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Mittwoch, 26. Januar 2022

Appeasement oder Abschreckung

Es ist teurer, Putin zu beschwichtigen, als ihn abzuschrecken.
Ohne Sicherheit gibt es weder Freiheit noch Frieden und Wohlstand. Ohne die Nato droht Osteuropa der Rückfall in das postkommunistische Chaos.
Der Westen hat zwei Möglichkeiten auf den russischen Truppenaufmarsch an den ukrainischen Grenzen zu reagieren. Entweder kommt er Moskau so weit entgegen, dass Putin auf die Anwendung von Gewalt verzichtet (Appeasement), oder er zwingt ihn, das Recht der Ukraine auf Souveränität zu respektieren (Abschreckung). 
 
Keine der beiden Optionen ist gratis zu haben. In der EU und in den USA überwiegt die Meinung, dass Abschreckung höhere Kosten verursachen würde als Beschwichtigung. Aber stimmt das auch?
 
Auf Appeasement setzt vor allem die EU. Deutschland und Österreich sind besonders erpressbar, weil sie trotz aller Warnungen nichts unternommen haben, um ihre Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten drastisch zu verringern. Stattdessen hegen sie die Illusion einer Welt ohne Atom- und Kohlekraftwerke und vertrauen darauf, dass Onkel Wladimir schon die fossilen Brennstoffe liefern werde, die zur Stabilisierung des Stromnetzes gebraucht werden.
Auf Appeasement setzen die globalen Unternehmen, die von Russland profitieren. Frei nach Lenin würden die Kapitalisten den Russen auch „noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie hängen werden“.
Auf Appeasement setzt auch Washington. Die USA konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf China und meinen, Europa vernachlässigen zu können, obwohl sie wissen, dass die EU in Sachen Verteidigung und Sicherheit bisher kaum mehr als heiße Luft produziert hat. 
 
Die Kosten der Beschwichtigungspolitik tragen vor allem die Länder, die Russland in seine Einfluss-Sphäre zwingen möchte: Ukraine, Georgien und Moldau, dann die östlichen Nato-Länder – die baltischen Republiken sowie Bulgarien und Rumänien, denen Putin die Stationierung von Nato-Truppen verbieten will. Wer diesen Ländern die Sicherheit nimmt, die ihnen die Nato-Mitgliedschaft garantiert (oder wenigstens zu garantieren scheint), stößt sie zurück in das postkommunistische Chaos. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, ohne Freiheit weder Frieden noch Wohlstand. Zur Freiheit gehört, sich für oder gegen die Mitgliedschaft in einem Bündnis entscheiden zu können. Anfang der 1990er Jahre ging es den Ukrainern besser als den Rumänen. Wer sieht, wie es den beiden Nationen heute geht, versteht, warum die Nato-Mitgliedschaft wichtig ist.
 
Appeasement heißt, den russischen Neo-Imperialismus zu akzeptieren, der das Fundament der Friedensordnung zerstört, die aus dem Untergang der Sowjetunion hervorging. Putin will die russische Hegemonie über die ehemals sowjetischen Republiken und die ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR zurückgewinnen. Wenn ihm das gelingen sollte, werden die daraus erwachsenden Kosten für den Westen auf Dauer weit höher sein als jetzt die einer glaubwürdigen Abschreckung.
Im Vertrauen auf Zusagen Russlands, Großbritanniens und der USA, ihre Souveränität und territoriale Integrität zu respektieren, verzichtete die Ukraine im Budapester Memorandum 1994 auf Nuklearwaffen und damit auf wirksame Abschreckung. Im April 2008 lehnten Angela Merkel und Nicolas Sarkozy auf dem Nato-Gipfel in Bukarest den Vorschlag des amerikanischen Präsidenten George W. Bush ab, Georgien und die Ukraine zum Nato-Beitritt einzuladen. Den beiden Ländern wurde nur der Zugang zum Membership Action Plan (MAP) gewährt, der von ihnen Reformen sowie die Bereitschaft forderte, territoriale oder ethnische Konflikte zu lösen. Die Geschichte hätte wahrscheinlich einen anderen Lauf genommen, wenn sich die Nato damals für ihre rasche Aufnahme in die Nato entschieden hätte.
Vier Monate nach dem Bukarester Gipfel, im August 2008, fielen russische Truppen in Georgien ein. 2014 annektierte Putin die Krim und intervenierte in der Ostukraine. Der Westen setzte auf Appeasement, was Putin als eine Schwäche interpretierte, die ihn zu weiteren Aggressionen ermunterte. Wird die Nato jetzt endlich Stärke zeigen?    Karl-Peter Schwarz


Jemand kommentierte: "Appeasement oder Abschreckung? Etwas Drittes gibt es nicht? Interessenvertretung, Diplomatie, Kooperation...? Es ist doch dieses Denken in radikalen Gegensätzen, daß wir eigentlich überwunden haben sollten, und das uns jetzt in Teufels Küche zu bringen droht."

Interessenvertretung, Diplomatie, Kooperation sind aber kein Drittes, sondern das, was durch ein austariertes Gleichgewicht zwischen Appeasement und Abschreckung ermöglicht wird. Genau das macht Putin gerade. Er schafft so viel Abschreckung wie ihm nötig zu sein scheint, um so viel Appeasement gegenüber dem Westen zu gewähren, wie er für möglich erachtet: das ist der Rahmen innerhalb dessen er seine Interessen vertritt und vertreten wird.

 

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