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Freitag, 9. April 2021

Heute ertragen wir ausnahmsweise mal den Augenstein

Diese Frau ist wirklich gut. Und auf Frauen hört man ja jetzt. Gegen männliche Dummheit gibt es kein besseres Antidot als weibliche Dummheit.

Ein Buch zur Geschichte der Demokratie in Deutschland ist nicht gerade etwas, das eine aufregende Sache zu sein verspricht.

Das Feld ist ideologisch so deutlich abgesteckt, daß es schwerfällt, ausgerechnet aus der Geschichtswissenschaft Innovatives zu erwarten; selbst dann nicht, wenn der Untertitel von einer „deutschen Affäre“ spricht, was immerhin nach einer leidenschaftlichen Angelegenheit klingt. Insofern ist die Aufregung erklärungsbedürftig, die es um das Buch von Hedwig Richter (München: C.H. Beck 2020, 400 Seiten, 26 Euro) vor allem in der Geschichtswissenschaft gegeben hat (und noch gibt).

Hedwig Richter, geb. 1973, ist seit Januar 2020 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bundeswehr-Universität in München. Für ihre Dissertation über den Pietismus in der DDR (2008) wurde sie ebenso wie für ihre Habilitation, eine vergleichende Studie über die Wahlen in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert (2016), ausgezeichnet.

Letztere wurde ähnlich kontrovers besprochen wie ihr aktuelles Buch über die Demokratie, das im August 2020 im Verlag C.H. Beck erschien. Die Aufnahme in den Feuilletons war zwiespältig. In der Süddeutschen gab es einen Verriß von Franziska Augstein, in der FAZ ein Lob von Stephan Speicher, die Taz, der Spiegel und der Deutschlandfunk urteilten kritisch in verschiedenen Abstufungen. Als das Buch in der dritten Auflage vorlag, was für solch ein Thema sehr beachtlich ist, griffen zwei Kollegen von Richter zur Feder und ließen kein gutes Haar an dem Buch.

Christian Jansen, Professor in Trier, gibt auf der Rezensionsplattform H-Soz-Kult (Februar 2021) den enttäuschten Leser, der einen Bestseller zu dem Thema aus volkspädagogischen Gründen gerne sieht, aber einen anderen erwartet hat. Er bemängelt sowohl Formalia (fehlerhafte Belege), Schludrigkeiten in der Argumentation (unscharfe Begriffe, fehlerhafte Kontextualisierungen, banale Formulierungen, Nichtbeachtung des Forschungsstandes zu einzelnen Aspekten) als auch einige Wertungen Richters, die seiner Meinung nach die preußischen Reformen nach 1806 zu positiv sieht (und zu oft Nipperdey zitiert).

Positiv beurteilt er lediglich Richters Integration der „Körpergeschichte“ in die Demokratiegeschichte: „Für Richter ist die entscheidende Voraussetzung für (moderne) Demokratie und die Idee der Gleichheit, dass die Menschen den Körpern ihrer Mitmenschen Respekt zollten und ‚Folter und Prügelstrafen nicht mehr als Unterhaltungsspektakel, sondern als widerlich, schließlich sogar als Skandal‘ empfanden.“ Das hält Jansen für eine originelle These, wohingegen er die anderen Thesen Richters als „konsensfähig“ beurteilt.

Der zweite Kollege, der auf der Plattform sehepunkte zur Feder griff, Andreas Wirsching, ist Professor in München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, womit sein Wort in diesen Fragen einiges Gewicht hat. Auch er hat Formalia und Begriffsunklarheiten zu bemängeln, geht Richters Buch aber eher ideologisch an, so daß man der Meinung sein könnte, man habe es bei dem Werk mit einer revisionistischen Schrift zu tun.

Bei Richter, so Wirsching, stünden am Ende „auch die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und mit ihnen der Nationalsozialismus in einem strukturellen Zusammenhang mit der Demokratie“. Richters Satz: „Der Nationalsozialismus entstand aus einer Demokratie und aus weit über hundert Jahre alten demokratischen Traditionen“, sei „unsäglich“.

Richter spiele mit ihrer „linearen Parlamentarisierungsthese“, die längst überholt sei, „jenen neo-nationalistischen Kräften in die Hände, die die deutsche Geschichte gerne im Sinne einer gerade im internationalen Vergleich harmlos-demokratischen Linearität umschreiben würden“.

