Die Auseinandersetzung innerhalb der Linken, die sich an den Aussagen Sahra Wagenknechts entzündet, ist ein veritabler Kulturkampf. Wagenknecht kritisiert, daß die Linke – die mehr umfaßt als die Linkspartei – sich als Speerspitze gutsituierter, sich als Weltbürger gerierender Großstadt-Akademiker aufführt. Statt den schlecht bezahlten Service-Dienstleistern, den steuerzahlenden Durchschnittsbürgern, Handwerkern, Facharbeitern, der von Prekarisierung bedrohten Mittelschicht öffentlich Stimme und Gehör zu verschaffen, drangsaliert sie sie mit „Cancel Culture“ und identitätspolitischen Absurditäten. Damit ist Wagenknecht im linken Milieu zur regelrechten Haßfigur geworden.
Um die Tiefendimension dieses Kampfes zu erfassen, muß man sich die marxistischen Grundbegriffe von der Gesellschaft und der Geschichte vergegenwärtigen. Eine Gesellschaft konstituiert sich demnach als Basis-Überbau-Struktur. Die Basis betrifft die materielle Sphäre, sie besteht aus der Gesamtheit der ökonomischen und der Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln. Die Institutionen, Organisationen, die Kultur, das gesellschaftliche Bewußtsein bilden den Überbau.
Dieser besitzt eine relative Selbständigkeit, wird letztlich aber durch die Basis determiniert. Für die proletarischen Revolutionen im 20. Jahrhundert konnte die Eroberung der politischen Macht daher nur ein erster Schritt sein, dem die Überführung der Schlüsselindustrien und schließlich sämtlicher Produktionsmittel in vorgebliches Volkseigentum folgten. Der geschichtliche Telos war die klassenlose Gesellschaft, wo die Freiheit des einzelnen die Bedingung der Freiheit aller ist. Die kommunistische Partei sollte in dem Prozeß als Avantgarde, als Treuhänder des gesamten arbeitenden Volkes agieren.
In Wahrheit waren die Produktionsmittel das Eigentum des Staates, den eine Oligarchie aus Berufsrevolutionären sich zur Beute machte. Der jugoslawische Dissident Milovan Djilas sprach von einer „neuen Klasse“ im „Parteistaat“, die ihr „administratives Monopol“ nutze, um das Arbeitsprodukt an sich zu reißen und nach ihrem Gusto zu verteilen. Djilas stand in der Hierarchie der jugoslawischen Kommunisten an führender Stelle, ehe er für viele Jahre im Gefängnis einsaß. Die Linke ist schon immer gnadenlos mit den Häretikern aus ihren Reihen umgegangen.
Im Westen mußte die Linke nach dem Zweiten Weltkrieg enttäuscht feststellen, daß das Proletariat keine revolutionäre Kraft, sondern durch soziale Reformen und steigenden Wohlstand befriedet war. So verlegte sie sich in den 1960er Jahren auf den Marsch durch die Institutionen mit dem Ziel, mittels einer umfassenden Kulturrevolution den Überbau sowie den Menschen selbst umzugestalten. Das Fernziel, auf diesem Umweg auch die ökonomische Basis zu revolutionieren, verlor sie in dem Maß aus den Augen, wie sie die Annehmlichkeiten staatlicher Pfründe im akademischen, im Kultur-, Medien- und Politikbetrieb zu schätzen lernte.
Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 bedeutete insofern einen Schock, als letzte Illusionen über eine Alternative zum Kapitalismus zuschanden gingen. Die desaströse Hinterlassenschaft des real existierenden Sozialismus konnten selbst die verbohrtesten Linken in Ost und West nicht leugnen. Den verbalen revolutionären Gestus und die Rhetorik behielt die Linke bei, sie verlegte sich aber verstärkt auf die Dritte Welt. „Globale Verantwortung“ oder „Kein Mensch ist illegal“ wurden zu typischen Schlagworten und Losungen.
Der Witz daran ist, daß der Kapitalismus die moralisch aufgeladenen, neorevolutionären Halluzinationen vereinnahmt und verwertet hat. Als die Linke in den 1990er Jahren nach der multikulturellen Gesellschaft rief, antwortete der Textilkonzern Benetton mit der diversitären Werbekampagne: „Alle Farben der Welt“.
Denn auch die kapitalistische Ökonomie ist auf totale Entgrenzung angelegt. Ihr Telos ist der globale Einheitskonsument, der nackte, aus allen Traditionen und Bindungen herausgelöste Verbraucher. Deshalb stehen multinationale Konzerne und Großbanken heute an der Spitze der Bewegung für Diversity und Frauenquoten. Wo die Linke die Grenzöffnung als Akt globaler Gerechtigkeit bejubelt, freut sich das internationale Kapital über billige Arbeitskräfte, die als Lohndrücker nützlich sind, was zur Prekarisierung der einheimischen Bevölkerung führt.
Hier setzt Wagenknechts Kritik an. Im Grunde insistiert sie auf den Zusammenhang von National- und Sozialstaat. Für die meisten Linken aber geht es um die eigenen Aufstiegschancen im postnationalen Parteienstaat. Was in DDR-Betrieben der hauptamtliche Parteisekretär war, ist heute der/die Antidiskriminierungs-, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte.
Als 2015 in der Arbeiterschaft Unmut über den Zustrom von Armutsmigranten laut wurde, drohte der IG-Metall-Chef Jörg Hofmann: „Wer hetzt, der fliegt.“ So enteignet die Linke dem Normalbürger die Sprache und die Möglichkeit, seine sozialen Interessen zu formulieren. Hier tut sich eine große Repräsentationslücke auf. Wagenknecht hat das erkannt: „Insoweit ist die AfD die neue Arbeiterpartei.“
Diese Rolle anzunehmen verspricht mehr Erfolg als der Appell an ein
imaginiertes Bürgertum. Das Besitzbürgertum des 19. Jahrhunderts, das
sich auch als Citoyen versteht, gibt es kaum noch. Es handelt sich heute
vornehmlich um Staatsbeamte und -angestellte, die sich die Ausweitung
der Staatsfinanzierung wünschen. Und die vielzitierten Akademiker
tummeln sich häufig in Taugenichts-Fächern und sind keine geistigen
Menschen. Von Wagenknecht zu lernen, kann hingegen siegen helfen. Hinz
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