Unmittelbar nachdem die Europäische Kommission die Absicht bekundet hatte, im Wege eines „Wiederaufbaufonds“ nach Ausbruch der Corona-Pandemie Süd- und Ostmitteleuropa mit großzügigen Transfers zu beglücken und zu diesem Zwecke eine Gemeinschaftsanleihe von 750 Milliarden Euro zu begeben, hatte der stellvertretende Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Europäischen Parlament, der Niederländer Derk Jan Eppink, dem zuständigen Kommissar für Haushaltsangelegenheiten, Johannes Hahn aus Österreich, ein höfliches Schreiben gesandt. Hierin bat er um Erläuterung, auf welcher Rechtsgrundlage die bekundete Absicht der Europäischen Kommission beruhe, im Wege eines sogenannten „Next Generation EU-Wiederaufbauplans“ in noch nie dagewesenem Umfang EU-Anleihen zu emittieren, für die alle Mitgliedstaaten der Union haften würden.
EU-Haushaltskommissar Hahn nahm sich für die Beantwortung des nicht unberechtigten Anliegens ungebührlich viel Zeit. Berechtigt ist dieses Anliegen schon deshalb, weil Art. 5 EVU klarstellt: Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Das heißt, die Europäische Kommission und mit ihr die Europäische Union haben selbst in Krisen nicht die Befugnis, sich aus eigener Machtvollkommenheit neue Kompetenzen zu verschaffen. Dies gilt insbesondere im Bereich des Haushaltsgebarens durch das strikte Prinzip der Eigenmittelfinanzierung. Die Mitgliedstaaten bestimmen über die der Europäischen Union zur Verfügung gestellten Mittel, die neben den Eigenmitteln die obere Grenze des finanziellen Handlungsrahmens der Union darstellen. Dies war bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie nicht nur politischer consensus omnium, sondern auch ganz herrschende Meinung in der einschlägigen juristischen Literatur. Art. 311 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) mit dem Hinweis darauf, dass die Europäische Union sich mit den zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Mitteln auszustatten befugt sei, ist keine Ermächtigung, sich im Wege von Anleihen auf den Kapitalmärkten Einnahmen zu verschaffen.
Mit seiner späten Antwort am 7. September 2020 versuchte Haushaltskommissar Hahn, der eine aufschlussreiche akademische Vita hat (1), die Bedenken des Abgeordneten Eppink zu zerstreuen. (2) Wider die ganz herrschende Meinung zur Interpretation der besagten Vorschrift des Art. 311 AEUV sei der Europäischen Union die Aufnahme von Fremdmitteln erlaubt. Im Übrigen sei dies schon häufig geschehen. Alles Weitere möge der Abgeordnete aus dem anliegenden Merkblatt über Fragen und Antworten zur geplanten Wiederaufbauanleihe entnehmen.
Inhaltslosigkeit der Beantwortung einer Parlamentsanfrage
Wo früher der Juristische Dienst der EU-Kommission wie ein Gralshüter der Verträge – vergleichbar mit der Glaubenskongregation des Vatikans – den Charakter der EU als Rechtsgemeinschaft wie seinen Augapfel hütete und eigenmächtige Kommissare auf die Grenzen der Verträge hinwies, wird heute Recht ganz ungeniert gebrochen und dieser Rechtsbruch durch den Juristischen Dienst legitimiert.
Dies ist der qualitative Quantensprung in der Entwicklung der Europäischen Union. Was einst im Einvernehmen von sechs Nationen als Rechtsgemeinschaft begonnen wurde, weil Recht Grenzen setzt und die Nationen weiterhin Herren der Verträge bleiben wollten, hat sich aufgrund der Eigendynamik der Brüsseler Kommissar-Diktatur zu einem Herrschaftssystem ohne Grenzen und ohne jedwede Gewaltenteilung entwickelt. In Brüssel komplottiert die Kommission und das Brüssel-Europa – also auch das unrepräsentative Parlament – gegen die demokratisch legitimierten Vertreter der Nationalstaaten. Erstaunlich ist indessen, dass nicht nur die „Brüssel-Deutschen“, wie es der Deutschland-Experte Edouard Husson einmal weise formulierte, sondern auch bundesdeutsche Politiker wie Olaf Scholz den Selbstermächtigungen der Europäischen Kommission jubelnd zustimmen, um sie als den Anfang einer grandiosen politischen Entwicklung zu loben.
Nachdem die Bundeskanzlerin jahrelang Eurobonds wegen der damit verbundenen Gemeinschaftshaftung abgelehnt hatte, erklärte sie sich „auf Vorschlag“ des französischen Staatspräsidenten dazu bereit, für den Wiederaufbaufonds eine Gemeinschaftshaftung zu akzeptieren. Gemeinschaftshaftung bedeutet, dass für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungsverweigerung von Ländern wie Zypern, Griechenland oder Italien die verbleibenden Länder – wie die Niederlande und Deutschland – gesamtschuldnerisch einspringen müssen.