Nach diesen Frontalangriffen aus dem Kollegenkreis ergriff Patrick Bahners in der FAZ das Wort, um auf einige Merkwürdigkeiten hinzuweisen. Denn sosehr sich die Kritiker auch in der Aufzählung von verletzten Wissenschaftsstandards ergingen, am Ende bestehe der eigentliche Skandal für die beiden darin, daß Richters Buch so erfolgreich sei, es sich nicht nur gut verkaufe, sondern auch im (ahnungslosen) Feuilleton unkritisch betrachtet worden sei.

Es fällt Bahners leicht, letzteres zu entkräften (siehe oben):

Das Bild einer Einheitsfront ahnungsloser journalistischer Rezensenten, welche die Fachkritiker gezwungen habe, das ganz scharfe Messer auszupacken, ist eine Legende – eine umgekehrte Dolchstoßlegende, die der Entschuldigung der Messerstecher dient.

Bahners kommt zu dem Schluß, daß die freudlosen Kollegen neben dem Neid auf den Erfolg auch „das Spielerische, die gewagte Kombination von Thesenbildung und Enthusiasmus“, störe.

In der Welt kommt Marc Reichwein zu einem ähnlichen Resümee der Debatte, ordnet diese aber in einen größeren Zusammenhang ein, wenn er spekuliert, ob die Präsenz in Social-Media-Kanälen wie Twitter, in dem Richter über 18.000 Follower verfügt, für die Reputation mittlerweile wichtiger sei als wissenschaftliche Korrektheit:

Dass der sonst so sophistisch an Begrifflichkeiten interessierte Bahners den von Wirsching an Richters Bücher herangetragenen Vorwurf der begrifflichen Unschärfe nonchalant überging, spricht Bände. Twitter fördert und fordert Solidarität unter Gleichgesinnten, Rudelbildung ist dort im Zweifel wichtiger als eine Debatte zur Sache.

Andererseits konstatiert Reichwein in der deutschen Geschichtswissenschaft eine Intoleranz gegenüber „externen Perspektiven“, wofür er die Reaktionen auf Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker und Clarks Schlafwandler als Beleg anführt.

 

Mit diesem vorausgeschickten Gepäck ausgestattet, geht es nun um den eigentlichen Gegenstand der Debatte. Man könnte zunächst davon ausgehen, daß Richters Buch genau das richtige für unsere rechtsintellektuelle Klientel ist (insbesondere wenn man auf Wirsching und Bahners hört).

Doch so einfach ist es nicht. Die Vorwürfe ihrer Kollegen sind zumindest in formaler und sprachlicher Hinsicht nicht unberechtigt, da sich in dem Buch tatsächlich – über die in den Rezensionen genannten hinaus – zahlreiche Stilblüten und Nonsensformulierungen als auch schlampige Nachweise (mit wechselnden Kurztiteln und fehlenden Seitenzahlen) und falsche Kontextualisierungen finden.

Weiterhin ist auch richtig, daß die Autorin mit ihren zentralen Begriffen „Demokratie“ und „Gleichheit“ auf Kriegsfuß steht und mit deren Gebrauch mehr Verwirrung als Aufklärung stiften dürfte.

Da sie sich ausdrücklich nicht für Begriffsgeschichte „interessiert“, fällt es ihr leicht, unter Gleichheit nicht die Gleichheit vor dem Gesetz oder die Gleichwertigkeit der Stimmen, sondern materielle Gleichheit zu verstehen und die Erfahrung der sozialen Ungleichheit als den demokratiebegründenden Skandal des 18. Jahrhunderts herauszustellen.

Allerdings wird auch hier bereits deutlich, daß Richter sich kaum um die Stringenz ihrer Argumentation sorgt, wenn sie 100 Seiten später zu der Feststellung gelangt, daß Demokratisierung und wachsende Ungleichheit im 19. Jahrhundert „Hand in Hand“ gehen (was sie ohne Angabe einer Seitenzahl mit Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert belegt, immerhin ein Buch von fast 700 Seiten).

Richter will mit vier Thesen das „normative Projekt der Demokratie“ erläutern. Die Thesen sind eigentlich keine, da sie als Gemeingut gelten können: Demokratiegeschichte ist „häufig Projekt von Eliten“ (weil sich nur die Gebildeten damit beschäftigen konnten), „immer auch die Geschichte ihrer Einschränkung“ (was bedeutet, daß es keine absolute Herrschaft der Mehrheit geben sollte) und „eine Geschichte des nordatlantischen Raumes“ (weil hier die moderne Demokratie entstand).

