Stationen

Donnerstag, 8. April 2021

Hans-Jürgen Papier beobachtet die Moirokratie

 „Kernstück unserer Verfassungsordnung und der durch sie geschaffenen Werteordnung sind die Grund- und Menschenrechte. Als unmittelbar geltendes Recht garantieren sie Freiheitlichkeit. Zur Werteordnung des Grundgesetzes gehört auch die parlamentarische Demokratie. Diese Werteordnung unserer Verfassung war schon vor der Pandemie einer jedenfalls partiellen, schleichenden Erosion ausgesetzt, es waren Diskrepanzen zwischen Verfassung und politischer wie gesellschaftlicher Wirklichkeit zu verzeichnen. Aber seit einem Jahr müssen wir infolge der Pandemie Abweichungen von dieser Werteordnung feststellen, die sich niemand zuvor hat vorstellen können. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Geltung der Grund- und Menschenrechte, als auch im Hinblick auf die Strukturen der parlamentarischen Demokratie.“  Hans-Jürgen Papier
Die Runde der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten, also die Pandemie-Überregierung kommentiert der Jurist: „Es handelt sich um ein Gremium, das in der Verfassung nicht vorgesehen ist und über keinerlei Kompetenzen verfügt.“

In Merkels notorischem Gerede von „neuen Freiheiten“, die sie den Bürgern vielleicht unter bestimmten Bedingungen zurückgeben könnte, meinte der frühere Verfassungsrichter, „kommt die irrige Vorstellung zum Ausdruck, dass Freiheiten den Menschen gewissermaßen vom Staat gewährt werden, wenn und solange es mit den Zielen der Politik vereinbar ist. Nein, es ist umgekehrt.“ Vor allem brachte Papier in dem Interview das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten in das vom Grundgesetz vorgesehene Gleichgewicht: „In der Bewusstseinslage der politischen Akteure und Teilen der Bevölkerung scheint gelegentlich in Vergessenheit zu geraten, dass die Menschen dieses Landes freie Bürger sind. Sie verfügen über unveräußerliche und unentziehbare Freiheitsrechte, sie sind keine Untertanen.“

Aus diesen Sätzen, bedächtig, wie gesagt, aber deutlich, ließe sich eine Bundespräsidentenrede zusammenstellen. Ihre Feststellungen hätten zwingend in einer von Steinmeiers Reden auftauchen müssen, denn sie entsprechen exakt der Rolle eines überparteilichen Amtsträgers, der sich rühren muss, wenn Regierungspolitiker ihre Rolle und ihre Grenzen vergessen, die ihnen das Grundgesetz zieht. Bekanntlich spricht Steinmeier diese Sätze nicht. Er schweigt aber auch nicht, was sicherlich die zweitschlechteste Möglichkeit gewesen wäre, sondern äußert sich zu dem gleichen Themenbereich wie Papier, zum Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Dabei gibt sich das Staatsoberhaupt eine geradezu titanische Mühe, diese Beziehung zu verkleistern und zu verkitschen.   Wendt

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