, ich
stellte mich auf die Seite der Vielen gegen die anmaßenden Wenigen. Gott
hat es mir vergeben, wie er mir auch verziehen hat, dass ich nicht an
ihn glaube, denn aus Seiner Warte ist jeder Atheist ein köstlicher
Witzbold. Auch ich habe mir verziehen, denn ich empfand bisweilen
antisemitisch zu einer Zeit, als man damit keinen Blumentopf hätte
gewinnen können. Inzwischen sehe ich die Sache mit den Juden
andersherum, unabhängig davon, ob nun eine Korrelation oder Kausalität
dazu besteht, dass Antisemitismus neuerdings wieder in Mode kommt.
Was liegt an den Vielen? Was gibt es Unangenehmeres als die Majorität?
Ich will meine verbleibenden Jahre lang nurmehr noch das Besondere, das
Distinkte, das Exklusive preisen. Merke Mark Twain: Es stimmt nicht,
dass wir arrogant sind, wir wollen nur unter uns bleiben. Oder, in
diesem Zusammenhang nicht unpikant, merke Ernst Nolte: Wenn Hitler,
einem Zeugnis von Goebbels zufolge, gesagt hat, der Jude sei das
"absolut intellektuelle Wesen", dann möge sich jeder Intellektuelle
darüber im klaren sein, dass er "in den Juden sein eigenstes Wesen
verworfen sieht" ("Streitpunkte", Berlin 1993, S. 401).
Mit einem
Satz: Der Gedanke der Erwählung ist mir hochsympathisch, so wenig er
schaumgeboren und so sehr er getrübt ist durch seine Herkunft aus dem
Geiste des Ressentiments, der schöpferischen Kompensation, der jenes
kleine Völkchen zusammenschmiedete und transzendent werden ließ, das als
ein Spielball zwischen Assyrer, Ägypter, Hethiter, Babylonier und
später Römer geraten war und zuletzt in alle Winde unter die Völker
zerstreut wurde. Aber im Ghetto bewährte sich die Treue Israels über
Generationen und alle Pogrome hinweg. Heute haben die Juden ihr Land,
die "religiöse Wetterecke des Planeten" (Peter Sloterdijk),
zurückgewonnen, nachdem sie den fürchterlichsten Anschlag auf ihre
Existenz überstanden haben, und Atomraketen stehen zu dessen Schutz
bereit. Wer nach Beweisen für Gottes Pläne sucht, kann durchaus fündig
werden.
Ich bin ein bisschen abgeschweift, aber was wäre dem Leben
angemessener als die Abschweifung? Ich las also Singers Roman, und ich
las ihn atemlos in einem Zug, die Nacht hindurch bis in den Morgen,
obwohl er schrecklich ist und der Leser das Umwenden jeder Seite zu
fürchten beginnt, ungefähr wie man sich fürchtet, in den dunklen Gassen
einer verrufenen Gegend um die jeweils nächste Ecke zu biegen. Es ist
eine Liebesgeschichte weit über den Tod hinaus, und es ist der Versuch
einer Antwort auf die Frage, wie ein Mensch alle Schrecken überstehen
kann, ohne an sich und seinem Glauben irre zu werden.
"Was ist das Leben anderes als ein Tanz über Gräbern?", singt im Roman der Badchan,
der Unterhalter der Hochzeitsgesellschaften. Dieses Bewusstsein ist
meiner und vor allem der Folgegeneration abhanden gekommen. Die Pointe
bei denjenigen, die sich "Friday for Future" auf die Plakate schreiben
(eine eigene Sprache besitzen sie nicht mehr; man merkt es auch, wenn
sie deutsch reden), besteht darin, dass niemand eine Zukunft haben wird,
der keine Vergangenheit und keine Ehrfurcht vor denjenigen kennt, auf
deren Dasein sein Leben fußt; es dauert freilich eine Weile, bis diese
Lektion verabfolgt sein wird. Die Pointe bei den Kindern Israels
wiederum besteht darin, dass sie heute in den Augen vieler Globalisierer
und one-world-Agenten wieder wie die verstockten, bekehrungsunwilligen Ghettojuden in den Augen der Christen dastehen.
Das
führt mich zur nächsten naheliegenden Abschweifung. Vergangene Woche
schaute ich mir den Netflix-Vierteiler "Unorthodox" nach dem
autobiographischen Bestseller von Deborah Feldman an. Der Film ist nicht
so übel, wie man bei einer deutschen Produktion befürchten muss, was
unter anderem daran liegt, dass die drei Hauptrollen und auch einige
Nebenrollen mit jüdischen Schauspielern besetzt sind. Feldman schildert
in ihrem Buch, wie sie aus dem geschlossenen ultraorthodoxen New Yorker
Judentum gewissermaßen desertiert ist, und sie beschreibt dieses Milieu
ausführlich, seine Glaubensstrenge, den strikt durchorganisierten
Alltag, die Abschottung, den halb erwünschten, halb erzwungenen
Kinderreichtum, die skurrilen Bräuche und rigiden Vorschriften.