Machthunger der Brüsseler Zentralgewalt
Wer die Fragilität der öffentlichen Finanzen von Zypern, Griechenland oder Italien – ganz zu schweigen von Frankreich – kennt, der weiß, mit welcher Leichtigkeit diese Länder gesamtschuldnerische Verpflichtungen wie die Wiederaufbauanleihe zu unterschreiben bereit sind. Nichts Geringeres gilt für Länder wie Polen, das nach wie vor der politischen Ansicht verhaftet ist, gegenüber Deutschland eine Riesen-Rechnung in Form von Reparationsansprüchen offen zu haben. Sie alle eint die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, die Rückzahlung dieser Riesen-Summen für den Zeitraum von 30 Jahren sicherzustellen, und gleichzeitig die tiefe Überzeugung, dass Deutschland, die Niederlande und die skandinavischen Länder sowie Österreich politisch und moralisch verpflichtet seien, ihr Obligo in Gestalt von Gemeinschaftshaftung zu erfüllen.
Dass die Vertreter des Brüsseler Kommissar-Regimes ihre Stunde nutzen wollten, um Deutschland, die Niederlande und die anderen „geizigen Länder“ (Dänemark, Finnland, Schweden) zu einer Gemeinschaftshaftung zu nötigen, zu der sie unter normalen Umständen nie bereit gewesen wären, belegt den Machthunger der Brüsseler Zentralgewalt. Dass die Kommission mit dem Lockmittel von Riesen-Transfers für die ostmitteleuropäischen Länder wie Ungarn und Polen dieselben bestochen hat, steht genauso wenig infrage. (3)
Wundersam ist indessen die Zustimmung zu dieser Politik in Deutschland. Von einzelnen kritischen Stimmen abgesehen, (4) hört man beim Finanzminister lediglich ein Jubeln über den Einstieg in die Gemeinschaftsschulden, so als ob Olaf Scholz eigentlich nicht deutscher Finanzminister wäre. Bei der mitregierenden CDU/CSU wird darauf hingewiesen, dass es sich um eine Einmal-Anleihe handele, obschon jedermann weiß und die EZB-Präsidentin dies sogar proklamiert, dass es sich um eine Roll-over-Finanzierung handelt, die auf ewig dem EU-Binnenmarkt einen fiskalischen Impuls geben solle.
Bundestag wird zum Mainzelmännchen-Club
Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Deutschen Bundestag zu. Er ist bei dieser Fragestellung in seinen Kernverantwortlichkeiten gefordert. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die gesamtstaatliche Haushaltsverantwortung als unveräußerliches Recht und Pflicht beim Bundestag liege. Doch die Gleichschaltung durch Regierungsparteien und die Europagläubigkeit von Oppositionsparteien wie Linke, FDP und Grüne dürften dafür sorgen, dass der Bundestag – wie auch bei anderen europäischen Fragestellungen – zum Mainzelmännchen-Club wird.
Daher ist es an der Zeit, die zerstörerische Kraft der „Wiederaufbauinitiative“ der Europäischen Kommission näher zu beschreiben. Für Deutschland geht es um eine Weichenstellung. Will man in Europa aufgehen und sich in einen Bundesstaat integrieren, in dem Deutschland als Ganzes bestenfalls noch eine Provinz mit hohen Finanzbeiträgen zugunsten der Brüsseler Entscheidungsträger sein wird? Soll sich Deutschland ferner dem französischen Diktat beugen, wonach nur eine solche dienende Rolle Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werde? Oder gibt es genug demokratische Observanz in deutschen Landen, um diesem einmaligen Abbau der Fiskaldemokratie entgegenzutreten?
Bislang sieht alles danach aus, dass, wenn nicht die Deutschen, so doch ihre politischen Parteien Deutschland auf dem europäischen Opfertisch preisgeben. Dies ist ein untrügliches Symptom von Dekadenz. Fraglich ist, ob die Deutschen auf Dauer akzeptieren werden, dass ihr Land, ihre Demokratie, ihre Selbstbestimmung und ihre Selbstachtung zum Opfer eines Brüsseler Komplotts werden.
Dies ist ein Auszug aus dem Buch „Der deutsche Selbstmord. Wie unser Land in der Corona-Krise für Europa geopfert wird“ von Markus C. Kerber, 2021, München: FinanzBuch Verlag. Hier bestellbar.
Anmerkungen
(1) Nachdem ein Salzburger Medienwissenschaftler die philosophische Doktorarbeit von Hahn als Plagiat bezeichnet hatte, führte die Universität Wien 2011 eine erneute Prüfung derselben durch. Hieraus ergab sich, dass das 254-seitige Werk 76 Plagiatsfragmente auf 64 Seiten enthielt.
(2) vgl. E.N.A.-Jahrgang 1984 (Promotion Louise Michel), Autor des Buches Didier Modi (Pseudonym), Der europäische Albtraum. Ein Projekt wird seziert, Berlin 2017.
(3) Die Polen in Aussicht gestellten Transferleistungen in Höhe von 160 Milliarden Euro repräsentieren ungefähr das Zwanzigfache seines Verteidigungshaushaltes. Nicht ohne Grund hat Premierminister Morawiecki davon gesprochen, dass aufgrund des Wiederaufbaufonds Polen goldene Zeiten bevorstehen.
(4) Vgl. Sven Simon, Das Rettungspaket der EU stößt an rechtliche Grenzen – Die Rechtsgrundlage der EU-Kommission wirft Fragen auf. Im Zweifel hilft eine Vertragsänderung, FAZ vom 10.6.2020.
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