Lediglich die These, daß Demokratiegeschichte „eine politische Geschichte des Körpers“ sei, sticht aus diesen Selbstverständlichkeiten hervor. Demokratie bringt sich demnach „durch Körper und an Körpern zum Ausdruck“, was eventuell soviel bedeutet, daß Richter den wachsenden Respekt vor dem Körper des anderen mit dem Prozeß der Demokratisierung parallelisiert (was schon mit Blick auf die jüngere Geschichte unseres westlichen Nachbarn äußerst fragwürdig ist; und um die Folter abzuschaffen, brauchte es in Preußen keine Demokratie).

Die Thesen entfaltet Richter in einem „chronologischen Erzählplot“, der in fünf Kapitel gegliedert ist. Dieser reicht von den Gleichheitsideen der Aufklärer über die Skandalisierung der Armut und die Idee der Nation im 19. Jahrhundert, die Massenpolitisierung im Industriezeitalter, das „Zeitalter der Extreme“ bis zur Gegenwart und dem endgültigen Siegeszug der Demokratie.

Immer wieder eingestreut wird von Richter die Rolle der Frau bzw. ihre parallel zur Demokratisierung verlaufende Emanzipation behandelt. Dieser Blickwinkel wurde von den Rezensenten durchgehend hervorgehoben, weil über die Normativität dieser Entwicklung heute keine zwei Meinungen erlaubt sind. Daher ist Richter auch nicht zimperlich, wenn es darum geht, die vordemokratische Zeit in möglichst dunklen Farben zu malen.

Überall herrschten Hunger und große Not (einige Seiten später heißt es dann, daß Hungersnöte und Teuerungen seit dem 18. Jahrhundert „insgesamt“ abnahmen), und der „Alltag der allermeisten Frauen“ sei noch im ausgehenden 18. Jahrhundert „beherrscht von Gewalt und von ihrem tief verwurzelten Status als Minderwertige“ gewesen. Daß Richter für diese Aussage keinen Beleg nennt, fällt angesichts der moralischen Geschütze nicht ins Gewicht. Allerdings erregten weder das Anlegen gegenwärtiger Maßstäbe an andere Zeitalter noch die Konzentration auf Frauen- und Körpergeschichte Anstoß bei den Rezensenten.

Dafür sorgte eher die burschikose Art, mit der Richter die Frage des deutschen Sonderwegs behandelt, der bekanntlich darin besteht, daß uns der Westen zweimal die Demokratie bringen mußte, weil wir nicht in der Lage waren, diese allein zu begründen. Gegen diese Auffassung betont Richter die demokratischen Traditionen, die sich in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern herausbildeten. So wertet sie die 1823 eingerichteten preußischen Provinziallandtage „als potente Zwischenstufe in der parlamentarischen Entwicklung“.

Allerdings sieht sie ausgerechnet in der Ablehnung der Kaiserkrone 1849 durch Friedrich Wilhelm IV. einen Schlag, von dem sich das „parlamentarische Projekt“ nicht mehr erholen konnte, und verschweigt dabei, daß es eine Mehrheit von ganzen vier Stimmen war, die für das Erbkaisertum votiert hatte (da würde mancher Politiker den Parteivorsitz ablehnen). Doch immerhin schneidet Deutschland zur Jahrhundertmitte im demokratischen Vergleich nicht schlecht ab, wenn hier ca. 20 Prozent der Männer wahlberechtigt waren (in Frankreich 25, in England sechs Prozent).

Das Zensuswahlrecht bezeichnet sie bei Einführung als progressiv, was durchaus der Realität entsprach, da es keine Rücksicht auf den Stand nahm, sondern sich nur auf die Steuerleistung bezog. Daß Wahlrecht und Demokratie nicht das gleiche sind, wird von ihr zwar nicht thematisiert, ist für die Frage des Sonderwegs offensichtlich aber auch nicht wichtig.

Ähnlich sympathisch beurteilt sie den Wilhelminismus: „Das Kaiserreich der Jahrhundertwende war ein anderes als zur Zeit seiner Gründung. Hier lebte eine gemessen an den Maßstäben der Zeit freie Zivilgesellschaft, in der mehr oder weniger alle tun und lesen und lassen konnten, was sie wollten.“ Es gab keinen „kolonialen Sonderweg“ des Deutschen Reiches, der Weg zum Krieg 1914 war ein vom „Volk getragener“.