Orthodoxe
Jüdinnen scheren sich beispielsweise das Haar kurz und tragen Perücken,
analog zum Kopftuch der Musliminnen. Sie suchen sich ihr Ehegespons
nicht aus, sondern werden verheiratet, nachdem sie ihren künftigen
Partner in einem zwanzigminütigen kontrollierten Vier-Augen-Gespräch
kennenlernen durften (ich habe in einem Jerusalemer Hotel einmal einer
solchen Heiratsanbahnung hospitieren können). Ihre Aufgabe sind der
Haushalt und das Gebären möglichst vieler Kinder. Fremden Männern dürfen
sie nicht in die Augen schauen, so wie umgekehrt der fromme Jude auch
nicht den Schicksen in die Augen sehen soll. Kontakte außerhalb ihres
Soziotops sind nicht erwünscht, den Männern aber bei der
Geschäftsausübung gestattet. Am Shabbath dürfen fromme Juden keinen
Handschlag verrichten (im Hotellift warten sie, bis ein Goj oder ein
weniger Orthodoxer kommt und den Etagenknopf drückt). Die penible
Einhaltung der Speisevorschriften nimmt einen erheblichen Teil des Tages
in Anspruch. Für Männer ist das tägliche Studium von Tanach und Talmud
Gebot. Es gibt in diesen Familien kein Internet, kein TV, keine
weltlichen Bücher oder Künste. Die Ähnlichkeiten mit frommen Moslems
sind evident. Derjenige, der dafür empfänglich ist, begreift den Groll
der Kopierer aufs Original.
Wer aus diesem selbstgewählten
Ghetto ausbricht und obendrein noch aus dem Nähkästchen plaudert –
Feldman schildert zum Beispiel ausführlich die prüderiebedingten
Schwierigkeiten, die sie und ihr sowohl im Buch als auch im Film überaus
sympathischer Ehemann monatelang am Vollzug der Ehe hinderten –, ist
ein Verräter, lädt Schande auf die Familie und wird verstoßen. Der Leser
oder Zuschauer hat nun die Option, sich mit einer von beiden Seiten zu
identifizieren.
Die Filmversion unterscheidet sich deutlich vom
Buch. Das Kind, das die Hauptfigur im Buch bereits zur Welt gebracht
hat, trägt Esther "Esty" Shapiro dort noch im Bauch. Sie flieht im Film
von Brooklyn nach Berlin, wo sie sich einer Gruppe von Musikstudenten
anschließt und schließlich eine Aufnahmeprüfung als Pianistin anstrebt –
sie hatte in New York bei einer Mieterin ihrer Familie
Klavierunterricht genommen –; im Original kommen weder Berlin noch die
Musik vor. Estys Mann Yakov und dessen Cousin Moische folgen ihr nach
Berlin, um sie, notfalls mit Gewalt, zurückzuholen.
Dass der Film
ein deutsches Copyright trägt, offenbart der ihn durchziehende
Berlin-Kitsch. Der "Reichshauptslum" (Don Alphonso) erscheint hier als
ein emotional gut durchwärmtes, hypertolerantes, liebenswürdiges Biotop
hilfsbereiter Kosmopoliten. Ein besseres Auffangnetz als die
multikulturelle und sexuell diverse Clique an der Musikhochschule kann
sich eine gestrandete religiöse Renegatin auf der Suche nach
individueller Freizügigkeit nicht wünschen, auch wenn ihr eine
Studentin, eine Israelin übrigens, nach dem ersten Vorspiel am
Pianoforte unverblümt zu verstehen gibt, was für jeden auch nur
viertelwegs Kundigen ohnehin klar ist, nämlich dass sie nicht die
geringste Chance habe, die Aufnahmeprüfung zu bestehen.
Ich sagte,
man stehe nun als Zuschauer vor der Option, für eine von beiden Seiten
Partei zu ergreifen, was anfangs, in der Welt der Orthodoxen, relativ
leicht gelingt, denn man versteht Esthers Fluchtreflex nur zu gut.
Doch
je länger die Handlung in Berlin spielt, desto stärker wurde zumindest
bei mir die Äquidistanz. Das hängt einerseits damit zusammen, dass mir
Yakow und Moishe, die beiden Verfolger, weit sympathischer sind als
Esther und ihre Studententruppe, denn sie stehen für etwas, so sehr man
es auch ablehnen mag, während die anderen bloß Laub im Wind sind.
Spätestens indes, wenn die beiden auf der Suche nach Yakows Frau die
Nachtclubs und Techno-Schuppen durchstreifen, wo gesichtsgepiercte,
tätowierte, in trendigen Lumpen umherlaufende, Drogen einwerfende freie
Menschen feiern und ein Mannweibchen mit halb rasiertem Schädel die
Platten zum Tanz auflegt, verschiebt sich die Perspektive noch einmal:
Es mag beides abstoßend sein, aber das eine ist es noch, das andere längst,
das eine hat Jahrhunderte überdauert, das andere nicht einmal ein
Menschenalter, und ich will um Himmelswillen nicht entscheiden müssen,
was abscheulicher ist... MK
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