Daß diese Sätze keine Aussagekraft für das ganze Buch haben, wird bei so offensichtlichen Lügen wie jener deutlich, daß deutsche Soldaten in Belgien 1914 gleich zum Auftakt Tausende Zivilisten inklusive Kindern ermordet hätten. Aber Richter ist gleichsam nicht nachtragend, wenn sie in der alliierten Beglückungspropaganda eher ein Hemmnis für die Weiterentwicklung der Demokratie in Deutschland erblickt:

Die Erhöhung der Demokratie zur moralischen Grundlage des alliierten Kampfes lässt sich in der Rückschau als eine einschneidende Zäsur auch in der deutschen Geschichte erkennen.

Deutschland wurde auf antidemokratisch festgelegt. Allerdings kommt dann wieder ein Satz, der so gar nicht zum vorhergehenden passen will:

Nicht die Bedingungen des Versailler Friedensvertrags, sondern die Nationalsozialisten und die willigen Deutschen zerstörten schließlich die Weimarer Republik.

Diese Hin und Her zwischen vernünftigen Aussagen und angelerntem Glaubensbekenntnis geht beim Nationalsozialismus weiter, wenn sie diesen durchaus zutreffend als ein Produkt der Demokratie charakterisiert. Sie geht sogar noch weiter, indem sie betont, daß die vier Reichstagswahlen und fünf Volksabstimmungen, die nach der Machtergreifung durchgeführt wurden, geheim, gleich und allgemein (auch KZ-Häftlinge durften wählen) stattfanden – und wohl ohne große Wahlfälschungen über die Bühne gingen, weil es einfach keine Notwendigkeit dazu gab.

Der Spalt zwischen Führung und Volk tat sich erst auf, als letzteres den Antisemitismus nur passiv mitmachte, obwohl Apartheidgesetze international „keine Ausnahme“ bildeten. Den durchschlagenden Erfolg der alliierten Reeducation führt Richter dann auch darauf zurück, daß Deutschland eine lange Übung in demokratischen Verfahren hatte und über eine partizipative Tradition verfügte, die sich nach 1945 wieder im Rahmen einer (halben) Nation entfalten konnte. Auch das immer wieder aufkeimende Mißtrauen gegenüber Parlamenten und Parteien sei kein deutscher Sonderweg, sondern in allen Ländern zu beobachten.

Viele der zitierten Sätze erwecken den Eindruck, daß es sich um ein vernünftiges Buch handelt, das ganz zu Recht von den Kollegen angegriffen wird, weil es liebgewonnenen Phrasen über unsere Geschichte widerspricht. Allerdings sollte auch deutlich geworden sein, daß diese Sätze wie vereinzelt in einem Assoziationsgewitter stehen, das nicht in der Lage ist, die Legenden vom deutschen Sonderweg zu zerstören (mit der reinen Behauptung, Deutschland habe immer zum Westen gehört, ist nichts gewonnen, weil sie falsch ist).

Daran hat Richter offensichtlich auch gar kein Interesse bzw. sie weiß ganz genau, wie sie ihre Sätze einpacken muß, damit sie nicht zu anstößig klingen. Eingebettet sind diese nämlich in eine grundsätzliche Huldigung an die Emanzipation (insbesondere natürlich der Frauen) und den Wohlstand, die darauf hinausläuft, das zu zerstören, was Deutschland groß gemacht hat: die Nation.

Daher kann Richter auch ganz unschuldig-naiv fragen:

(…) warum sollte eine solidarische Gesellschaft nicht eines Tages über Europa hinaus möglich sein?

Denn:

Europa ist das schönste Kind der neuen Zeit.

Wem das zu kitschig ist, der wird an den letzten Sätzen des Buches seine helle Freude haben:

Demokratie hat eine wunderbare und wunderliche Geschichte. Sie ist eine Affäre voller Krisen, aber auch voller Glück und Neuanfang, gerade für die Deutschen. Die Affäre geht weiter. Die Zukunft ist offen, und vermutlich ist sie hell.

Und morgen ist ein neuer Tag.

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Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affärehier bestellen. 

Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreichhier bestellen. 

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Hedwig Richter – eine deutsche Affäre? Darüber diskutierten wir in der 17. Folge des Schnellroda-Podcasts »Am Rande der Gesellschaft«.

 

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